Habe jetzt Kestings 3 Bände auftreiben können, fast einen Bandscheibenvorfall, und kaum noch Platz im Zimmer.

Ich kannte bisher nur die gekürzte Fassung. Nun wurde die letzten Wochen viel gelesen und viel gehört, und ein paar Gedanken drängen sich auf:
Erst mal ist Kestings Analyse in Umfang und Tiefgang ein großer Wurf, es gibt auch international gesehen nur sehr wenig vergleichbares.
Nachvollziehbare Kritik setzt natürlich einen festen, für den Leser auch fassbaren, Wertemaßstab voraus. Die Meßlatte, welche Kesting anlegt, hat GiselherHH ja schon oben vorgestellt. Die Tugenden des klassischen Belcanto haben oberste Priorität. Kesting reagiert infolgedessen äußerst allergisch auf entsprechende Stimm- oder Gesangsfehler, am konfliktreichsten erweist sich das Zusammentreffen von außermusikalischen Affekten mit den Sinnen des Kritikers. Überhaupt ist dramatische Darstellungskunst ein sensibles Thema. Während Ihn viele künstlerische Bemühungen gar nicht erst erreichen, überschreitet andererseits so manches schnell seine Reizschwelle - so z.B. der von einigen anderen Fachkollegen durchaus geschätzte Amfortas von George London, den er als „lachrymos“ kritisiert.
Das er selbst einmal beide Augen zudrückt bei Künstlern, die nach seinen eigenen Aussagen nicht ausschließlich nur mit gesanglichen Mitteln zu messen seien, bestätigt als Ausnahme eher die Regel, zumal in Fällen wie Callas und Jon Vickers Konsens darüber herrschen dürfte, dass es sich um Ausnahmekünstler handelt, wenn auch polarisierende.
Als Faustformel würde ich sagen: Je mehr der Leser geneigt ist, aufgrund der Begeisterung für das pure Stimmmaterial und die Rollengestaltung eines Künstlers eine gewisse Toleranz bei Stimm- und Gesangsfehlern zu zeigen, desto öfter wird er vermutlich zu einer deutlich anderen Einschätzung kommen.
Im Zweifelsfall schlägt Kestings Herz immer für den herausragenden Sänger. Ein gutes Beispiel ist der Osmin in der Interpretation von Kurt Moll und Gottlob Frick. Beide kommen gut weg, Moll singt besser, Frick interpretiert schärfer. Der Favorit des Autors ist hingegen klar.
Mir ist auch der von Kesting hochgelobte Hunding von Kurt Moll zu „zahm“, Timbre und Temperament lassen eine wirklich treffende Charakterzeichnung nicht zu. Dafür durchgehend gut gesungen. Ebenso wie der Holländer von Franz Crass, dem die letzte dämonische Dimension fehlt, dafür hat das wohl nie einer so schön vom Gesang her dargeboten. (Zum "Belcanto"- Holländer steht ja schon einiges im Holländer-Thread) . Aber das sind halt individuelle Gewichtungen, denn es handelt sich ja hier durchaus nicht um reine „Schönsänger“, die keine Rollendarstellung bieten. Nur geraten halt rein aus dem Belcanto entwickelte, gewichtige Darstellungs-Rollen für den einen oder anderen Geschmack schnell etwas matt in der Darstellung.
Dennoch: Kestings Wertungen sind aus seiner strengen Sicht meist alle nachvollziehbar, und der Beurteilungsmaßstab ist durchsichtig. Der denkende Leser wird also beim Abgleich mit seinen individuellen Vorlieben durchaus abwägen können, welche Schlüsse er zu ziehen hat. Lobend zu erwähnen auch, dass anders geartete Urteile von (meist angloamerikanischen) Kollegen in wichtigen Fällen immer erwähnt werden, ebenso wie Fischer ja auch Bezug auf Kesting nimmt.
Problematisch erscheinen mir aber vor allem zwei Punkte:
Wie oben bereits in einem anderen Beitrag zu lesen ist: Der Entwicklung der Gesangskunst seit Caruso steht der Kritiker ausgesprochen skeptisch gegenüber, darstellerische Intensität wird bei Ihm regelmäßig als Tarnung für vokale Schwächen zu entlarven versucht, was ich als Vereinfachung empfinde. Eine gewisse Entwicklung hin zu anderen Schwerpunktsetzungen in der Gesangskultur ist meiner Ansicht nach nicht zu leugnen, bedingt durch die Anforderungen, die Repertoire, Regietheater und nicht zuletzt das Publikum an die Sänger stellen. Nicht zuletzt deshalb wird Fischer-Dieskau bei aller nachvollziehbaren Kritik an seinem Gesang ,und insbesondere der Repertoireauswahl, von Kesting gleichsam an den Pranger gestellt:
Da war einer, der hatte immensen Erfolg beim Publikum, indem er mit einer von der Deklamation ausgehenden Gestaltung des Gesangsvortrages die Intensität erreichte, die laut Kesting ausschließlich mit Belcantotugenden zustande kommen soll. Kesting spricht tatsächlich davon, dass Fischer-Dieskau
fingiert, gleichsam das Publikum täuscht. Womit er natürlich auch indirekt dem Publikum vorwirft, dass es sich täuschen lässt.
