Strawinsky: The Rake's Progress

  • Nachdem ich mich mit meinem entsprechenden Beitrag für den Opernführer leider bereits reichlich in Verzug befinde :O, aber dessen Erscheinen in naher Zukunft erhoffe, möchte ich vorab zu dieser Oper von Strawinsky einige Anmerkungen machen (damit ich dann später im Beitrag des Opernführers auf diesen thread verweisen kann ;)).


    Zu "The rakes progress" (IdR etwas kurios übersetzt mit:"Der Wüstling") wurde Strawinsky anläßlich eines Besuchs in Chicago im März 1947 angeregt durch eine satirisch gesellschaftskritische Kupferstich-Serie gleichen Namens von William Hogarth (1697 - 1764). Das Libretto wurde nach dieser Vorlage vom dem englischen Schriftsteller W. H. Auden und dem amerikanischen Lyriker Ch. Kallman geschaffen. Allerdings ist die in der Oper entscheidend wichtige Figur des Teufels frei erfunden hinzugefügt.


    Die Uraufführung des Werkes erfolgte am 18. September 1951 in Venedig.


    "The rakes progress" ist in der Form einer Nummernoper geschrieben. Die Musik gliedert sich in Arien, Duette, Terzette, Chöre und Ensemble-Finale. Die einzelnen Nummern sind durch Rezitative verbunden, die teilweise vom Cembalo begleitet sind.
    In gewisser Weise ist das neoklassizistische Werk als tonale Nummernoper bezogen auf seine Entstehungszeit ein Anachronismus: Viele der " Nummern " erinnern an die Musik der " klassischen " Komponisten des Belcanto wie Rossini, Donizetti, Bellini.
    Anachronistisch auch das Ende, bei dem die Protagonisten vor den Vorhang treten und dem Publikum die Moral der Geschichte verkünden.
    Es ist umstritten, ob das Werk ein Wechsel aus Überzeugung zurück zu Melodie und "Wohlklang" einer vergangenen Epoche ist, oder ob Strawinsky mit deren Formen ironisch spielt. Für letzteres spricht sicher der Inhalt der Oper, der im Aspekt seiner konservativ moralisiernden Verurteilung von "Müssiggang" und "Laster" IMO auch zur Enstehungszeit des Werks kaum ganz ernst gemeint sein kann.
    Jedenfalls dürfte das Stück aber auch für Musikfreunde mit konservativem Geschmack problemlos anhörbar und "zugänglich" sein


    Die Rezeption war zwiespältig: Bereits die Premiere, an der u.a. Elisabeth Schwarzkopf mitwirkte, war kein eindeutiger Erfolg. Die Oper ist auch heute im Spielplan eher selten anzutreffen. Es sind einige Einspielungen verfügbar, u.a. auch unter Leitung des Komponisten.
    Ich besitze (nur) die folgende Aufnahme:

    Bryn Terfel gefällt mir als mephistophelischer Verführer mit opulenter Stimme ganz besonders.

    res severa verum gaudium


    Herzliche Grüße aus Sachsen
    Misha

  • Zitat

    Original von Misha
    Ich besitze (nur) die folgende Aufnahme:


    Das booklet dieser CD ist auch lobenswert: Ansprechendes Design, viele Bilder und sogar die Kupferstiche werden abgedruckt.


    Habe die CD seit mehreren Jahren und jetzt mal wieder die Anregung, mich ausführlicher damit auseinanderzusetzen. Danke!

  • Zitat

    das Libretto eine der geistvollsten Geschichten der Gattung Oper.


