Mahlers "Regieanweisungen"

  • Geschätzte Forumsgemeinde, verehrte Kompetenzen,


    im aktuellen Fono-Forum ist (wieder mal) ein Interview mit Roger Norrington gedruckt, in dem es – neben anderem – über die Interpretation seiner Mahlereinspielungen und die damit einhergehende Kritik geht. Norrington sagt ua:


    …… „Eine Mahler-Sinfonie braucht man nämlich nicht zu interpretieren. Denn die Interpretation hat Mahler gleich mitgeliefert, und sie steht in der Partitur. Mozart begnügt sich mit fünf Begriffen, wie seine Musik gespielt werden soll. Aber Mahler gibt auf jeder Seite akribische Anweisungen, denen man bloß folgen braucht. Es gibt Kritiker, die meinen wir würden bloß versuchen, anders zu sein. Das stimmt nicht. Wir versuchen nicht anders zu sein, sondern wahr.“


    Hm, das liest sich für mich als musikalischer Laie natürlich spannend und auch schlüssig, aber es steht natürlich sofort folgende Frage im Raum: wenn das so ist, warum gibt’s dann soviele unterschiedliche Ansätze – und jede nimmt für sich mehr oder weniger das Recht heraus, eine „richtige“ Interpretation (was immer das auch sein mag) zu sein. Klar gibt es unterschiedliche Arten zu "lesen", aber Anweisungen hinsichtlich der Artikulation sind doch mE irgendwie bindend und klar umsetzbar, oder?


    Ich möchte dieses Zitat und meine Frage hier gern mal zur Diskussion stellen, da ich dies irgendwie nicht „verstehen“ kann.


    Als Hintergrundinformation vielleicht, dass ich mittlerweile ne ganze Menge Interpretationen der Sinfonien zuhause habe, sie irgendwie alle schätze (obs nun Boulez‘ nüchtern-edler Ansatz, Soltis Überschwang oder Klemperers gewordener Fels ist). Ich habe auch die vier bislang verfügbaren Norrington-Einspielungen, von denen ich aber zugegebermaßen die 4. Und 5. erheblich mehr schätze als die beiden anderen. Ich hab das „Wie ein Kondukt“ der 5. noch nie so schlüssig im Rhythmus gehört, und das „Ruhevoll. Poco Adagio“ der 4. hab ich noch nie so zauberhaft ätherisch gehört (man höre nur die Kontrabass-Pizzicati in der Wiederholung).
    Bin sehr neugierig auf Eure Meinungen und Ideen.


    Herzliche Grüße
    Thomas

  • Hallo,


    Mahler hat zwar seine Partituren mit Dynamikvorschriften, Tempo- und Vortragsbezeichnungen geradezu überschwemmt, dennoch gibt es zahlreiche Augenzeugenberichte und Kritiken, die von geradezu diametral gegensätzlichen Interpretationen einundderselben Sinfonie durch den Dirigenten Mahler berichten. So ist es denn auch kein Wunder, dass sich die Mahler-Schüler Walter und Klemperer in ihren grundsätzlichen Ansätzen so fundamental unterscheiden.


    Die Aussagen Norringtons würde ich, vorsichtig formuliert, nicht auf die Goldwaage legen. Sein Gequatsche von der "moralischen Überlegenheit" des Non-Vibrato-Spielens ist jedenfalls nichts weiter als prätentiöser Quatsch.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Zitat

    Original von Thomas Knöchel


    …… „Eine Mahler-Sinfonie braucht man nämlich nicht zu interpretieren. Denn die Interpretation hat Mahler gleich mitgeliefert, und sie steht in der Partitur. Mozart begnügt sich mit fünf Begriffen, wie seine Musik gespielt werden soll. Aber Mahler gibt auf jeder Seite akribische Anweisungen, denen man bloß folgen braucht. Es gibt Kritiker, die meinen wir würden bloß versuchen, anders zu sein. Das stimmt nicht. Wir versuchen nicht anders zu sein, sondern wahr.“


    Bestünde Musik nur aus dem, was in der Partitur steht, so hätte das Gültigkeit, von dem Otto Klemperer einmal sinngemäß sagte: "Zum Takt schlagen kann man auch einen Affen hinstellen".


    Für Mahler gilt für mich nichts anderes als für andere Komponisten: Natürlich ist es entscheidend, was in der Partitur steht. Aber noch entscheidender ist es, was dort nicht steht.
    Strikte Befolgung der Partiturangaben ist lobenswert, aber nicht die sklavische Unterwerfung.


    Genug der Schlagworte ;) .


    Für mich gäbe es nichts langweiligeres als Musik, die bei Dirigenten X und Orchester Y genau so klingt wie bei Dirigenten A und Orchester B.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zitat

    Original von GiselherHH


    Die Aussagen Norringtons würde ich, vorsichtig formuliert, nicht auf die Goldwaage legen. Sein Gequatsche von der "moralischen Überlegenheit" des Non-Vibrato-Spielens ist jedenfalls nichts weiter als prätentiöser Quatsch.
    :hello:
    GiselherHH


    Hallo Giselher, ist das tatsächlich so? Oder sind es lediglich völlig unterschiedliche Meinungen zweier diametral gegenüberstehender Standpunkte? Ich denke, bei Norringtons Aussage gehts in erster Linie weniger um das Vibrato (auch wenn ich seinen Ansatz für vielleicht etwas sehr dogmatisch, aber durchaus legiim halte), sondern um Vorschriften hinsichtlich Tempo, Dynamik oder sonstige "technische" Anweisungen (bin leider kein Musiker, bitte seht mir unvollkommene Ausdrucksweise nach).


