Hallo!
Als ich eben ein neues (und meiner Meinung nach ganz exzellentes, aber dazu später) Streichquartett kennengelernte, habe ich überlegt, wo ich meine Eindrücke wohl zum Besten geben sollte und musste feststellen, dass ein geeigneter Thread in diesem Forum anscheinend noch gar nicht existiert. Da es wenig sinnvoll ist, für ein Werk, das vielleicht niemand hier kennt, einen eigenen Thread zu eröffnen, und es sicherlich noch viel mehr Streichquartette gibt, die leider völlig unbekannt und zugleich sehr lohnenswert sind, habe ich mich entschlossen, hiermit selbst zur Tat zu schreiten und einen entsprechenden Thread zu eröffnen. Ich gestehe, dass ich den Titel von den unbekannten Klavierkonzerten abgekupfert habe - so etwas Ähnliches schwebt mir jedoch auch hier vor.
Mir geht es um das Streichquartett Nr.2 d-moll von Arkadij Filipenko (auch: Filippenko, aber die Schreibweise mit einem "p" scheint die adäquate zu sein). Filipenko war ein ukrainischer Komponist; er lebte von 1912 bis 1983. Zu seinem Oeuvre gehören auch fünf Streichquartette; mindestens zwei davon (unter anderem eben das zweite) sind auf Melodija-Schallplatten erschienen.
Nun bin ich im Moment damit beschäftigt, mich ein wenig stärker mit der ukrainischen Musikszene auseinanderzusetzen. Manches ist zugegebenermaßen eher provinziell, aber nichtsdestotrotz lohnt es sich, sich mit dieser Musik auseinanderzusetzen. In diesem Rahmen habe ich heute einen ganzen Stapel von Melodijas aus Moskau erhalten, unter anderem eben das Zweite Streichquartett von Filipenko, das eine ganze LP füllt. (Eine LP mit dem dritten Quartett, zusammen mit Ljatoschynskyjs zweitem Streichquartett, ist übrigens auch dabei.)
Gerade habe ich mir dieses Werk erstmals zu Gemüte geführt und bin schwer begeistert. Es ist recht umfangreich: vier ausgedehte Sätze in der klassischen Anordnung, wobei der Schlussatz ein Andante ist. Gewidmet ist das Quartett den ukrainischen Partisanen. Dazu muss ich ein Wort verlieren: man sollte nicht unbedingt davon ausgehen, dass dies nun zwangsläufig impliziert, dass dieses Werk geschrieben wurde, um den sowjetischen Behörden zu gefallen oder ähnliches. Meine Schwester war im Sommer in der Ukraine auf einer Art Konzertreise - auch heute noch werden die Partisanen dort offenbar flächendeckend als Helden verehrt. Meine Erfahrung ist es mittlerweile, dass man bei solchen Sachen lieber zwei Mal hinschauen und sich gründlich informieren sollte, bevor man alles in gewohnte Schemata einordnet.
Die Tonsprache des Quartetts ist traditionell und völlig tonal. Filipenko spart auch nicht mit Pathos, das aber meines Erachtens geschmackvoll und wenn, dann passend eingesetzt wird. Volksmelodien oder solchen nachempfundene Themen (das kann man ja nicht immer so deutlich sagen) kommen auch massiv zum Einsatz. Allerdings ist das Werk insgesamt ein sehr ernsthaftes, ausdrucksstarkes Werk, das sich durch einen spannungsvollen Aufbau und vorzüglichen Quartettsatz auszeichnet - alles andere als ein nettes Pasticcio von Volksthemen, um diesen Eindruck zu vermeiden.
Ein paar Worte zu den einzelnen Sätzen (nach einmaligem Hören kann ich allerdings noch nicht so viel sagen): der erste Satz, Allegro moderato, beginnt mit einem pendelnden Thema, das durch die einzelnen Instrumente wandert, und wird einem eher elegischen Thema gegenübergestellt. Die Durchführung bietet dann Konflikte. Der zweite Satz ist eine Art Klage, die gegen Ende des Satzes an Kraft gewinnt. Das Scherzo ist ein vorzügliches, sehr wildes Stück - hier setzt Filipenko stark folkloristische Anlehnungen ein, die einen ungestümen Presto-Satz bilden. Das Finale ist wohl der emotionale Höhepunkt des Quartetts. Es beginnt als eine Art Trauermarsch, doch im Verlauf des Satzes wird die Stimmung allmählich positiver, um kurz vor Ende in eine Art Hymnus zu münden. Das Ende, wenn die Musik wieder ruhiger wird und schließlich in sanftem D-Dur ätherisch entschwindet, ist fantastisch.
Ein sehr intensives, meisterhaftes Werk, für das Filipenko den Staatspreis der UdSSR erhielt. Gespielt wird es in meiner Einspielung vom Lyssenko-Quartett. Übrigens bin ich bei dem raren Repertoire, das ich mir aus der Sowjetunion zulege, mit der Interpretationssituation letztlich sehr zufrieden: zwar gibt es meist nur eine einzige Aufnahme des Werks, aber diese ist in der Regel exzellent. Um auf Filipenko zurückzukommen: eigentlich müsste das Stück ja mal auf CD erscheinen. Ich werde die Aufnahme jedenfalls in den nächsten Tagen mit Sicherheit digitalisieren.
Ich werde an dieser Stelle in den nächsten Monaten weitere unbekannte Streichquartette vorstellen, bin aber auch auf Anregungen anderer Mitglieder gespannt.
Viele Grüße
Holger