Lieber Alviano,
ich hatte zugesagt, dir etwas zu meinen Überlegungen zum oben genannten Thema mitzuteilen. Entschuldige bitte, dass ich erst jetzt dazu komme. Bevor ich aber einsteige, möchte ich zunächst einmal für alle Interessierten die relevanten Beiträge in Erinnerung rufen:
ZitatAlles anzeigenOriginal von ThomasNorderstedt
In letzter Zeit habe ich ein wenig in theaterwissenschaftlichen Büchern gelesen. Thema Nr. 1 ist da (noch immer) das Performative. Sehr vereinfacht ausgedrückt geht es um die Besonderheit der Aufführungssituation in mehrfacher Hinsicht, u. a. neben der Betonung der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des jeweiligen Geschehens um die Interaktion zwischen Bühnengeschehen und Publikum, das als Teil der Aufführung verstanden wird.
Diese Interaktion wird im Sprechtheater ja durchaus durch verschiedene Methoden zu intensivieren versucht. So läuft zurzeit z. B. mal wieder im Hamburger Schauspielhaus der Faust, bei dem die Bühne sich da befindet, wo normalerweise das Publikum sitzt und umgekehrt.
Was ich mich nun frage, ist, ob eine solche bewusste Einbeziehung auch in der Oper probiert worden ist und wenn ja, in welcher Weise.
Mir fällt eigentlich nur Konwitschnys Don Carlos ein, der das Bühnengeschehen deutlich in den Bereich des Publikums verlagert und das Publikum auf diese Weise mitnimmt. Aber sonst?
Thomas
ZitatOriginal von Edwin Baumgartner
Lieber Thomas,
im Sprechtheater geht das wohl etwas leichter; im Musiktheater verlieren die Protagonisten dadurch zu leicht den Kontakt zur musikalischen Leitung. Zumindest besteht eine gewisse Gefahr dazu.
Ich kenne lediglich ein paar Aufführungen mit den schon bekannten Auftritten durch die Publikumsreihen. Die Musikhochschule hat einmal auf ihrer Probebühne Brittens "Albert Herring" gebracht, und zwar so, daß im zweiten Akt das Publikum an den Rändern der gesamten Spielfläche saß und dadurch "Teilnehmer" der Maifeier wurde. In Menottis "Globolinks" trieben sich die Außerirdischen natürlich im Publikum herum. In Ligetis "Grand Macabre" im Jugendstiltheater fand der Umzug durch die Zuschauerreihen statt etc.
ZitatAlles anzeigenOriginal von Alviano
Lieber Thomas aus Norderstedt,
wenn ich drüber nachdenke, gibt es das öfter, als man meinen könnte, in unterschiedlicher Ausprägung. Ein sehr gelungenes Beispiel ist die "L´Orfeo" (Monteverdi) Inszenierung in Basel durch Jan Bosse gewesen. So findet die Hochzeitsfeier Orfeo - Euridice im Foyer des Theaters Basel mit den real-existierenden Zuschauern statt (meine Besprechung der Aufführung ist hier im Forum zu finden).
In Hamburg hat Uwe-Eric Laufenberg den "Prinz Jodelet" (komponiert von Reinhard Keiser) im Zuschauerraum beginnen lassen - die Sänger verkaufen als Obdachlose eine Strassenzeitung ans Publikum.
Ebenfalls in Hamburg sitzt in Konwitschnys "Freischütz"-Inszenierung der Eremit in der ersten Parkettreihe und wirft Agathe nach ihrer Arie mit einem "Bravo" jene Rosen auf die Bühne, die den Brautkranz bilden werden.
Nochmal Hamburg, nochmal Konwitschny: in "Lulu" streitet sich im Parkett während der eigentlich als "Filmmusik" vorgesehenen Passage im Publikum ein Ehepaar, dass auf die Bühne eilt (dort sieht man originalgetreu den Garderobenbereich der Staatsoper), der Mann bringt die Frau um, und dann läuft die Handlung rückwärts, bis das Ehepaar wieder zum Publikum wird.
Hilsdorf, "Don Carlo" Wiesbaden/Essen/Münster - der Chor des Autodafés wird mitten unter den Zuschauer/innen im Parkett gesungen.
Leipzig "Holländer": ursprünglich hatte die Stripperin direkten Kontakt mit dem Publikum, auch Senta tritt durchs Publikum auf.
Essen: sowohl in "Turandot", als auch in "Tannhäuser" und "Mahagonny" ist der Chor im Zuschauerraum präsent. Während der Erda-Szene im "Rheingold" schreiten die drei Nornen durch den Zuschauerraum, eine unglaublich starke Szene.
Dass ist das, was mir spontan zu Deiner Frage einfällt.
ZitatOriginal von Gurnemanz
Möglicherweise paßt die Neuinszenierung in Darmastadt (John Dew) hier hinein; ich habe sie (noch) nicht gesehen, wohl aber Matthias Pfütz, der sie anschaulich besprochen hat:
Näheres hier.
ZitatAlles anzeigenOriginal von Michael M.
Grundsätzlich ist das Element des Performativen und der Interaktion zwischen Darstellern und Publikum natürlich in jeder Aufführung gegeben (aber das weißt du); in der Oper vielleicht noch mehr als im Schauspiel, da hier Zuschauerreaktionen wie Applaus und Bravos während der Vorstellung viel öfter vorkommen als im Schauspiel und das Publikum so erstens an der Aufführung aktiv teilnimmt (also durch eine solche Intervention beispielsweise ihren Rhythmus verändert) und zweitens ein direktes Feedback liefert, das u.U. anspornend oder auch entmutigend auf die Darsteller wirkt und ihre Leistung verändert. Die Interaktion braucht man also nicht unbedingt zu inszenieren, sie findet eh statt; aus einem abgedunkelten Zuschauerraum möglicherweise übrigens eher als aus einem beleuchteten, in dem der Chor auftritt und die Umsitzenden sich wegducken.
Ein besonders nettes Beispiel für eine solche Interaktion lieferte Jon Vickers in einem Live-Mitschnitt des "Tristan" ein einer offenbar herbstlichen Vorstellung, in der das Publikum vor allem hustend interagiert. In einer Generalpause innerhalb einer besonders leisen und lyrischen Passage unterbricht Vickers sich und brüllt ins Parkett: "Shup up that damn coughing!" Dann setzt das Orchester wieder ein, und Vickers singt ungerührt weiter...
Grüße,
Micha
ZitatOriginal von Alviano
Lieber Thomas aus Norderstedt,
was irgendwie schade ist, was fängst Du denn mit den angebotenen Beispielen an? Mir hat das Überlegen, was so in etwa Deine Frage beantworten könnte, viel Spass gemacht. Das kann ich vom Lesen der neuesten Beiträge hier nicht in jedem Fall behaupten.
Wie es so meine Art ist, hatte ich eigentlich vor, zunächst die grundlegenden Erkenntnisse der Kulturwissenschaften, speziell der Theaterwissenschaft zur Performativität darzulegen, sodann meine Gedanken dazu zu äußern und auf dieser Basis einige Thesen zur Diskussion zu stellen. Nur musste ich erstens in den letzten Tagen erkennen, dass bei dieser Vorgehensweise mein Beitrag viel zu lang geworden wäre und habe ich zweitens bei nüchterner Betrachtung festgestellt, dass nur wenige Forianer an diesem Thema interessiert sein dürften, so dass Aufwand und Ertrag in keinem gesunden Verhältnis mehr stehen. Zudem sei nicht verschwiegen, dass angesichts des Themas mit derart viel Querschüssen und Störmanövern zu rechnen ist, dass es mir schon jetzt die Freude verleidet, mich hier zu diesem Thema näher zu äußern. Aber wie heißt es so schön: Versprochen ist versprochen. Hier also eine Kurzfassung meines eigentlichen Vorhabens (Verkürzungen in der Darstellung bitte ich mir nachzusehen):
Die im Titel dieses Threads angesprochene performative Wende bezeichnet die sich in den Kulturwissenschaften seit etwa fünfzehn Jahren immer stärker durchsetzende Erkenntnis von der Besonderheit der jeweiligen Aufführungssituation. Stärker denn je wurden der Zuschauer und sein Beitrag zur Aufführung in den Blick genommen. Man hat erkannt, dass eine Aufführung immer aus der Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern entsteht. Weil die jeweilige Aufführungskonstellation jeweils anders ist, ist die jeweilige Aufführung unwiederholbar und somit auf besondere Weise gegenwärtig. Wegen mit der Aufführungssituation verbundener Präsenzerfahrungen wie z. B. Assoziationen des jeweiligen Zuschauers aufgrund von Aktionen des jeweiligen Akteurs bringt die jeweilige Aufführung zudem eine je eigene Bedeutung hervor. Diese Bedeutungserfahrung ist aufgrund der besonderen Präsenz des Ereignisses besonders intensiv. Wesentlich für eine Aufführung ist somit die Flüchtigkeit sowohl des Ereignisses Aufführung als auch der Bedeutungsentsehung und -erfahrung.
Soweit ganz kurz zur Ästhetik der Performativen (so der Titel eines zentralen Werkes zu diesem Thema von Fischer-Lichte, das ich hier gern empfehle).
Mich interessiert an dieser Theorie zurzeit vor allem der Status des Zuschauers. Seine Funktion ist nach der o. g. Theorie eine gänzlich andere als bisher. Bisher war er ein am Bühnengeschehen nicht teilnehmender, passiver Betrachter, dessen Rolle sich auf den intellektuellen Nachvollzug beschränkte. Nach der o. g. Theorie kommt dem Zuschauer eine viel bedeutendere Funktion zu: Indem er die jeweilige Aufführung mit hervorbringt, wirkt er selbst bedeutungskonstituierend. Nicht Passivität, sondern Teilhabe an der Aufführung beschreibt somit seine Rolle.