Deshalb kommt der Sänger dann auch auf den Scheiterhaufen: Der Großinquisitor verbrennt ihn ( und schreckt dabei auch vor aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten nicht zurück), weil man zwar so gerne singen, aber bitte schön nicht Erfolg haben darf - denn es ist einfach ein Irrweg, der nicht beschritten werden dürfe. Dies ist aus meiner Sicht eine gewisse Verblendung eines Kritikers, der aus Überzeugung an einer (großartigen!) Tradition festhält, die er für unantastbar erklärt. Ich hingegen glaube nicht, dass die von Ihm bevorzugten Tugenden vollkommen dem Verfall preisgegeben sind. Vielmehr bleibt halt einiges bestehen, einiges ändert sich aber auch. Nur wie gesagt: Das alles ist sehr durchsichtig geschrieben, so dass jeder intelligente Leser sich nicht ärgern muss, sondern seine eigenen Schlüsse ziehen darf.
Störender, und da komme ich zum zweiten Punkt, ist für mich da schon der derbe Stil des „bösen“ Kesting. Offenbar ist es die harte Schule des Zeitungsfeuilletons, die es teilweise anzustreben scheint, die gescheiterte künstlerische Bemühung publikumswirksam der Lächerlichkeit preisgeben zu müssen. Das mag man je nach Gemüt oder persönlicher Anteilnahme mögen oder auch nicht. Störend wirkt allerdings, dass sich in der drastischen Schreibweise Kestings zuweilen die Nuancen, welche zwischen höchstem Lob und Veriss liegen, aufzulösen scheinen. Er steigert sich dann im Bemühen um möglichst publikumswirksames Nachtreten derartig in seine Fehleranalyse hinein, dass man sich fragt, wie die entsprechenden Künstler überhaupt auch nur je in einen Laienchor Eingang finden konnten, wo sie doch andererseits teilweise über viele Jahre international die erste Wahl für einige Rollen gewesen sind. Und man reibt sich verwundert die Augen, wenn dann gerade diese jüngst zerrissenen Künstler (freilich mit
ausgewählten Tugenden) einige Seiten später von Kesting im Vergleich lobend herangezogen werden. Für mich eine Unsitte, sie sich aus dem natürlich problematischen Spagat zwischen sachlicher Darstellung und unterhaltsamer Lektüre ergibt, die solche Kritiken schließlich auch sein sollen. Aber wie gesagt störend, weil mitunter ein durchaus vorhandenes, differenziertes Urteilen unnötig verschleiernd. (Bösartig könnte man Kesting vorwerfen, dass er seinen aufrichtigen Vortrag durch übertriebene, aufgesetzte Affekte ausschmückt

)
Dennoch: Sehr lesenswert, sehr lehrreich. Viel Fachwissen wird vermittelt und noch mehr profitiert man von den Hinweisen auf die eine oder andere interessante Aufnahme. Aber man darf halt nie vergessen :
Auch wenn die Gesangskunst sicher zu einem großen Maß objektivierbar ist - was ja gleichsam die Existenzberechtigung für so einen Wälzer darstellt –bleibt immer noch ein Rest „Zauberei“. Nur ein einfaches Beispiel: Der große Nicolai Gedda, ein absolut untadeliger, großer Gesangstechniker mit kaum zu überbietender Vielseitigkeit in einem immensen Repertoire, welches er quer durch alle Opern-Sprachen idiomatisch korrekt gesungen und dafür durch die Gesangsfachliteratur die höchsten Weihen erhalten hat, landet im Tamino-Sänger-Ranking auf Platz 68. Noch hinter singenden Grobmotorikern wie Corelli oder del Monaco, hinter problematischen Technikern wie di Stephano und Carreras. Andererseits gibt es einige Gesangsliebhaber des Forums mit großem Fachwissen, für die selbst ein Theo Adam seinen Reiz entwickelt, der so ziemlich in jedem Standardwerk der Gesangskritik in seine tremolierenden Einzelteile zerrissen wird.
Gruß
Sascha