    Ohne "The Rake's Progress" irgendwem abspenstig machen zu wollen, du hast schon recht, Johannes, jeder muss sich da ein eigenes Urteil bilden. Trotzdem: Ich finde gerade das Libretto ist die besondere Schwaeche dieser Oper. Ich bin - wuerde ich sagen - hochsensibel bezueglich Opernlibrettos und gleichwohl nachsichtig. Doch das Libretto von "The Rake's Progress" ist wohl eines der schlechtesten, wenn nicht das schlechteste Libretto, das ich kenne. Es ist halt fuer einen bestimmten Markt geschrieben und hat die Erwartungen dieses Marktes antizipiert (Stranwinsky hat ja stets eine gewisse Sensibilitaet gegenueber dem Publikum gehabt -was ich keineswegs prinzipiell verurteile!).
    Wie man da auf "geistvoll" kommen kann, ist mir ein Raetsel, aber ich lasse mich eines Besseren belehren. Schon allein die Namen "Trulove", "Nick Shadow", wirklich geistvoll :no:.

    Viele Gruesse.
    Holger.

  • Zitat

    Original von Holger


    Ohne "The Rake's Progress" irgendwem abspenstig machen zu wollen, du hast schon recht, Johannes, jeder muss sich da ein eigenes Urteil bilden. Trotzdem: Ich finde gerade das Libretto ist die besondere Schwaeche dieser Oper. Ich bin - wuerde ich sagen - hochsensibel bezueglich Opernlibrettos und gleichwohl nachsichtig. Doch das Libretto von "The Rake's Progress" ist wohl eines der schlechtesten, wenn nicht das schlechteste Libretto, das ich kenne. Es ist halt fuer einen bestimmten Markt geschrieben und hat die Erwartungen dieses Marktes antizipiert (Stranwinsky hat ja stets eine gewisse Sensibilitaet gegenueber dem Publikum gehabt -was ich keineswegs prinzipiell verurteile!).
    Wie man da auf "geistvoll" kommen kann, ist mir ein Raetsel, aber ich lasse mich eines Besseren belehren. Schon allein die Namen "Trulove", "Nick Shadow", wirklich geistvoll :no:.



    Ich habe die Oper seit längerer Zeit nicht mehr gehört und muss sie mir mal wieder vornehmen (jaja, die guten Vorsätze :D). Dass es sich nun ausgerechnet hierbei um "eines der schlechtesten Libretti", wenn nicht sogar um "das schlechteste" handeln soll, verblüfft mich allerdings sehr. Der maßgeblich federführende W.H. Auden war schließlich durchaus einer der bedeutenderen Dichter englischer Zunge im 20. Jahrhundert. Künstler solchen Ranges haben auch im 20. Jahrhundert eher selten Beiträge zur Gattung "Libretto" geliefert. Meiner Erinnerung nach ist der Text von Auden (und Chester Kallman) ein hochartifizielles Gebilde, das ganz ähnliche Verfahren anwendet wie Strawinskys Vertonung - die Herstellung eines Pastiche auf mehreren Ebenen. Dabei kommen durchaus auch "holzschnittartige" Züge zum Tragen, wie sie der Moritat-Charakter fordert. Die sprechenden Namen "Trulove" und "Shadow" sind doch nur als Reflex auf den bereits aus dem 18. Jh. stammenden Namen "Rakewell" erfunden worden.


    Für detailliertere Ausführungen müsste ich den Text mal wieder lesen bzw. die Oper mal wieder hören (s.o.). Ich bleibe aber dabei, dass "The Rake's Progress" einer der subtilsten Beiträge zu einer Textgattung ist, die sich sonst eher selten durch Subtilität auszeichnet.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Ich tanz' wieder mal aus der Reihe und behaupte: Der "Progress" ist ein hervorragendes Libretto, das vielleicht nicht ganz hervorragend komponiert wurde.


    Natürlich muß man dazu wissen, daß es nicht einfach ein normales Libretto ist, sondern ein höchst artifizielles Spiel mit Opern-Versatzstücken, die, entlang der Handlung eines Kupferstich-Zyklus' von William Hogarth, in neue Zusammenhänge gestellt werden. Die Namen der Personen spielen dabei auf die Moralitäten des Mittelalters an und entkleiden die Figuren ganz bewußt einer individuellen Psychologie.


    Nicht vergessen: Strawinskij lehnte ja die psychologische Oper strikt ab, Auden und Kallman lieferten also, was Strawinskij wollte.


