Wie die Sinfonie Nr. 28, zu der sie in mancher Hinsicht ein komplementäres Pendant ist, entstand auch die Nr. 29 im Jahr 1765 am Hof des Fürsten Esterházy. Die Besetzung beschränkt sich auf die Streicher, zwei Oboen und zwei Hörner. Das viersätzige Werk steht in E-dur, einer Tonart, die sich unter Haydns Sinfonien nur noch ein anderesmal findet: in der zwei Jahre früheren Nr. 12. Die beiden Sinfonien weisen Ähnlichkeiten auf, die es nahelegen, dass Haydn mit E-dur einen bestimmten Tonartencharakter verbunden hat: vor allem im eher undramatischen „singenden Allegro“ am Anfang, aber auch im gewichtigen Finale.
Der Kopfsatz war ursprünglich mit Allegro ma non troppo überschrieben, was Haydn wohl für eine spätere Drucklegung erstaunlicherweise in Allegro di molto korrigiert hat. Fischer (die einzige mir vorliegende Aufnahme) orientiert sich anscheinend an der langsameren Tempovorgabe, was m.E. dem „singenden“ Charakter des Satzes auch angemessen ist. Das sich in in einer sanften Aufwärtsbewegung entwickelnde Hauptthema erscheint zunächst in den Streichern (piano und legato) und wird dann verkürzt von den Oboen übernommen. Ein Nachsatz, jetzt zunächst in den Oboen, dann in den Streichern, wendet das Thema wieder abwärts zur Tonika zurück. Diese ersten 17 Takte haben einen ausgesprochen gesanglichen Charakter. In den restlichen 33 Takten der Exposition geht es lebhafter zu, auch häufig im Forte. Ein eigentliches Seitenthema gibt es jedoch nicht – ein durch große Intervallsprünge auffälliges thematisches Gebilde muss wohl eher als eine Art Kontrapunkt zum Hauptthema gewertet werden, das sich nämlich über weite Strecken in den Celli und Bässen hält (ich hoffe, dass ich das richtig interpretiere). Wir haben es also wie in Nr. 28, wenn auch nicht so obsessiv, mit einem monothematischen Sonatensatz zu tun. Die Durchführung setzt durchweg auf Kontraste: Passagen, in denen das Hauptthema seine lyrischen Qualitäten entfaltet (und ansatzweise auch kontrapunktisch durchgespielt wird), wechseln mit energischeren Mutationen des Themas und seines „Kontrapunkts“. Die Reprise ist wie in Nr. 28 ziemlich verändert. Besonders fällt auf, dass das Hauptthema am Anfang noch einmal eine Art Durchführung erlebt, was auf spätere Sinfonien vorausweist.
Der zweite Satz, ein Andante in A-dur, nur für Streicher, ist klar dreiteilig gebaut und hat zwei Themen. Das erste, eine graziöse Melodie über schreitenden Achteln der Unterstimmen, fällt daduch auf, dass seine Phrasen in relativ schnellem Wechsel auf erste und zweite Violinen verteilt sind. Dieser Effekt kommt natürlich nur zur Geltung, wenn die Geigen antiphonisch aufgestellt sind. Das klingt nicht nur sehr reizvoll, sondern vollzieht m.E. auch ein wenig die dialogische Struktur der Melodie nach. Nichtsdestotrotz war Johann Adam Hiller, als er die Sinfonie 1770 nach ihrer Pariser Drucklegung rezensierte, sehr ungehalten und sprach von einer „lächerlichen Art“, in der der „Componist die Melodie […] unter die erste und andere Violin getheilt“ habe (zitiert nach Lessing). Ein wenig „lächerlich“ war es von Haydn vielleicht auch gemeint, denn der Melodie ist jedesmal ein vom Thema abgeleitetes, aber recht rüde im Forte rumpelndes Ritornell der Unterstimmen angefügt. Das zweite Thema ergeht sich in schier endlosen Synkopenketten über wiederum schreitenden Bässen. Im durchführungsartigen Mittelteil fällt besonders eine Passage auf, in der das Hauptthema auf recht dichte, „gelehrte“ Weise mit dem Ritornell kombiniert wird, was interessanterweise in dem galanten Umfeld wie ein barocker Einschub wirkt. In der Coda des Satzes singen beide Violingruppen noch einmal einträchtig das Hauptthema, abschließend erscheint aber wieder das nochmal ausgedehnte und diesmal von allen Streichern gespielte rüde Ritornell im Forte, womit der Satz am Schluss doch noch zur humoristischen Seite kippt.
Das Menuett zeichnet sich durch eine weitgeschwungene Melodie und eine hübsche Stauung im Mittelteil aus. Bemerkenswert ist das Trio in e-moll: Über langgehaltenen Orgelpunkten der Hörner machen die Streicher tastende rhythmische Bewegungen, bringen aber kaum ein Motiv, geschweige denn ein Thema zustande – ein Stück von suggestiver Wirkung (übrigens bei Fischer wieder ganz apart gespielt, mit – wie so häufig – solistischer Streicherbesetzung und einem Maximum an dynamischer Differenzierung).
Das Presto-Finale stellt zunächst in großen Notenwerten das Hauptthema im Unisono der Streicher vor, dessen Nachsatz aber bereits kontrapunktische Verarbeitung zeigt. Über weite Strecken ist der Satz von pulsierenden Viertelnoten durchzogen, was dem ganzen Stück eine enorme motorische Energie verleiht: fast fühlt man sich schon an das Finale der Paukenwirbel-Sinfonie Nr. 103 erinnert. In der Durchführung wird der Viertelnoten-Puls auf Achtelnoten beschleunigt und das Hauptthema dräut mehrfach recht dramatisch in den Unterstimmen. Formal muss man wohl auch hier von einem monothematischen Sonatensatz sprechen, ein chromatisch eingefärbtes, sich im Piano windendes Seitenthema ist als Variante des Hauptthemas anzusehen.
Als komplementäre Pendants habe ich die Sinfonien 28 und 29 bezeichnet, weil 29 mit ähnlichen Mitteln einen ganz anderen Weg geht als 28: beide Werke mit monothematischen Kopfsätzen, in 28 aber höchst konzentriert, in 29 lyrisch entspannt. Dafür begnügt sich 28 mit einem einfachen Kehraus als Finale, während man 29 fast schon als Finalsinfonie bezeichnen könnte. Die langsamen Sätze und die Trios weisen bei unterschiedlicher Anlage einige Gemeinsamkeiten im Tonfall auf. Beide Werke gehören m.E. jedenfalls zu den hörenswertesten Sinfonien des jungen Haydn vor der sog. Sturm-und-Drang-Phase.
Viele Grüße
Bernd