franz schubert: divertissement à la hongroise in g-moll für klavier zu 4 händen op54 d818
I. hintergründiges, objektiv
gewidmet ist es der sängerin buchwieser, deren gatte ungar war.
es weist 3 sätze in rondoform auf
andante - marcia - allegretto, wobei die gewichtung auffällt:
151 takte - 52 t - 481 t.
spieldauer: gute 30 min.
wann d818 entstanden ist, weiß man nicht, da das autograph fehlt.
sicher vor dem jänner 1826, denn von diesem datum (schuberts geburtstag!) gibt es eine honorarnote des verlages artaria.
o.e.d. nimmt als entstehungsjahr 1824 an, neue forschungen verschieben das um ein jahr und setzen es in beziehung zu einem bild des freundes moritz schwind. die geschichte vom ungarischen küchenmädel, das das liedel singt, ist also nicht auf granit gegründet...
der entstehungsort ist auch nicht klar. man nimmt gemein- und leichthin zseliz an.
zseliz (=schelis für die, die nicht alle threads hier lesen) liegt rund 150 km luftlinie östlich von wien und ist ein kleines schloss (eigentlich eine größere villa) in der slowakei, welche bekanntlich bis 1919 ein teil der ungarischen habsburgerreichshälfte war (bratislava/pressburg war als pozsony ja lange die alte ungarische hauptstadt ).
dort war schubert 2 mal, 1818 und 1824, für mehrere monate als privatlehrer für die töchter marie und caroline des grafen johann esterházy (nicht direkt mit den haydnschen fürstosterhasen verwandt) eingestellt.
warum nun soll d818 dort entstanden sein?
wegen d817. das ist die ungarische melodie in h-moll für 2händiges klavier. und von der ist das autograph erhalten und mit "zseliz 2.9.1824” beschriftet (und mit ”ungerische melodie” übrigens...). dieses stück ist aber erst 1928 veröffentlicht worden (von o.e.d.), also genau 1 jahrhundert nach schuberts tod. dieses ca. 100taktige klavierstück und der 3. satz von d818 (in g-moll) haben die gleiche motivik gemeinsam, die in volksmelodien wurzelt, welche schubert in zseliz aufgenommen hatte.
zeugnisse, das werk betreffend, gibt es quasi aus 1. hand von anselm hüttenbrenner und -wesentlich konkreter- dem sänger karl schönstein, welcher 1824 auch auf zseliz weilte. ein zeitgenössischer brief von johann jenger bezeugt, dass das stück im freundeskreis gespielt wurde.
(ein bekanntes bild von teltscher zeigt übrigens anselm hüttenbrenner und josef jenger zusammen mit dem von diesem beharrlich als “freund schwammerl” bezeichneten weltkulturerbeurheber:
copyright expired)
II. untergründiges, subjektiv
wie ich schon mehrmals in diesem forum bemerkt habe, ist das werk ein für mich zentrales des zentralen komponisten, in einer reihe mit d944, d956, d960. seit ich es vor mehr als 30 jahren im radio gehört habe, begleitet es mich durch mein kleines leben und gibt mir ahnung von der größe der welt.
für mich gibt es da einen kurzschluss, also ein kurzschließen, mit einem anderen, ebenso ewigen kunstwerk: ingeborg bachmanns riesengedicht “große landschaft bei wien” aus der “gestundete[n] zeit”.
„Geister der Ebene, Geister des wachsenden Stroms,
zu unsrem Ende gerufen, haltet nicht vor der Stadt!
Nehmt auch mit euch, was vom Wein überhing
Auf brüchigen Rändern, und führt an ein Rinnsal,
wen nach Ausweg verlangt, und öffnet die Steppen!“
[...]
11 strophen und 1 satz mittendrin: “asiens atem ist jenseits”
ich zitiere nur wenig daraus, das ganze ist hier zu lesen, es ist dies aber nichts zum überfliegen, sondern: ausdrucken-falten-mit sich nehmen-bei passender gelegenheit zu sich nehmen.
und “trunkenes limesgefühl” fällt mich an, wenn ich es mir genehmige, genauso, wenn ich den schubert höre.
der 3. satz ist der schönste ritt der musikgeschichte, direkt in die ungarische steppe hinein.
