Moden in der Interpretation klassischer Werke - Bereicherung oder Ärgernis ?

  • Als Klassikeinsteiger dachte ich einst, alles wäre ganz einfach.
    Man kaufe eine gute Aufnahme eines klassischen Werkes - und das wars dann schon
    Man hätte dann dieses Werk kenengelern und für alle Zeiten gegenwärtig. Denn klassische Musik ist bekanntlich zeitlos und unveränderlich. Denkste.


    Inzwischen lamen und gingen viele Moden. Interpreten-Sterne erstrahlten, glühten auf und erloschen (oft unbemerkt).


    Man muß nicht gerade die HIP Bewegung (selbst sie unterliegt in sich diversen Modeströmungen, örtlich und zeitlich bedingt) heranziehen, nein auch bei Aufnahmen mit "modernem Instrumentarium gibt es immer wieder Trends, denen sich die Mehrheit der Interpreten einer Epoche kaum verschliessen können,. weil der "Modetrend ja erst aus zeitlichem Abstand als solcher wahrgenommen wird.
    Wilhelm Kempff meinete eines Tages in einem Intervie, die Beethoven-Sonaten erforderten eine "zeitgemäße" Interpretation, man könne si nich mehr so spielen vie (damals) vor 30 oder 40 Jahren.
    Karl Böhm galt als Mozartdirigent, der Werktreue über alles stellte, und dessen Lesart nicht zu überbieten war (wohl gab es gleichwertiges)
    Karajan galt als Klangwunder schlechthin - Heute wird ihm (IMO zu Unrecht "Breitwandsound" und "Klangmtsch" vorgeworfen. Harnoncourts Pionieraufnahmen in Sachen "Origianlinstromente" sind für viele heute nicht mehr anhörbar.
    Ähnliches könnte man über etliche andere Einspielungen sagen.
    Da wird von "uninformirtem Umgang " mit alten Werken gesprochen, von falschen Tempi, fehlenden Wiederholungen, aber auch von zu dickem (und einige Jahre Später von dünnem blutleerem) Klang.


    Bevor ich hier weiter aushole möcht ich strikte darauf hinweisen, daß es sich bei diesem Thread in keiner Weise um einen Zwilling des Threads:


    Früher war alles besser ... - die Alten leben hoch !!


    handelt, der ja gerade aktuell läuft, sondern die Fragestellung ist eine andere:


    Wie sieht es bei Euch aus, wenn ihr Interpretationen von Schlüsselwerken der Klassik duch die letzen 55 Jahre hört (so lange gibt es in etwa Stereoaufnahmen)


    Findet ihr die Aufnahmen der Vergangenheit AUSREICHEND um über ein bestimmtes Werk informiert zu sein oder findet ihr sie "antiquiert" und kaum mit Genuss anhörbar ?


    Genügen Euch HEUTIGE Einspielungen, weil sie Eurer Meinung nach den Intentionen des Komponisten näher kommen - und somit die alten Aufnahmen allenfalls noch als historische Dokumente gelten lassen, deren musikalischer Genuss jedoch zumindest in Frage gestellt werden kann?


    Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Ihr findet (wie beispielsweis ich) gerade die Möglichkeit reizvoll ,miterleben zu dürfen, wie sehr sich die Auffassung über ein Werk binnen weniger Jahrzehnte wandeln kann und ein "bekanntes " Stück in völlig anderm Licht erscheinen lassen kann. Nach dieser These lernt man eigentlich erst am Besten kennen was ein Werk "unzerstörbar" macht....(?)


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Sagitt meint:


    Für mich gibt es Aufnahmen, die alle Moden überstehen.


    Als allererstes fällt mir KV 595 mit Haskil ein. Klavierspiel für die Ewigkeit.
    Von dieser Art habe ich einige Aufnahmen.Fischer-Dieskau Matthäus-Passion 1959,Furtwängler, die Kriegsaufnahmen der siebten und neunten,Julius Katchen erstes Brahms-Konzert, Harnoncourt mit der Wassermusik und manche andere. Ganz wild durcheinander ( es ist noch früh)


    Dann gibt es Aufnahmen, die einen fast neuen Blick auf ein Werk eröffnen.
    Das war vor Jahren öfters Norrington ( den ich immer noch ausserordentlich schätze!), das ist immer wieder Rene Jacobs, selbst mit späten Mozart-Sinfonien,einfach unglaublich, was er aus den Musikern herausholt.


    Ich merke aber ( Alterserscheinung ?), dass die Zahl der Aufnahmen, die mich begeistern, immer kleiner wird. Noch eine Interpretation von Beethoven-Sonaten, der vier Jahreszeiten oder anderer Werke, die ich seit Jahrzehnten und in hervorragenden Interpretationen kenne. Warum soll ich Jonas Kaufmann als Pinkerton hören ? Warum ? Es gibt so gute Aufnahmen, warum eine weitere ? Selbst die von mir hochgeschätzte Kammerphilharmonie Bremen, die weltweit mit ihrem Beethoven gefeiert wird, löst bei mir die Frage aus, warum eine weitere Aufnahme der Beethoven-Sinfonien ? Können sie mir irgendetwas sagen, dass ich nicht kenne ? Vielleicht, wenn keine Alterserscheinung, die Last des Vorhandenen ?

  • Dieses Thema erlaube ich mich, soch ziemlich subjektiv anzugehen: Was mir gefällt, überlebt bei mir.