    Abgesehen davon enthält dieses Libretto wirkliche Dichtung - ich denke etwa an Annes Lied "Gently, little boat".


    Daß andere Verse mitunter gesucht sind oder der Stil von abgegriffener Banalität strotzt, ist klar: Auch das fällt nämlich unter die Kategorie augenzwinkernde Absicht. Wie ja auch Strawinskijs Musik weniger eine Oper ist als vielmehr einen bestimmten Operntypus, nämlich die Nummernoper der Mozart-Zeit (siehe Secco-Rezitative) referiert.


    Daß es sich beim "Progress"-Libretto um Absicht und nicht um Unvermögen handelt, sieht man, wenn man Audens andere Libretti untersucht: Brittens "Paul Bunyan" und "Elegeie für junge Liebende", "Bassariden" und "Moralitäten" von Hans Werner Henze zeigen ein völlig anderes Bild - wobei jedes dieser Libretti auf die Erfordernisse des Komponisten zugeschnitten ist, also jedes einen anderen Stil zeigt, dennoch aber die Sprache der mittleren und späten Lyrik Audens spricht.


    Meiner Meinung nach war es ein singuläres Glück, daß ein Dichter wie Auden Libretti schrieb - zu vergleichen etwa mit der Leistung von Hugo von Hofmannsthal, Ingeborg Bachmann und Ulrich Treichel.


    :hello:

    ...

  • Hallo liebe Taminoaner.


    Ich muesste mich auch naeher in das Libretto hineinfuchsen, um so detailliert wie noetig darueber referrieren zu koennen, freue mich jedenfalls ueber eure Postings.
    Ich habe schon befuerchtet, dass bei den Namen etc. eine gewisse Absicht dabei ist, was es m.E. nicht besser macht. Sicherlich habt ihr aber trotzdem recht, wenn ihr sagt, dass es kunstvoll (im Hinblick auf das stilistische Vorbild) gearbeitet ist. Es ist schon interessant, hier die Zusammenarbeit von Komponist und Dichter in den Blick zu nehmen.


    @Edvin:
    Warum meinst du denn, dass die Musik nicht optimal komponiert ist? Ihr werdet ja sicher bemerkt haben, dass ich an der Musik nichts bekrittelt habe. Wuerde mich interessieren.

    Viele Gruesse.
    Holger.

  • Hallo Holger,
    meiner Meinung nach ist es etwas schwierig, eine ganze nicht kurze Oper quasi unter Anführungszeichen zu komponieren. Bis zur Arie der Ann "I go, I go to him" funktioniert das recht gut. Dann beginnt sich aber das Stück etwas zu ziehen, wobei es natürlich immer wieder sehr gelungene Abschnitte gibt. Dennoch habe ich das Gefühl, ich höre das Räderwerk allzu absichtsvoll knacken: Die musikalischen Chiffren bleiben einander zu ähnlich, der Unterschied zwischen ernst Gemeintem, bewußter Stilparaphrase und Parodie ist nahezu aufgehoben. Womit mich die Bilder bis zum Kartenspiel eigentlich, ich muß es zugeben, langweilen. Das Kartenspiel und das letzte Bild finde ich dann wieder extrem gelungen - das Kartenspiel, weil gerade in dieser Verweigerung der dämonischen Musik eine unglaubliche Attmosphäre steckt, und das Schlußbild mit seiner Bitterkeit, die auf mich dann erstaunlich berührend wirkt.
    :hello:

    ...

  • Hallo Edwin,


    sorry für die leicht späte Meldung. :O


    Aber ich möchte doch noch einmal nachhaken. Erst mal habe ich "The Rake's Progress" noch einmal gehört und finde die Oper immer noch sehr lahm. Allerdings stimmt es, dass das Ende schon gut ist, auch in puncto Musik muss ich dir recht geben. Trotzdem:

    Zitat

    Daß andere Verse mitunter gesucht sind oder der Stil von abgegriffener Banalität strotzt


    Zitat

    Dann beginnt sich aber das Stück etwas zu ziehen, wobei es natürlich immer wieder sehr gelungene Abschnitte gibt. Dennoch habe ich das Gefühl, ich höre das Räderwerk allzu absichtsvoll knacken: Die musikalischen Chiffren bleiben einander zu ähnlich, der Unterschied zwischen ernst Gemeintem, bewußter Stilparaphrase und Parodie ist nahezu aufgehoben. Womit mich die Bilder bis zum Kartenspiel eigentlich, ich muß es zugeben, langweilen.


    Außerdem, auch wenn das sicher Geschmackssache ist, im Gegensatz zu "Tom Rakewell" finde ich "Nick Shadow" und "Anne Trulove" ziemlich schlecht erfundene Namen, das hätte subtiler, weniger holzhammermäßig gemacht werden können.


    Was mich aber wirklich noch interessiert: Wieso hat Strawinsky die "psychologische Oper" abgelehnt? Und was versteht man darunter?
    Ich habe eine Ahnung und mir fallen spontan einige Opern ein, die ich "psychologisch" oder "psychologistisch" nennen würde, trotzdem, da würde ich mich über nähere Informationen freuen. Ist das ein terminus technicus, "psychologische Oper"?

    Viele Gruesse.
    Holger.

  • Hallo Holger,
    "psychologische Oper" ist sozusagen ein halber terminus technicus. Er ist nicht definiert, wird aber in der Regel auf die Opern der Wagner-Nachfolge und ihrer Nachfolger angewendet, also auf jene Opern, in denen ein dichtes Geflecht von Motiven Handlungen und psychische Situationen schildert oder kommentiert. (Ich würde die ungefähre Linie der psychologischen Oper angeben mit dem Umfeld von Wagner, Debussy, Strauss, Berg, Zimmermann.)
    Da Strawinskij ein absoluter Gegner des Wagner'schen Musikdramas und seiner Nachfolger war, wollte er bei der vor-wagnerischen Oper ansetzen, diese aber weniger nachkomponieren, sondern sozusagen als Modell erkennbar machen, also gleichsam eine Oper über die Oper schreiben.
    Meiner Meinung nach ist deshalb auch das Libretto bewußt schematisch angelegt, es werden nicht nur Musik- sondern auch Libretto-Typen herbeizitiert. Ich glaube, daß Auden durch die Namensgebung auch genau diese Typenhaftigkeit signalisieren wollte.
    :hello:

    ...

  • Edwin:


    Zitat

    Ich glaube, daß Auden durch die Namensgebung auch genau diese Typenhaftigkeit signalisieren wollte.


    Auden war der Auffassung, daß für die Typisierung der Personen im Libretto
    NUR klischeehafte Namen infrage kämen. Hätte er das Ganze wirklich subtiler gewollt, kann man schon davon ausgehen, daß einem der genialsten englischsprachigen Lyriker im 20. Jh. durchaus "stilvolleres" eingefallen wäre.
    Strawinski wiederum, dem das ganze Musiktheater des 19.Jahrhunderts herzlich zuwider war, kamen Audens Ambitionen, die ich quasi als "Karikatur in der Karikatur" deuten würde, sehr entgegen. Was jedenfalls weder die beiden Texter noch der Komponist wollten, war, sich diesem Werk mit "hehrem, heiligen Ernst" zu nähern. Für mich ist "Rake" eines der wenigen Werke überhaupt aus dem Genre "Oper", an dem ich ungebremstes Vergnügen habe
    und übehaupt habe ich niemals verstehen können, was Leute an den Rand eines Orgasmusses bringt, wenn z.b. in Bühnenwerken über mehrere Stunden lang gestorben wird. Auch Dramatik nach dem Gusto: "Ha, Schändlicher..." kitzelt bei mir allenfalls die Lachmuskeln. ich hab mir deshalb schon entliche böse Blicke bei Opernaufführungen zugezogen, vor allem in Momenten, in denen andere vor Ergriffenheit das Tascentuch zückten...

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

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