{biographische erklärungsanmerkung:
ich bin ein gebürtiger gebirgler, und wie ich als jungerwachsener zum ersten mal die weiten wiener sommerhimmel gesehen habe, da war’s um mich geschehen...
ein grund, der es mich in dieser eigentlich kleingeistigen und mieselsüchtigen stadt aushalten lässt, ist der grandiose topos des aufeinandertreffens von alpinem (wienerwald als ostende der alpen im westen) und kontinentalem (marchfeld als westlichster ausläufer der ungarischen tiefebene im osten) charakter. sowohl in geologischer, als auch in zoologisch/botanischer und meteorologischer hinsicht. so gibt es im stadtgebiet von wien 2 klimazonen mit langjährig signifikanten unterschieden, was niederschlagsmengen, sonnenscheindauer, isothermen, frühlingsbeginn, usw. betrifft.}
III. wenn ein ganz großer sich vor dem größeren verneigt...
der titelteil “divertissement”, welcher leichte unterhaltung, zerstreuung nahelegt, ist eigentlich irreführend. es ist ein ernstes, gewichtiges werk.
liszt ferenc, der grandiose schubertprotagonist und -apologet, nennt seine bearbeitungen denn auch “mélodies hongroises”, bzw. “marche hongroise”.
es gibt deren einige: einmal 2 versionen des gesamtwerkes (alle 3 sätze) mit den searle katalognummern s425 und s425a, wobei die erste ca. 50 minuten dauert und die zweite als “leichtere art” nicht einmal halb so lang. (liszts sämtliche klavierbearbeitungen von schubertkompositionen beanspruchen ungefähr 11 stunden - für die numeriker unter uns).
sodann 5 bearbeitungsversionen des 2. satzes, s4252ii - s4252vi, d.h. die marche hongroise gibt es in insgesamt 7 fassungen von 1838 bis 1879 (und orchestriert hat er sie auch noch! die orchesterfassung finde ich übrigens ziemlich... naja, ich will nicht lullist spielen).
IV. zu den aufnahmen
ich besitze nur 4.
nicht zu meiner schande, sondern weil ich nur solche zu mir nehme, die mir dieses gefühl von weite vermitteln, des sich verlierens im osten.
die mich mitreißendste [sic] ist leider nie erschienen, bzw. könnte sie jetzt in dem 50€-badura-skoda-ziegel dabei sein.
ich hab nur einen ärmlichen radiomitschnitt aus den 70ern. er und jörg demus spielen auf alten klavieren, und es ist aaah...
eschenbach/frantz gefallen mir auch seit jahrzehnten unverändert. die alte abbey road aufnahme ist ein dauerseller und wird jetzt von brilliant gut und billig (4 cds!) verwurstet.
uriarte/mrongovius (namen haben die alle! crommelynck, groethuysen,...)
spielen den 3. satz sehr schnell, eigentlich nicht meinen ansprüchen entsprechend. trotzdem habe ich mich für diese aufnahme entschieden, damals, vor jahren, im direkten vergleich mit den andern (komischen namen). ziemlich sicher wegen des atmosphäredichten 1. satzes. heute könnte mein urteil vielleicht anders ausfallen...
die allseits bekannten und beliebten staier/lubimov haben mit ihren effektvoll gezogenen zügen schon den guten, alten maik beschäftigt (-nein, der war damals ja noch ganz jung). ich mag das auch sehr, es fehlt mir jedoch der melancholische zug, der sich bei hungaroaffinen spätestens nach der ersten flasche leányka einstellt (dem nach der dritten abfahrenden mulatsagexpress, der des öfteren mit dem zerhacken des klavieres endet -nicht zu verwechseln mit dem von herrn schubert angeprangerten “vermaledeyten hacken” auf dem klaviere-, entsprechen die beiden zumindest klangbildlich...).
emotionell tendiere ich eigentlich zur großen lisztschen bearbeitung, quasi magyar². da bereitet mir leslie howard manch glückliche stunde.
und das ende? es verläuft sich...
aus schubert-town
dieser beitrag ist walter tydeck gewidmet, welcher es bei seinen wienspaziergängen versteht, fenster aufzumachen.
(fehlerhinweise werden gern entgegengenommen)