Folgerichtig wird der Blick auf den Zuschauer gelenkt und danach gefragt, wie der Zuschauer aktiviert werden kann. Wichtig dabei ist, dass der Zuschauer ohnehin immer an dem ästhetischen Prozess beteiligt ist, weil er als Zuschauer einer Aufführung notwendigerweise aktiv ist. Gleichwohl gibt es Möglichkeiten den Zuschauer noch mehr als im eben genannten Sinne ohnehin immer schon an dem jeweiligen Aufführungsgeschehen teilnehmen zu lassen.
Nun ist die Idee der Zuschauerpartizipation nicht neu. Z. B. Brecht hat mit seinen Lehrstücken ähnliches theoretisch fundiert. Mitmachtheater, Laientheater verfolgten und verfolgen ähnliche Ziele, wenn auch auf anderer theoretischer Grundlage.
Vor diesem Hintergrund habe ich mir die Frage gestellt, ob und inwieweit Teilhabe bzw. Aktivierung des Zuschauers in der Oper möglich ist. Davon, dass sie wünschenswert ist, bin ich überzeugt. Für mich soll Oper keine rein unterhaltende, museale Veranstaltung, sondern eine lebendige, mich als im Heute lebenden Menschen ganzheitlich ansprechende Erfahrung sein. Zweifellos führt eine Zuschaueraktivierung zur Verlebendigung des Opernereignisses.
Mehrere Gesichtspunkte erschweren in der Oper im Vergleich zum Sprechtheater solche Teilhabe bzw. Aktivierung:
Zuallererst ist zu beachten, dass in der Oper musiziert wird. Edwin hat einen dabei eine wichtige Einschränkung der Möglichkeiten der Regie bereits genannt, indem er darauf hinwies, dass die Musiker den Kontakt zur musikalischen Leitung behalten müssen.
Wichtiger als die Frage, wie gespielt wird, scheint mir jedoch die Frage, was gespielt wird. Die Oper natürlich, scheint die Antwort zu lauten. Aber ist das wirklich so? Im Theater ist es durchaus üblich, das jeweils gespielte Stück nur als Material anzusehen, mit dem nach Belieben umgegangen werden kann. Es ist interessant sich zu überlegen, ob das in der Oper auch so sein kann.
Eine Aktivierung der Zuschauer kann dadurch erfolgen, dass man das Bühnengeschehen und den Zuschauer örtlich näher zueinander bringt, entweder indem man die Musiker inkl. der Sänger in den Zuschauerraum oder gar ins Foyer spielen oder indem man die Zuschauer auf der Bühne zuschauen lässt. Solcherlei Beispiele sind oben zu lesen. Bei diesen Vorgehensweisen bleibt der Zuschauer jedoch Zuschauer.
Eine deutlich stärkere Aktivierung würde der Zuschauer erfahren, wenn er zum Mitmusizierenden würde. So berichtete mir ein Arbeitskollege von einem Opernbesuch in der Arena von Verona. Es wurde Nabucco gegeben. Die Zuschauer wurden aufgefordert, den Gefangenenchor nicht mitzusingen. Aber alle haben es getan! Ein ähnliches Geschehen ist bei der last night of the Proms zu erleben, wenn das Publikum ebenfalls lautstark mitsingt (ja, ich weiß, keine Oper).
Man stelle sich vor: Es wird der Freischütz gegeben. Der Text und die Noten des Jägerchores werden auf die Bühne projiziert und der Dirigent wendet sich an das Publikum: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte singen Sie mit!“
Denkbar wäre es auch, das Publikum oder einzelne Zuschauer entscheiden zu lassen, ob bestimmte Teile der Oper gespielt werden, z. B. bei unterschiedlichen Fassungen der Oper.
Oder man könnte z. B. bei Donizettis Liebestrank auf die Idee kommen, „Una furtiva lagrima“ wegzulassen mit der Bemerkung, das sei viel zu abgeschmackt. Oder man könnte beim Tannhäuser den Chor nicht „Landgraf Herrmann, Heil!“ singen, sondern nur „Landgraf Herrmann“ singen und beim „Heil!“ jeweils schweigen lassen.
Oder, oder, oder …
Vor diesem Hintergrund, lieber Alviano, erschienen mir die von mir erlebten Beispiele von Zuschaueraktivierung sehr zurückhaltend. Von daher interessierte mich, was ihr in dieser Hinsicht zu berichten wisst.
Was fange ich nun mit euren Beispielen an, hast du gefragt. Nun, zunächst stelle ich fest, dass die Opernregisseure sehr zurückhaltend sind. Sodann finde ich, dass es noch sehr viel Potential für die Oper als Aufführung gibt. Mehr Experimentierfreude in diese Richtung wäre mir lieb.
Viele Grüße
Thomas