    Vielleicht lebe ich als Laie auch mit der völlig falschen Meinung, dass niedergeschriebene konkrete Anweisung sowas wie "Gesetz" sind, dass sich der Künstler ja was gedacht hat. Ein Maler malt ein Bild und der Betrachter hat immer das Original, das von Künstlerhand geschaffene Werk vor sich. Ein Komponist hat diesen Vorteil nicht; er ist immer auf eine schlüssige Interpretation angewiessen. Aber wenn er will, dass eine Passage, eine Stelle so und nicht anders zu spielen sei, muss er (und tut er) detailierte Anweisungen beipacken. Und ein ernsthafter Interpret hat sich meiner Meinung auch dran irgendwie zu "halten". So versteh ich das.... Aber vielleicht ist diese Einstellung wirklich bisserl naiv...


    Norbert hat sicher schon recht, wenn er schreibt: "Für mich gäbe es nichts langweiligeres als Musik, die bei Dirigenten X und Orchester Y genau so klingt wie bei Dirigenten A und Orchester B." Das unterschreib ich vollkommen.


    Dank Euch beiden jedenfalls....... :hello:
    Thomas

  • Hallo Thomas,


    meine Aussage bezog sich nicht generell auf die Notwendigkeit, den Anweisungen des Komponisten in der Partitur zu folgen (wie sehr und ob das dann schon alles ist, darüber lässt sich sicher sehr lange reden), sondern auf Norrington selbst, der gern mal Aussagen mit universellem Absolutheitsanspruch raushaut und dabei m. E. oft danebenliegt. So etwa in einem früheren Interview, wo er seine vibratolosen Mahlerinterpretationen als die historisch einzig richtigen darstellte (was durchaus umstritten ist, da es Aussagen und Tondokumente gibt, welche seinen Aussagen widersprechen) und den reichlichen Gebrauch von Vibrato in die ästhetische Nähe des Faschismus rückte, was nun wirklich nicht nur Quatsch ist, sondern eine absichtliche moralische Herabsetzung anderer Interpretationsansätze.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Das Problem ist nicht das direkte Ignorieren von Anweisungen (was gewiß häufig genug vorkommt). Sondern, daß es außerordentlich naiv ist, zu glauben, solche Anweisungen könnten irgendwie genau oder vollständig sein. Jede hingeschriebene Anweisung hat ein breites Umsetzungsspektrum und für jede niedergeschriebene gibt es dutzende oder hunderte nicht explizit notierte, sondern stillschweigend vorausgesetzte. Wenn ein Komponist z.B. schreibt "espressivo ma in tempo" oder Mahler z.B. "nicht schleppen" impliziert das, daß er davon ausgeht, daß bei *nur* mit "espressivo" oder "mit Ausdruck" markierten Passagen eine Temposchwankung geboten ist? Oder steht das im Ermessen des Interpreten? Heißt "nicht schleppen" wirklich "streng im Tempo" oder nur "nicht zu stark nachlassen, aber doch ein wenig" oder ist gar ein Anziehen des Tempos gemeint? Oder kommt es, unabhängig vom Tempo darauf an, insgesamt den Eindruck des Schleppens zu vermeiden?


    Mahler war bekanntlich ein sehr erfahrener Dirigent. Ebenso hatte er, den seinerzeitigen Gepflogenheiten entsprechend, gar keine Probleme, Musik früherer Zeiten für Aufführungen massiv zu überarbeiten (Bach z.B.). Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, daß er wirklich eine so simple mechanistische These wie sie Norrington hier andeutet, vertreten haben sollte. Selbst wenn er sich so ähnlich geäußert haben mag, hat er das sicher nicht so gemeint. Ihm muß klar gewesen sein, daß die große Fülle von Anweisungen in seinen Partituren niemals die notwendigen Freiheiten der Interpreten völlig würde einschränken können.


    Wie Giselher schon sagte, gibt es eine Reihe von Dirigenten, die Mahler sehr nahe standen und mehr oder minder als "authentisch" gelten dürfen. Außer Walter und Klemperer sollte man auch noch Mengelberg nennen. Deren überlieferte Mahler-Deutungen unterscheiden sich ziemlich stark voneinander.
    Es gibt vermutlich ein paar Dinge, wo man recht zuverlässig sagen kann, daß sie nicht Mahlers Vorgaben entsprechen. Z.B. ein zu breites Tempo im Adagietto der 5. Sinfonie. Aber Mahler hat meines Wissens keine Metronomangabe hinterlassen (warum eigentlich nicht, wenn der Dirigent ein bloßer Ausführender ist?), sondern wir stützen uns hier u.a. auf Walters Tempo. In den Noten steht "Sehr langsam", später ital. molto adagio, was schonmal der Satzbezeichnung zu widersprechen scheint. Aber vielleicht bezieht sich die Verkleinerungsform hier auf den Satz ingesamt.
    "Sehr langsam" ist offensichtlich ein ziemlich dehnbarer Begriff... von daher kann man Bernstein u.a. mit sehr breiten Tempi nichtmal Textuntreue vorwerfen...
    Das weiß Norrington natürlich alles selbst. ;) Aber Klappern gehört nunmal zum Handwerk...


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)