Die als Nr. 76 geführte Es-dur-Sinfonie gehört wie die Schwesterwerke 77 und 78 zu der Trias, die Haydn 1782 für eine geplante und nicht zustandegekommene Englandreise komponiert hat (näheres dazu hier).
Der erste Satz, ein Allegro im 3/4-Takt, beginnt mit einem Themenkomplex, der sich aus mehreren, sehr verschiedenen Bestandteilen zusammensetzt: Einem Forte-Motiv aus vier Vierteln ist eine Sechzehntelbewegung der Violinen unterlegt. Es folgt im Piano über einer durchgehenden Achtelbewegung ein von Pausen durchsetztes, abwärtsgerichtetes Motiv der ersten Violinen, das wiederum mit einer kantablen Phrase der Fagotte und zweiten Violinen kombiniert ist. Michael Walter widmet diesen ersten acht Takten eine ausgedehnte Mikroanalyse (normalerweise werden in seinem Buch in einer Passage von solcher Länge mindestens 20 komplette Sinfonien abgehandelt) und zeigt ganz gut, wieviel kompositorische Differenzierung bereits in dieser kurzen (scheinbar eher unspektakulären) Passage steckt – und vor allem, welche Leistung der Hörer hier erbringen soll/kann, weil er ständig neue Motive bzw. Themenbestandteile erkennen, unterscheiden und in ihrer Bedeutung einschätzen muss. (Wobei das im Idealfall nicht als mühselige Analyse, sondern als spielerisches Vergnügen erlebt wird, bei dem man bereits bei der Wiederholung der Exposition seine Einschätzungen überprüfen und ggf. revidieren kann.) In Takt 26 wird, auffälligerweise im Pianissimo, ein neues kantables Thema eingeführt, das allerdings nach nur neun Takten einer erneuten Beschäftigung mit dem Hauptthema Platz macht – auch hier ist der Hörer gefordert: nur eine Episode? Schon das Seitenthema? Erst als in Takt 56 dieses Thema ausführlicher, nicht mehr im pp, sondern im Piano, nicht mehr auf der Tonika, sondern auf der Dominante erscheint, ist man in der Lage, das erste Auftauchen als ein vorzeitiges Anspielen des Seitenthemas einzuschätzen. Die Durchführung beschäftigt sich zu etwa gleichen Teilen mit dem Seitenthema und Teilen des Hauptthemas, wobei Haydn hier mehr auf harmonische Ausleuchtung als auf thematische Arbeit setzt. Letztere wird dann aber (ähnlich wie im Kopfsatz von 78 ) in der Reprise „nachgereicht“, zumindest für den Hauptthemenkomplex. Die irreguläre Präfiguration des Seitenthemas entfällt – natürlich – in der Reprise. Vom Tonfall her ist dieser Satz überwiegend munter-gefällig und lässt sich zweifellos auch auf dieser Ebene genießen – wenngleich die eigentliche Würze erst durch das Spiel mit den formalen Konventionen und mit dem Hörer entsteht.
Es folgt ein Adagio ma non troppo, B-dur im 2/4-Takt. Über seine formale Klassifizierung herrscht Uneinigkeit: Ein mit der Vortragsbezeichnung cantabile versehener, leichtgewichtig-serenadenhafter Teil wird zweimal wiederholt und dabei leicht variiert (Fischer lässt hier wieder einmal ausführlich den Konzertmeister mit Violinsoli zum Zug kommen). Zwischen die Ritornelle hat Haydn zwei Moll-Teile plaziert – der erste, dynamisch meist verhalten, thematisch unkonturiert, durch „düstere“ Harmonien wirkend, steht in b-Moll; der zweite, ebenfalls athematisch, wild und fast ein bisschen lärmig in Sechzehnteln und 32teln vorüberrollend, steht in g-moll. Finscher und sinngemäß auch Lessing sprechen hier von „einer Art Rondo“; Walter sieht in dem g-moll-Teil offenbar eine Variante des b-Moll-Abschnitts und plädiert folgerichtig für das Prinzip Doppelvariation. Ich kann und will das nicht entscheiden, aber unabhängig davon scheint mir die folgende Charakterisierung des Satzes durch Walter ziemlich einleuchtend zu sein: „Die drastische Konfrontierung der melodisch einfachen, aber klanglich ‚dünnen’ Abschnitte mit klanglich ‚dicken’, aber melodisch uncharakteristischen Abschnitten entspricht wohl in exemplarischer Weise dem, was das 18. Jahrhundert unter ‚Humor’ verstand.“
Das Menuett finde ich trotz seiner Kürze recht ansprechend. Insbesondere der knappe, zuerst nach f-moll umschlagende Mittelteil trägt zum Gewicht des Satzes bei. Das Trio ist – ähnlich wie in 77 – ein besonders charmanter, sehr österreichischer Ländler.
Das Finale, Allegro ma non troppo im 4/4-Takt, scheint mit einer beschwingten, mit zahlreichen 32tel-Vorschlägen versehenen Melodie heiteren Rondo-Charakter zu evozieren, entpuppt sich aber als monothematischer Sonatensatz, dessen Durchführung recht dramatische Züge annimmt. Auf einer anderen, durchaus „komischen“ Ebene lässt sich der Satz aber auch als eine Studie über das Thema „Vorschlagnoten“ verstehen – sie behrrschen in vielfach abgewandelter Form das Thema und den ganzen Satz und verleihen ihm einen etwas skurrilen Charakter.
Alles in allem: Den Zyklus der Sinfonien 76-78 habe ich erst jetzt richtig kennen- und schätzengelernt. Nr. 76 ist wie Nr. 77 ein in allen vier Sätzen gelungenes und ausgewogenes Werk und wirkt (im Gegensatz vor allem zu 78 ) kaum durch Affektgeladenheit, sondern durch Charme, intelligente Konstruktion und (in Bezug auf die Zeitgenossen) Ansprache unterschiedlicher Rezeptionsniveaus.
Viele Grüße
Bernd