ZitatOriginal von Edwin Baumgartner aus dem letzten Karajan-Thread
Nach und nach verbiedert Karajan aber zu einem Verwalter des Schönklangs - und läuft damit meinen Idealen diametral zuwider. Worin sich meine Kritik begründet.
Manchmal bedarf es einer bestimmten Zuspitzung um mir ein eigentlich längst vertrautes Phänomen als solches in den Vordergrund des Bewusstseins zu bringen. Hier war es das Wort von der "Verwaltung des Schönklangs", das mich darauf stieß, dass es bei der vermeintlich politisch-idealogischen Diskussion pro und kontra Karajan anscheinend um eine Neuauflage eines uralten und stets ähnlich heftig - wenn auch selten so anhaltend - geführten Streites geht, dessen regelmäßiges Aufflammen sich durch die gesamte Musikgeschichte zieht. Nennen wir die Lager simplifizierend "L'art pour l'art" und "L'art pour l'homme".
Ich beschränke mich zunächst auf den Bereich der Oper, wo er am spektakulärsten ausgetragen wurde, obwohl er sich überall in der Musikgeschichte bemerkbar macht, wie etwa die Fehde zwischen Cherubini (oder Boieldieu) und Berlioz belegt. Da gab es den Gegensatz zwischen den Lullyisten und den Ramisten, den "guerre des buffons" zwischen den Piccinisten und den Gluckisten, den Anhängern des Belcanto und denen Verdis oder Wagners, die sich wiederum auch gegenseitig bekrieg(t)en, usw. bis hin zu den heftigen Antagonismen um die Moderne des letzten Jahrhunderts.
Stets ging es um das Wesen und den Auftrag der Musik. Soll sie einfach so schön und wohl klingend (oder -gebaut) wie nur möglich sein oder das widersprüchliche, also ruhig auch mal hässliche Wesen des Menschen reflektieren? Findet sie ihre höchste Erfüllung in der Perfektionierung ihrer selbst, ihre beste und legitimste Wirkung aus der Annäherung an das Ziel der Vollkommenheit oder in der Spiegelung des Wesens ihrer Schöpfer - und Hörer - mit all deren Höhen und Tiefen? War Karajan der kürzliche Lully, Piccinni oder Bellini des Taktstocks und ein Toscanini, Boulez oder Gielen dessen Rameau, Gluck oder Hartmann?
Ich will hier nicht schon wieder einen Karajan-Thread aufmachen und auch nicht den Streit um das Regietheater neu anfachen, der m. E. auf dem gleichen Gegensatz beruht, sondern die möglichen Ursachen der Dauerfehde zwischen den (vermeintlichen?) Wahrern des Schönen, Wahren, Guten und den (nicht weniger vermeintlichen) Denkmalsstürmern beleuchten und deshalb weiter fragen:
Nährt sich der Dauerzwist nicht eher aus diesen fundamentalen und weit älteren Gegensätzen als aus aktuell politischen oder charakterlichen Aspekten? Werden die nicht nur zur Verbrämung des (uneingestandenen?) eigentlichen Gegensatzes ins Feld geführt um die heiligen Kühe des jeweils anderen Lagers besser vor sich her treiben zu können?
Ist es nicht legitim, wenn man die Hauptaufgabe der Musik in der Erfüllung des Bedürfnisses sieht, aus dem heraus sie ursprünglich wohl entstand, nämlich Entspannung oder Unterhaltung und erst im weiteren Verlauf als Ausdruck der eigenen seelischen Verfassung?
Warum entschuldigen wir - zumal in Deutschland - das musikalische Unterhaltungstheater von Cimarosa über Offenbach und Strauß bis hin zu Bernstein oder gar The Who am liebsten mit der ihren Werken inhärenten Sozialkritik und billigen ihrer Musik um so mehr Wert zu, je mehr gesellschaftskritisch pointierte Spitzen ihrer Librettisten sie transportiert?
Ist Metastasio, der mit großer Kunst das Ideal des L'art pour l'art anstrebte, ein schlechterer Librettist als, sagen wir, Calzabigi, sind Hugo Hofmannsthal oder Stefan Zweig als LIbrettisten schlechter als Ingeborg Bachmann oder Heiner Müller?
Um zum Ausgangspunkt zurück zu kommen: mir scheint, die Streiter für die Schönheit des Klangs, wie sie Karajan zur obersten Maxime machte, haben eine lange und durchaus achtbare und namhafte Tradition. Allerdings auch eine wiederkehrende der Verlierer. Erklärt das die phänomenale Vehemenz ihres Kampfstils, der manchmal an den ganz anderer Fundamentalisten erinnert? Nicht, dass der nicht auf beiden Seiten zu beobachten wäre, aber charakteristisch, weil viel ausschließlicher, scheint er eher für die als konservativ oder gar reaktionär Geschmähten zu sein - als ob sie subkutan die Aussichtslosigkeit ihrer Position ahnten und der von Anbeginn an vorbeugen wollen. Dabei bauen sie tatsächlich auf dem älteren, ehrwürdigeren Ideal auf, das durchaus Argumente für sich hat.
Fragen über Fragen, die hier hoffentlich intensiv diskutiert werden, so dass wir einmal über die üblichen Totschlagsvorwürfe beider Seiten hinaus (die ich im Zeifelsfalle hier löschen werde, sobald sie zu unreflektiert auftauchen) etwas mehr über das Wesen der Debatte erfahren können.
Vielleicht steht am Ende ja sogar die Erkenntnis, dass beides einander bedingt und braucht. Nur, dass es nicht um einen Kompromiss, sondern im Idealfall eine vollkommene Ergänzung geht.
Jacques Rideamus