    Wie schon gesagt, ob etwas als Mode erkannt werden kann, erschließt sich meist mit zeitlichem Abstand. Zunächst einmal ist es "etwas Neues" zu einem "alten" Werk und das betrachte ich zunächst mit Interesse. Die HIP - Interpretation ist ja durchaus schon mal anders und hat Aufmerksamkeit erregt. Erst als daraus eine Ideologie wurde, hatte das m. E. zur Folge, dass es zum Muss wurde, auch Schwächen zur Tugend zu erheben. So macht man letztlich jede vielleicht überfällige Neuerung oder Handlungsalternative kaputt.


    Irgendwann taucht dann wieder eine frühere Mode auf.


    Moden haben mit dialektischen Prozessen zu tun, nicht nur in der klassischen Musik. Es belibt den einzelnen überlassen, möglichst der eigenen Vorliebe zu trauen und das andere als Alternative daneben bestehen zu lassen. Nur so erweitert sich der allgemeine (und mein) Horizont


    LG
    :hello:
    Ulrica

  • Der >homo modernus< war im Mittelalter ein Schimpfwort, einer, der sich nicht um das Ewig-Bleibende schert. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich das historische Bewußtsein etabliert - d.h. jede Interpretation ist für unser Verständnis geschichtlich geprägt, d.h. im mittelalterlichen Sinne >modisch<. Was aber nicht heißen muß, daß sie deshalb nur eine vergängliche >Mode< darstellen muß - eine musikalische Eintagfliege gewissermaßen. Sie kann im besten Fall eine über den Moment hinaus reichende exemplarische Bedeutung gewinnen, wie die hier zu Recht erwähnten Mozart-Aufnahmen von Clara Haskil. Nietzsche nannte das >monumentalische Historie<: das Exemplarisch-Große, alles andere überragende Klassische und damit Vorbildlich-Wiederholbare in der Geschichte.


    Beste Grüße
    Holger

  • Hallo!


    Eine vierte Möglichkeit des modischen Wechsels ist kommerziell begründet und wird aktiv durch das Marketing der Marktteilnehmer gefördert. Wenn Karajans Beethoven in jedem Haushalt steht, wird etwas Neues gebraucht, damit wir uns dann den ganz anderen Gardiner auch noch kaufen. Wenn die Welle abebbt, liest man überall, dass jetzt der Beethoven vor Karajan besonders gültig ist. Wohl auch, weil die Vermarktung des Archivs so schön billiger ist, als neu zu produzieren. Dann kommt die Mitte zwischen Großorchester und HIP, das Kammerorchester. Und bestimmt schließt sich der Kreis auch einmal.
    Ganz nach Oscar Wilde, habe ich einen einfachen Geschmack, egal aus welcher Zeit die Interpretation stammt. Nur die Aufnahmequalität setzt da manchmal Grenzen.


    Gruß, Beryllo

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  • 4 Antworten, aber

    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    die Fragestellung ist eine andere:


    Wie sieht es bei Euch aus, wenn ihr Interpretationen von Schlüsselwerken der Klassik duch die letzen 55 Jahre hört (so lange gibt es in etwa Stereoaufnahmen)


    Findet ihr die Aufnahmen der Vergangenheit AUSREICHEND um über ein bestimmtes Werk informiert zu sein oder findet ihr sie "antiquiert" und kaum mit Genuss anhörbar ?


    Das kommt drauf an.

    Zitat

    Genügen Euch HEUTIGE Einspielungen, weil sie Eurer Meinung nach den Intentionen des Komponisten näher kommen - und somit die alten Aufnahmen allenfalls noch als historische Dokumente gelten lassen, deren musikalischer Genuss jedoch zumindest in Frage gestellt werden kann?


    Was soll man jetzt antworten? Mir genügt in der Regel eine Aufnahe, egal ob alt oder neu. In HIP hat man durchaus Kenntnisgewinne gemacht, insofern können neuere Einspielungen "richtiger" sein - das Problem ist aber, dass ich als nicht-Eingeweihter (in den Forschungsstand) nicht weiß, welches Ensemble sich nun wie ausführlich mit dem Forschungsstand beschäftigt (resp. ob überhaupt)

    Zitat

    Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Ihr findet (wie beispielsweis ich) gerade die Möglichkeit reizvoll ,miterleben zu dürfen, wie sehr sich die Auffassung über ein Werk binnen weniger Jahrzehnte wandeln kann und ein "bekanntes " Stück in völlig anderm Licht erscheinen lassen kann. Nach dieser These lernt man eigentlich erst am Besten kennen was ein Werk "unzerstörbar" macht....(?)


    Es gibt keine "unzerstörbaren Werke", schlecht genug gespielt/aufgenommen oder in der falschen Laune gehört, wird jedes Werk eine Schlappe erleben.


    Das mit der Änderung der "Auffassung über ein Werk" kann ich nicht nachvollziehen. Wenn ich Aufnahmen desselben Werkes aus verschiedenen Zeiten höre, geht es mir nicht anders, als wenn ich Aufnahmen verschiedener Werke aus verschiedenen Zeiten höre - ich merke den Wandel des Interpretationsgeschmacks und Eigenheiten bestimmter Interpreten. Den Eindruck, über ein bestimmtes Werk mehr zu erfahren, habe ich kaum.
    :hello: