Alle reden über S. Prokofieff: 1. Violinkonzert

  • Sergej Prokofieff (1891-1953)
    Violinkonzert Nr.1, op.19 (1915-17)


    S. Richter:“(…) Aber das Werk, das so war, dass man es lieben musste und damit auch den Komponisten, war für mich das erste Violinkonzert. Später lernte ich noch viele Menschen kennen, bei denen die Liebe zu Prokofieff gleichfalls mit diesem Werk begann. Mir scheint es unmöglich, dass jemand, der Musik liebt, davon nicht ergriffen sein sollte. Es macht einen Eindruck, als wenn im Frühling zum ersten Mal das Fenster geöffnet wird und zum ersten Mal von draußen unruhige Laute hereindringen. (….) Von diesem Augenblick an nahm ich jedes Werk von Prokofieff, das ich kennenlernte, mit staunender Verwunderung und sogar mit Neid auf.“


    Es ist mir heute ein besonderes Vergnügen, mein Lieblings-Violinkonzert vorzustellen, begleitet mich diese Gattung doch schon seit Beginn meines „Klassiklebens“. Und doch war ich gerade mit diesem Violinkonzert ein Spätstarter, vor allem deshalb, weil es damals von Jascha Heifetz keine Aufnahme gab. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass dieses Violinkonzert ein bisschen als „Leichtgewicht“ im Violinrepertoire betrachtet wird. Dies ist nicht auf das Spieltechnische bezogen, sondern eher auf den allgemein lyrischen Gestus dieses Werks.


    Dawid Oistrach schreibt hierzu über die Schwierigkeiten im Vortrag der Musik Prokofieffs:
    „Nichts darf darin übersehen werden, kein einziges melodisches Detail, keine einzige Modulation. Sie verlangt feinsten, bis ins letzte gehenden Ausdruck, genaueste, aber nicht aufdringliche, aufmerksame und beseelte Ausführung jeder einzelnen Intonation, wie in einem vollendet deklamierten Gesang. Das wesentliche dabei ist, dass sie nicht die geringste künstlerische Eigenwilligkeit zulässt.“


    Prokofieff hat dieses Werk (damals als „Concertino“ geplant) im Jahr 1915 begonnen, aber schon kurz nach dem Eröffnungsthema der Violine abgebrochen um an seiner Oper „Der Spieler“ zu arbeiten.
    Prokofieff: “Ich komponierte sie (gemeint ist die „Symphonie classique“) während meiner Spaziergänge auf den Feldern. Parallel dazu instrumentierte ich das Violinkonzert op.19, dessen Thema Anfang 1915 entstanden war. Ich habe es später oft bedauert, dass mich andere Arbeiten daran hinderten, zu dem „Träumerischen Anfang des Violinconcertinos“ zurückzukehren. Allmählich wurde die Musik zum Sommer 1917 fertig, das Concertino hatte sich zu einem Konzert ausgewachsen, und die Partitur wurde abgeschlossen“.


    Fertig wurde es also erst 1917, im Jahr der Oktoberrevolution und dem Jahr vor Prokofieffs Weggang aus Russland in die USA. Zeitgleich entstanden Werke wie die „Symphonie classique“, die 3. und 4. Klaviersonate und die „Visions fugitives“. Aufgrund der chaotischen politischen Umstände war die geplante Uraufführung durch den polnischen Geiger und Professor an der St. Petersburger Hochschule, Paul Kochanski, nicht zustande gekommen. Kochanski war es, der Prokofieff zu dieser Komposition ermuntert und bei der Erstellung des Violinparts beraten hat. Interessant ist ferner, dass die „Symphonie classique“ und das 1. Violinkonzert die ersten Kompositionen Prokofieffs sind, die dieser nicht „am Klavier“ komponiert hat.


    Die Uraufführung erfolgte am 23. Oktober in Paris. Solist war der Konzertmeister des Pariser Opernorchesters, Dirigent Serge Koussevitzky. War es der eher mittelmäßigen Interpretation oder der mangelnden Radikalität des Werkes geschuldet, der Erfolg stellte sich erst in den Folgejahren ein, vor allem durch die Interpretation von Joseph Szigeti.
    Prokofieff: “Im Oktober 1923 siedelte ich schließlich nach Paris über, was mit der ersten Aufführung des Violinkonzertes (18. (sic!) Oktober, Solist Darrieux, Dirigent Koussewitzki) zusammenfiel. Huberman und einige andere Violinvirtuosen hatten es abgelehnt, „diese Musik“ einzustudieren, weswegen die Solopartie dem Konzertmeister des Orchesters übertragen werden musste, der sich durchaus nicht schlecht mit der Aufgabe abfand. Die Kritik war zwiespältig, einer (Anmerkung: Georges Auric) bemerkte giftig „Mendelssohnismen“. Die russische Uraufführung passierte fast zeitgleich: Nathan Milstein wurde dabei am Klavier von Vladimir Horowitz begleitet!


    Prokofieff beschreibt in seiner Autobiographie „fünf Hauptrichtungen“ in seinem Kompositionsstil und gibt einzelne Beispiele: die klassische Richtung (Symphonie classique, Sinfonietta), die Richtung des „Neuerers“ (Skythische Suite, Sarkasmen, 2. Sinfonie, Quintett, „Der Spieler“), die motorische Richtung (Toccata, Toccata im 5. Klavierkonzert, Scherzo des 2. Klavierkonzerts), die lyrische Richtung und schließlich die groteske (laut P. besser „scherzhafte“) Richtung. Zu seiner lyrischen Richtung zählt er auch sein 1. Violinkonzert.


    Zu den Sätzen:
    1. Andantino – Andante assai
    2. Scherzo: Vivacissimo
    3. Moderato – Allegro moderato – Moderato – Più tranquillo
    Auffallend ist die Umkehr der gängigen Satzfolge: „schnell- langsam- schnell“. Der erste Satz ist eine Art „russisches Märchen“ („sognando“, „narrante“). Der zweite Satz ist ein virtuoses Scherzo, der dritte eine „Groteske“, welcher mit dem Ausgangsthema des ersten Satzes zu Ende geht.
    Ich werde versuchen, in den nächsten Tagen nochmals im Genauen auf die einzelnen Sätze einzugehen, möchte aber meinen Eingangsbeitrag nicht überfrachten.
    Vielmehr würde mich interessieren:


    1. Ganz banal: Gefällt Euch dieses Konzert, und wieso (nicht)?
    2. Steht es für Euch in der ersten Reihe der Violinkonzerte?
    3. Ist es für Euch ein „typischer“ Prokofieff, oder eher ein Ravel oder Szymanowski?
    4. Welche Aufnahmen besitzt ihr und welche gefällt Euch (nicht)?


    Quellen:
    N.P. Sawkina (1993): Sergej Sergejewitsch Prokofjew
    Sergej Prokofjew (1961): Dokumente- Briefe- Erinnerungen
    Wikipedia
    diverse Programmhefte im internet


    Noten (leider nicht die Partutur): "http://imslp.org/wiki/Violin_Concerto_No.1%2C_Op.19_%28Prokofiev%2C_Sergei%29"
    PS: Wer noch keine Aufnahme hat, kann auf youtube fündig werden,
    z.B.: "http://www.youtube.com/watch?v=xE5tw7rYvNE"

  • Hallo, Flotan,


    nachdem Du mir auf meinen kurzen Beitrag im Einführungsthread freundlicherweise gleich mit vier mir unbekannten youtube-Dateien geantwortet hast, will ich hier den Anfang machen.


    Ich schätze das erste Violinkonzert Prokofieffs seit Jahrzehnten. Es ist formal originell aufgrund der Abfolge langsam - schnell - langsam, aber auch aufgrund der duftig-verschleierten Anfangs- wie Schlusspassagen. Im Mittelsatz steht dann der Komponist der Groteske und Parodie. Der Solosatz ist nicht im spätromantisch-konventionellen Sinne virtuos, sondern auf eine gänzlich unverwechselbare Weise. Nirgendwo, so scheint mir, hat das Konzert ein erkennbares Vorbild gehabt. Nirgendwo aber auch klingt dieses Neuartige nachdrücklich, nirgendwo ist ein Zeigefinger zu spüren, stets herrschen Leichtigkeit und Witz vor.


    Gewiss ist das Werk typischer Prokofieff. Dies liegt an den von Dir und mir schon genannten Elementen, das liegt an der sprunghaft-prägnanten Melodik, aber auch an vielen harmonischen und rhythmischen Eigenarten, die ein Vollprofi wie Edwin Baumgartner sicher niveauvoller darstellen kann. Szymanowskis Violinkonzert (das erste, das zweite kenne ich nicht) zeigt Berührungspunkte, aber es ist pathetischer, gleißender, schwerblütiger gehalten. An Ravel hätte ich jetzt, offen gestanden, ohnehin nicht gedacht.


    Früher hatte ich mehrere Rundfunkmitschnitte, die ich jetzt kaum mehr höre und auch nicht alle spontan finde. Wenn sich die Diskussion in diese Richtung entwickeln sollte, kann ich ja noch nachschauen.


    Meine aktuelle Lieblings-CD ist die folgende:



    Ich habe die Ausgabe von elatus mit anderem Cover, und vierzig Euro habe ich auch nicht dafür bezahlt. :no:


    PS an Dich als Threadbeherrscher: Empfindest Du den dritten Satz als die eigentliche Groteske, wie Du schreibst? Für mich ist hier der Tonfall wieder von Anfang an lyrisch, freilich resignativer.


    Besten Gruß, Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Ich habe das Konzert in den letzten zwei Tagen ein halbes dutzendmal oder so gehört. Nicht immer mit voller Konzentration. Aber anscheinend zum ersten Male halbwegs "richtig". Ich hatte seit einigen (ca. 3) Jahren die Aufnahme mit Oistrakh/Matacic (1954 EMI) und auch die bei Brilliant (ursprgl EMI) mit F.P. Zimmermann. Ich muß die Konzerte auch ein paarmal gehört haben. Irgendwie war aber überhaupt nichts hängengeblieben, vom ersten noch weniger als vom zweiten Konzert; die Stücke hatten mich auch völlig kalt gelassen, während ich die Sonaten (mit Klavier) gleich sehr mochte und vermutlich auch wiedererkennen würde.
    Nachdem es mir jetzt beim Hören zunächst ähnlich erging (das Scherzo blieb haften, die beiden anderen Sätze, besonders der erste, verflüchtigten sich irgendwie), aber steter Tropfen irgendwann den Stein gehöhlt hat, wage ich mal eine Vermutung, warum das so gewesen sein könnte.


    - Oistrakhs Aufnahme mag ein Klassiker sein, sie hat für den Anfänger einen gravierenden Nachteil: zwar guter Klang (obgleich Mono), aber, vermutlich den damaligen Möglichkeiten und Gepflogenheiten gemäß ein völlig dominant aufgenommener Solist mit Orchester irgendwo im Hintergrund.


    - es ist wirklich ein völlig ungewöhnliches Stück, aber eben nicht offensichtlich schroff und kühn (wie das 2. Klavierkonzert oder die Skythische Suite), sondern, obwohl es ja an virtuosen Passagen nicht mangelt, irgendwie "unkonzertmäßig", mit dem sehr leisen, lyrischen Beginn und Schluß. Dazu kommt, daß im Kopfsatz das Material erst so langsam Gestalt zu gewinnen scheint, überhaupt die Ecksätze nicht so leicht zu übersehen sind.


    Nicht nur beim ersten Hören wirkte das auf mich alles sehr episodisch und ich habe immer noch Schwierigkeiten größere Zusammenhänge zu erkennen. Inzwischen würde ich zwar die meisten Abschnitte wieder erkennen, aber es ist für mich größtenteils noch immer eine Reihe von "schönen Stellen". Ich finde es ziemlich interessant und klanglich teils wirklich magisch, aber "gepackt" hat es mich nicht so recht. Es wirkt auf mich immer noch ziemlich kühl und distanziert.
    Obwohl das Orchester natürlich auf der neueren Aufnahme präsenter ist, fehlt mir vielleicht noch die ideale Einspielung, mit russischen Künstlern, etwas mehr Verve, aber besserer Integration des Solisten. Oder einfach noch ein paar Mal konzentrierteres Hören (weil die rechte Zündung ausbleibt, ist es auch nicht ganz leicht, die Konzentration aufrecht zu erhalten...)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • In Kürze zunächst das:


    Zitat

    Original von flotan
    1. Ganz banal: Gefällt Euch dieses Konzert, und wieso (nicht)?


    Seit längerer Zeit habe ich dieses Konzert nicht mehr gehört, und dieser Thread hat mich veranlasst, die CD wieder aus dem Regal hervorzukramen. Das Konzert gefällt mir recht gut wegen seines hellen und überwiegend lyrischen Charakters. Sehr angenehm zu hören.


    Zitat


    2. Steht es für Euch in der ersten Reihe der Violinkonzerte?


    Obwohl es eine wunderschöne und hervorragende Komposition ist, bleibt die erste Reihe bei mir derzeit noch den "gewichtigeren" Gattungsbeiträgen von Beethoven, Brahms, Bartok, Schostakowitsch etc. vorbehalten. Vielleicht ändert sich das noch im Verlauf dieser Diskussion.


    Zitat


    3. Ist es für Euch ein „typischer“ Prokofieff, oder eher ein Ravel oder Szymanowski?


    In diesem Punkt schließe ich mich Wolfgang an - auch für mich ist es eine typische Prokofieff-Komposition. Dem zweiten Satz kann man gut anhören, dass das Konzert zweitgleich mit der "Symphonie classique" (4. Satz!) entstand.
    Die Szymanowski-Konzerte kenne ich leider nicht.


    Zitat


    4. Welche Aufnahmen besitzt ihr und welche gefällt Euch (nicht)?


    Ich habe diese Aufnahme mit Anne Akiko Meyers aus dem Jahr 1995:



    Meyers spielt sehr ruhig und entspannt. Die virtuosen Passagen wirken auf mich nicht grotesk überzeichnet (ich kann mir vorstellen, dass es hier sehr große Spielräume für die Interpreten gibt). Die traumhaften Klangeffekte jeweils am Ende des ersten und dritten Satzes werden genüsslich ausgespielt. Eine schöne Aufnahme mit sehr gutem Klang. Vergleichseinspielungen kenne ich leider nicht.


    Viele Grüße
    Frank

  • Hallo flotan,


    ich kann Johannes R.´s Worte sehr gut nachvollziehen.
    Ich habe zuerst (damals noch auf LP) das VC Nr.2 in der Aufnahme mit Heifetz (RCA) kennengelernt.
    Da ich von diesem Werk (und dem Sibelius-Konzert auf der LP) total begeistert war, wollte ich das 20Jahre zuvor geschriebene VC Nr. 1 natürlich auch kennenlernen.
    Prompt holte ich mir auch noch die absolut falsche und total uninspirierte Aufnahme mit Ruggiero Ricci, Luxemburg SO, Froment von beiden VC. Das VC Nr.1 konnte mich nach meinem Erfolg vom VC Nr.2 dann gar nicht begeistern und die Ricci-Aufnahme des Nr.2 war auch schwach und orchestral total uninteressant.
    **** Erst später auf CD habe ich gefallen an dem VC Nr. 1 gefunden, weil die Aufnahme von ganz anderem Kaliber war:
    Kyung Wha Chung, LSO, Previn (DECCA, 1973, ADD)


    Die Lyrik ist im ersten Satz durch den Eingangssatz Andantino gegeben, der "nett" anfängt. Sehr schön finde ich den 2.Satz Scherzo - Vivacissimo und auch den 3. Satz Moderato, der schon hier 1914 den typischen Prokofieff durchscheinen läßt.


    **** Eine noch bessere Aufnahme, als Kyung Wha Chung/Previn ist auf der Virin-Doppel-CD mit den VC von Schostakowitsch und Prokofieff zu finden:
    Sikovetky, LSO, Colin Davis (VIRGIN, 1998, DDD)


    Hier merkt man im Vergleich, das Kyung Wha Chung technisch einwandfrei spielt, aber IMO nicht so recht in Lage ist sich sich auch emotional richtig in die Werke einzufühlen (das fiel mit schon sehr intensiv bei den Bartok VC auf).
    Sitkovetzky ist hier der brillantere, bei dem man auch nicht den Eindruck des technischen Runterspulens hat.
    Die orchestrale Begleitung ist allerdings bei Previn und Colin Davis (der auf der Doppel-CD nicht die Schostakowitsch-Konzerte dirigiert (vielleicht auch besser so)), voll angemessen und ausgewogen.
    Etwas grotesk überzeichnetes, wie Frank P. schreibt kann ich in meinen Aufnahmen mit Kyung und Sitkovetky nicht feststellen.


    :yes: Ich habe die Sitkovetzky-VIRGIN-Aufnahme 22:09 gerade nochmal gehört und kann nur sagen - Klasse !



    In der Zwischenzeit hatte ich auch die Brillant-Aufnahme (in der BOX) mit Oistrach. Sicher ein großer Interpretationsschatz - aber die sehr historische Mono-Klangtechnik läßt einen dann viel viel lieber zu Sitkovetzky greifen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Ich besitze habe dieses Violinkonzert zwar schon länger, weil ich es früher einmal - wahrscheinlich günstig während einer meiner fast immer mit einem Kaufrausch verbundenen Reisen - erstanden habe, jedoch habe ich es damals nur flüchtig bis gar nicht gehört, denn Prokofieff hat es bei mir immer etwas schwerer, Gehör zu finden, obwohl er mir beim Anhören meist besser gefällt, als ich erwartete. Deshalb habe ich mich über diese Auswahl der "Alle reden..." - Aktion gefreut, bot sie mir doch einen Anlass, das Konzert jetzt erstmals mehrfach und mit besonderer Aufmerksamkeit zu hören. Das Ergebnis gefiel mir wieder besser als erwartet, aber ich bin noch weit davon entfernt, mich dazu sinnvoll äußern zu können. Deshalb mache ich es wie Frank und beantworte erst einmal Flotans Fragen:


    Zitat

    Original von flotan
    1. Ganz banal: Gefällt Euch dieses Konzert, und wieso (nicht)?


    Wie gesagt: mich hat überrascht, dass es mir spontan weitaus besser gefiel als ich erwartete. Vor allem der sehr schöne, fast melancholische Einstieg hat mir enorm gefallen. Auch der motorische zweite Satz sagt mir zu, obwohl mich in diesem Bereich die Amerikaner meist leichter ansprechen als die Russen. Natürlich ist das total subjektiv, unbegründet und mehr als pauschal, aber ich stelle erst einmal meine Spontanreaktion fest. Später vielleicht noch mehr dazu. Den für mich zwischen Mysteriösem und Ironischem pendelnden dritten Satz mit seinem unschlüssigen, aber dennoch stimmigen Abschluss mag ich sogar sehr, und allein den besser kennen gelernt zu haben ist ein definitiver Gewinn, den ich der Aktion schulde.


    Zitat


    2. Steht es für Euch in der ersten Reihe der Violinkonzerte?


    Könnte eines Tages sogar sein. Auch der Barber hat etwas gebraucht, bis er mir ans Herz gewachsen ist, und zu dessen Wertschätzung könnte das Werk für mich durchaus aufschließen. Trotzdem stehen für mich in der allerersten Reihe nach wie vor die ganz großen Klassiker zwischen Bach und Brahms, und die werden es wohl auch bleiben.


    Zitat


    3. Ist es für Euch ein „typischer“ Prokofieff, oder eher ein Ravel oder Szymanowski?


    Wie schon angedeutet, kenne ich Prokofieff beileibe nicht gut genug um mich dazu äußern zu können. Sagen wir also: wenn mich nach dem Blindhören z. B. im Radio jemand informiert hätte, dass es sich um Prokofieffs erstes Violinkonzert handelt, wäre ich in keiner Weise überrascht gewesen. Zwar hätte ich nicht gleich an die Symphonie Classique gedacht, aber die Verwandtschaft leuchtete mir ein, sobald ich darauf gestoßen wurde. Vielleicht hätte ich aber Prokofieff sogar doch blind geraten, wäre es gefragt gewesen. Das wäre zwar mehr dem Bauchgefühl als dem Wissen entsprungen, ist aber vielleicht ein Hinweis darauf, dass Prokofieffs typische Klangsprache, soweit sie für mich überhaupt erkennbar ist, sehr wohl aus dem Werk heraus klingt.


    Zitat


    4. Welche Aufnahmen besitzt ihr und welche gefällt Euch (nicht)?


    Meine bislang einzige cd ist die hier wohl auch aus Preisgründen verbreitetste mit Frank Peter Zimmermann unter Lorin Maazel in einer älteren EMI-Verpackung aus der "Nipper"-Collection:



    Ich kann daher nicht beurteilen, wie sie im Vergleich besteht. Sehr angetan war ich aber trotz der begrenzten Tonqualität von der Darbietung Hilary Hahns (die ich aber ohnehin enorm schätze) auf YouTube. Wenn sie das Stück mal offiziell einspielt, würde ich mir die Aufnahme bestimmt so bald wie möglich zulegen.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Hallo zusammen,


    vielen Dank, flotan, für die historisch-biografische Einführung in das Werk.
    Folgende Aufnahmen habe ich gehört:
    und


    Dabei favorisiere ich die Aufnahme mit Anne-Sophie Mutter, weil sie einen sehr vollen Klang "zaubert", aber auch die ironisch-mäkeligen Teile sehr glaubhaft hinbekommt.
    Mir macht die genauere Auseinandersetzung mit diesem Werk viel Spaß und ich habe es doch schon sehr in mein Hörerherz geschlossen.


    Warum?
    Wie ich schon an der Symphonie classique wahrnehmen konnte, ist Prokovieff der humoristische Erzähler und Persiflierer unter den Komponisten. Und gerade in dem Violinkonzert spricht die Geige geradezu. Nun werden die Fachleute sagen, dass das die Instrumente immer tun, aber bei Prokovieff sind diese Mittel der Sprache besonders ähnlich:



    Ein Beispiel:
    Nachdem sie eine kleine ironische Einlage in Form eines Hummelfluges bei 4‘ hat, „erzählt“die Geige bei ca. 5‘ im 1. Satz, sie scheint zu spotten, der Effekt mag durch die kurzen Striche erzielt sein. Das kann ich nicht so gut ausdrücken, da ich keine Fachfrau bin. Weiter im geichen Satz fällt die Sologeige nach häufigen schnellen Doppelstrichen, dann Rundbewegungen, Verzögerungen, cantilenen Passagen dann geradezu nörgelig ab: Das kommt sprachlichen Mustern näher als ich es sonst höre!
    Mich erinnert daher das Konzert weniger an die von flotan vorgestellten Werke sondern eher an Berlioz verkapptes Bratschenkonzert „Harold en Italie“, wo die Bratsche ebenfalls sehr kommentierend, ironisierend erscheint.
    Zu den anderen Sätzen vielleicht später. Verzeiht mir, wenn meine Terminologie nicht exakt oder sogar falsch ist, ich lasse mich gerne belehren!


    Grüße
    tukan

  • Zitat

    Original von tukan


    Mich erinnert daher das Konzert weniger an die von flotan vorgestellten Werke sondern eher an Berlioz verkapptes Bratschenkonzert „Harold en Italie“, wo die Bratsche ebenfalls sehr kommentierend, ironisierend erscheint.
    Zu den anderen Sätzen vielleicht später. Verzeiht mir, wenn meine Terminologie nicht exakt oder sogar falsch ist, ich lasse mich gerne belehren!


    Grüße
    tukan


    Liebe tukan,


    das ist eine interessante Beobachtung, die ich spontan nachvollziehen kann. Ich werde mir das Werk daraufhin noch einmal anhören.


    Allerdings ist HAROLD EN ITALIE kein "verkapptes" Violakonzert, sondern wurde seinerzeit von Paganini ganz offiziell als solches in Auftrag gegeben. Nur hat er es dann zwar bezahlt, aber nie gespielt, weil ihm die Partie nicht virtuos genug war. Prokoffiefs Konzert hätte er aus ähnlichen Gründen allerdings wohl auch nicht angerührt. Ein Schlusssatz ohne brillante Demonstration des Könnens des Virtuosen? :no:


    :hello: Jacques Rideamus

  • Zitat

    Original von flotan
    1. Ganz banal: Gefällt Euch dieses Konzert, und wieso (nicht)?


    Mein Vater hat sich Ende der 70er Jahre die (oben von Wolfgang/Teleton erwähnte) Chung/Previn-LP mit den beiden Prokofieff-Violinkonzerten gekauft und oft gehört. Seitdem liebe ich dieses Konzert sehr: die ausschwingende, "unendliche" Melodie zu Beginn ist wirklich hinreißend, ebenso ihre im Klangzauber nochmal gesteigerten Wiederaufnahmen am Ende des ersten und des dritten Satzes. Tukan trifft es m.E. sehr genau, wenn sie vom Sprachähnlichen dieser Musik spricht - nicht nur in dem sognando des Beginns, sondern auch im Mittelteil mit den recitando-Passagen der Violine (und an manchen anderen Stellen). Das Scherzo ist ein wahres Feuerwerk, für mich eines der bewundernswertesten Beispiele für entfesselte und trotzdem verdichtete Virtuosität. Und das Schwanken zwischen Groteske, (z.T. leicht karikierten) Lyrismen und dem schließlichen Hinübergleiten in den sognando-Tonfall des Anfangs im dritten Satz mag ich ebenfalls sehr. Überhaupt habe ich durchgehend den Eindruck eines doppelten Bodens, der Tonfall kann sehr schnell, fast überfallartig wechseln.



    Zitat

    2. Steht es für Euch in der ersten Reihe der Violinkonzerte?


    Für mich ja. Ich muss dazusagen, dass ich kein sonderlicher Liebhaber der Gattung Violinkonzert bin, vor allem nicht seiner romantischen und spätromantischen Vertreter (also Mendelssohn, Bruch, Brahms, Tschaikowsky, Sibelius etc.). Zu ungleich scheint mir hier oft die Verteilung der Mittel zwischen Orchesterapparat und Violine, anders als bei der Gattung Klavierkonzert. Bei keinem Violinkonzert, das ich kenne, ist das Verhältnis von Violine und Orchester so glücklich gelöst wie in unserem Werk: es kommt fast nie zu einer Gegenüberstellung von Orchestertutti und Geige (obwohl Prokofieff ein "normal" besetztes Orchester vorschreibt), sondern es wird immer mit Klangmischungen gespielt. Schon ganz zu Anfang die diversen Holzbläserstimmen, die sich mit der Geigenstimme verschlingen! Bewundernswert die Kunst, das Orchester "auszudünnen" und ungewöhnliche Kombinationen zu entdecken (z.B. Violine und Pauke oder der plötzliche folkloristische Ausbruch im ersten Satz mit der Holzbläsermelodie und den Pizzicati der Geige). Auch der Einsatz von Tuba und Fagotten...


    Außerdem ist auch die schon erwähnte Umkehrung der Tempi (langsame Außensätze, schneller Mittelsatz) interessant.



    Zitat

    3. Ist es für Euch ein „typischer“ Prokofieff, oder eher ein Ravel oder Szymanowski?


    Ein "typischer Prokofieff" ist m.E. fast so etwas wie ein "typischer Strawinsky" - also nicht existent. Prokofieff hat doch sehr viele Seiten und einige davon kommen hier schon zum Tragen: das Lyrische, das Virtuose, das Ironische, das Klangzauberische. Das Chamäleonhafte zeigt sich ja auch innerhalb des Konzerts und seiner einzelnen Sätze: am stärksten im dritten Satz, dessen anfangs etwas täppisches Thema sich irgendwann zu einem großen pathetischen Höhepunkt aufschwingen will, diesen aber nie erreicht, weil plötzlich in die lyrische Richtung abgebogen wird. Oder im Mittelteil des ersten Satzes, der fast nur durch Verkleinerung der Notenwerte "beschleunigt" und dabei (bis hin zu der erwähnten folkloristischen Passage) ständig den Charakter wechselt.



    Zitat

    4. Welche Aufnahmen besitzt ihr und welche gefällt Euch (nicht)?


    Tja, fast schon klischeehaft, aber ich bin der ersten Liebe treu geblieben:




    Kyung Wha Chung ist hier wirklich gut und Previn (den ich sonst nicht so doll finde) scheinen diese Konzerte eine Herzensangelegenheit zu sein - er hat sie ja auch noch ein zweitesmal aufgenommen, mit Gil Shaham.



    Außerdem schätze ich auch sehr die schon erwähnte, außerordentlich pointierte Zimmermann/Maazel-Einspielung.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Jacques R.

    Zitat

    Original von Jacques Rideamus
    [Allerdings ist HAROLD EN ITALIE kein "verkapptes" Violakonzert, sondern wurde seinerzeit von Paganini ganz offiziell als solches in Auftrag gegeben. Nur hat er es dann zwar bezahlt, aber nie gespielt, weil ihm die Partie nicht virtuos genug war. Prokoffiefs Konzert hätte er aus ähnlichen Gründen allerdings wohl auch nicht angerührt. Ein Schlusssatz ohne brillante Demonstration des Könnens des Virtuosen? :no:


    :hello: Jacques Rideamus


    Dafür hätte er im 2. Satz des Prokovieff alle Hände voll zu tun bekommen! :D


    Die Geschichte mit Paganini kenne ich auch:
    Am "Harold" hatte Paganini wohl einerseits so wenig Spaß, weil der Bratschenpart nicht besonders virtuos ist, dafür aber z.T. bei gelungener Interpretation (Ende des Durchzugs der Mönche) ein nicht "schöne", sondern schräpige Darstellungsweise verlangt.
    Andererseits ist das Stück neben einem Bratschenkonzert ja auch als Programmmusik zu verstehen, und das fand Paganini vielleicht auch
    nicht so toll, dass die Geschichte und nicht der Virtuose im Mittelpunkt steht.


    Sorry, nur nebenbei, gehört eigentlich nicht in diesen Thread! :untertauch:


    Grüße
    tukan

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Ich habe das Konzert zweimal - beides sind "Beikäufe": einmal mit Ricci und Ansermet hier
    (gekauft wegen "Romeo und Julia")
    und einmal mit Tretjakov und Fjodosejev in der Brilliant-Box


    Ich hatte dieses Konzert bisher noch nie besonders konzentriert gehört. Jetzt habe ich mir beide Aufnahmen hintereinander angehört, lasse gerade den Ricci noch einmal laufen - und bin nicht besonders angetan.


    Ich mag den Anfang des ersten Satzes, diese schöne langgestreckte lyrische Melodie, auch das zweite Thema mit der markanten Orchesterbewegung (PA-TA-TRRRR).


    Ich mag den dritten Satz (je öfter, je mehr), finde ihn harmonisch sehr interessant - wäre bestimmt lohnend zu analysieren. Das erste Motiv in dem mir insgesamt sehr spröde erscheinenden Konzert, das mir so ein bisschen ohrwurmhaft hängen blieb, war im dritten Satz der kurze Orchestereinwurf "rüddldüddldüdd-DA-DAAA" (in den Noten zwei Takte vor 46 und noch einmal zwei Takte vor 48 ). Ich habe den ersten Eindruck, dass der dritte Satz insgesamt so eine Art Variationensatz ist, dass harmonische Abfolgen sich da mehrmals wiederholen - irre ich mich da?


    Den ersten Satz nach den ersten paar Minuten und das Scherzo kann ich bislang nicht leiden. Gebrochene Akkorde, Triller über Triller und viel Klingelingeling - so what? Geht mir ziemlich auf die Nerven...


    Von meinen beiden Aufnahmen gefällt mir Tretiakov besser. Zupackend, manchmal ziemlich harsch. Ricci/Ansermet kommt mir dagegen ganz schön weichgespült und etwas parfümiert vor.


    Danke, Flotan, für die Einführung und vor allem auch für den Noten-Link! Dieser thread ist eine prima Idee. Ich hätte mir das Konzert sonst nie etwas intensiver angehört.


    Grüße,
    Micha

  • Hallo Michael M.,


    interessant, dass sich unsere Eindrücke zu Rugiero Ricci bezüglich seiner Aufnahmen des VC Nr.1 decken: Weichspüler !
    Er scheint auch in seiner Aufnahme unter Ansermet nichts herausragendes zu bieten. In meinem Beitrag vom 03.11.08 hatte ich schon erwähnt, das nur Ricci daran schuld war, dass ich die wirklichen Qualitäten dieses Werkes damals unter Froment mit dem pipsigen Luxemburg RSO (VOX-LP) verkannt habe.


    Erst die auch von Dir favorisierte Aufnahme (bei mir später auf CD) Chung/Previn (Decca, 1973, ADD) lführte dazu auch das VC Nr.1 zu schätzen.
    Heute gefällt es mir gut, aber ich sehe es für mich nicht (gemäß flotans Fragestellung) in der ersten Reihe der VC, so wie Schostakowitsch VC Nr. 1 und 2, Prokofieff VC Nr.2 oder Bartok VC Nr. 2 (die klassischen Konzerte mal außer acht). Das heißt nicht, das ich es damit weniger schätzenswert finde.


    Besonders die Sätze 2 und 3 des VC Nr. 1 finde ich beachtenswert; den ersten Satz sehe ich als "einleitendes Lento".
    Das Scherzo mit seinem (wie Du schreibst) "klingeling" finde ich sogar den besten Satz des ganzen Konzerts. Das liegt sicher bei mir an dem kurzweiligen Aufbau und dem Inhalt mit pepp - sowas mag ich eben.
    Zustimmung hingegen zu deinen Ausführungen zum 3.Satz. Das ist Prokofieff-Pur der von mal zu mal interessanter erscheint - das hat Inhalt und Tiefe.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo flotan,


    vielen Dank für deine schöne Thread-Eröffnung!


    Mir gefällt das Konzert ebenfalls. Obgleich kein Lieblingskonzert von mir höre ich es immer wieder gern. Das Gefallen, das ich an ihm finde, ist allerdings kein intellektuelles, sondern ein genüssliches. Wenn ich das Konzert höre, sitze ich typischerweise nicht konzentriert zuhörend vor den Lautsprechern, sondern lese ich und höre das Konzert nur nebenbei.


    Frank hat oben davon gesprochen, dass es gewichtigere Gattungsbeiträge gebe. Ja, stimmt, das Violinkonzert ist eines zum konsumieren, nicht zum daran reiben. Daran ist jedoch meines Erachtens nichts Schlechtes. Gewichtigkeit, intellektuelle Tiefe ist keine notwendige Voraussetzung für ein sehr gutes Werk.


    Prokofjew hatte Anfang des Jahres 1916 das Publikum – und Glasunow – mit der Skytischen Suite geschockt. Danach erst schrieb er die oben von flotan genannten Werke. Zur ersten Sinfonie hat er bekanntlich geäußert: „Wenn Haydn heute noch lebte, dachte ich, würde er seine Art zu schreiben beibehalten und dabei einiges Neues übernehmen. Solch eine Sinfonie wollte ich schreiben – eine Sinfonie im klassischen Stil.“ Mir scheint, dasselbe Prinzip hat Prokofjew nun in seinem Violinkonzert Nr. 1 erprobt – beide Werke wurden 1917 beendet – und sich vorgestellt, wie Mendelssohn heute ein Violinkonzert schreiben würde (Stichwort: Mendelssohnismus).


    Erschaffen hat er ein Werk, das den Konservativen zu modern, den Modernen aber zu konservativ war. Ein Werk, das wie die großen Vorgänger (von Beethoven, Brahms, Tschaikowksy) in D-Dur steht, das voller Melodien und schöner Töne ist, das aber andererseits unverwechselbar der Feder eines Komponisten aus dem 20. Jahrhundert entstammt. Nicht ohne Grund wirft unserer Haydn-Hörer Nr. 1, Johannes Roehl, dem Werk sinngemäß eine ungenügende Struktur, einen fehlenden roten Faden vor. Mir macht das nichts aus. Für mich ist es ein lyrisches Werk, das ich genießen kann, ohne dass es mir wegen der traditionellen Romantizismen langweilig würde (wie z. B. das Mendelssohn-Konzert).


    Bemerkenswert ist, dass Prokofjew als Russe solch ein idyllisches Werk ausgerechnet im Jahr 1917 schreiben konnte. „Mehr als die Hälfte des Jahres 1971, zwischen Februar- und den Oktoberereignissen, verbrachte Prokofjew fern dem revolutionären Petrograd“, lese ich in Schippgers-rororoMonographie (S. 47). Mag sein, aber man stelle sich die Reaktion eines solch politisch sensiblen Menschen wie Schostakowitsch auf die Ereignisse vor. Als bewusste Flucht aus der rauen politischen Wirklichkeit in die Idylle hat Prokofjew das Werk allerdings nicht konzipiert bzw. verstanden, lese ich im Booklet zur Mintz-CD (in der DGG-Classikon-Reihe), sondern mehr als Antithese zu seinem dramatischen, monumentalen Klavierstil. Wie kann man politisch nur so dumpf sein, frage ich mich – dass Prokofjew genau das war, hat er später bei der Rückkehr in die SU ja erneut bewiesen.


    Sechs Aufnahmen des Werkes besitze ich, die ich in den letzten Tagen und Wochen alle gehört habe:


    Oistrach, Prokofiev, The USSR TV and Radio Large Symph. O., 1938
    Oistrach, Kondrashin, Moscow Philharmonic Orchestra, 1963
    Perlman, Rozhdestvensky, BBC Symphony Orchestra, 1980
    Mintz, Abbado, Chicago Symphony Orchestra, 1983
    Zimmermann, Maazel, Berliner Philharmoniker, 1987
    Vengerov, Rostropovich, London Symphony Orchestra, 1994


    Besonders interessant ist natürlich die Oistrach-Aufnahme von 1938 (enthalten in einer Venezia-Sinfonien-Box), weil Prokofjew selbst dirigiert. Die Tonqualität ist historisch. Wer an solche Aufnahmen gewöhnt ist, kann die Aufnahme sehr gut anhören. Auch auf ihr steht die Sologeige stark im Vordergrund. JR I äußert oben zu einer späteren Oistrach-Aufnahme, das habe an den damaligen Aufnahme-Möglichkeiten gelegen. Da bin ich mir nicht so sicher. Ich halte es sehr gut für möglich, dass die Aufnahme keinen falschen Eindruck vermittelt, sondern dass damals der Solist tatsächlich deutlich stärker im Vordergrund stand, als wir es heute gewohnt sind. Prokofjew macht auch nichts Besonderes. Er beschränkt sich auf die Rolle des Begleiters. Die Frage stellt sich, was man daraus ableiten kann. Wollte Prokofjew das so oder war er nur ein zu schlechter Dirigent, um mehr zu erreichen?


    Am besten gefallen haben mir die Vengerov- und die Zimmermann-Aufnahme. Beide gehen das Konzert gegensätzlich an. Vengerov spielt viel ruppiger, gröber, an geeigneten Stellen grotesker. Zimmermann bleibt immer fein, kontrolliert. Beides geht, beides gefällt mir sehr gut. Die Tonqualität der Brilliant Oistrach-Kondrashin-Aufnahme ist leider tatsächlich bescheiden. Die Mintz-Aufnahme finde ich wegen Abbado sehr hörenswert, der manche Stellen ganz anderes spielt als alle anderen. Nur bei Abbado habe ich den Eindruck gewonnen, dass es sich lohnt, nicht nur dem Solisten, sondern auch dem Orchester zuzuhören.


    Danach, ob das Konzert in die erste Reihe gehört, hast du gefragt. Ja, für mich eindeutig ja - aber nur, wenn ich die Beethoven- und Brahms-Konzert noch ein kleines bisschen heraus treten lassen darf.


    Im 20. Jahrhundert gefällt mir kein Konzert besser. Die Schostakowitsch-Konzerte oder auch das Berg-Konzert z. B. sehe ich gleichauf.


    Viele Grüße
    Thomas

  • Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    Nicht ohne Grund wirft unserer Haydn-Hörer Nr. 1, Johannes Roehl, dem Werk sinngemäß eine ungenügende Struktur, einen fehlenden roten Faden vor. Mir macht das nichts aus.


    Hat sich hier eigentlich irgendjemand intensiv genug mit der Struktur des Werks anhand des Notentexts auseinandergesetzt, um eine solche Aussage - die hier unversehens zur Tatsachenfeststellung mutiert - treffen zu können? Wenn dieser Vorwurf "nicht ohne Grund" ist - wie lautet denn dann die Begründung?


    Wobei es ja nun Anfang des 20. Jahrhunderts reichlich unterschiedliche Möglichkeiten musikalischer Großformen oder Strukturen gibt, nicht nur die an der klassischen Sinfonie geschulten. Mit denen hat das erste Violinkonzert wohl noch weniger zu tun als die erste Sinfonie. Ich glaube auch nicht, dass Prokofieff à la Mendelssohn hat komponieren wollen, nur weil irgendeinem zeitgenössischem Kritiker das Stichwort "Mendelssohnismus" eingefallen ist.


    Der Vorwurf "mangelnder intellektueller Tiefe" u.ä. ist ästhetisch auch reichlich problematisch bzw. einseitig - besonders für eine Zeit, in der Richtungen wie der Neoklassizismus aufkommen, denen man mit Antagonismen wie Oberfläche vs. Tiefe nicht beikommt.


    Prokofieff war zweifellos kein homo politicus - aber ihm sinngemäß zu attestieren, es sei frivol, während des Ersten Weltkriegs und der russischen Revolutionen solche Werke zu komponieren, geht mir zu weit. Den gleichen Vorwurf könnte man zur gleichen Zeit auch Strawinsky wegen des Chant du rossignol machen, von Busoni mit dem Arlecchino oder Strauss mit seiner zweiten Fassung von Ariadne auf Naxos zu schweigen. Mir scheint, Prokofieff entwickelt während dieser Jahre eine Polystilistik, die man im Kontext solcher Konzepte zunächst mal musikästhetisch befragen sollte.



    Viele Grüße


    Bernd


  • Ich habe jedenfalls in meinem Posting oben allerdings keinen dieser Vorwürfe erhoben...
    Ich schrieb nur, daß es mir überhaupt nicht so gegangen ist wie Richter und ich das Stück zunächst keineswegs eingängig fand, aber eben auch nicht sperrig, sondern "neutral" und nicht besonders spannend. Und daß ich es auch nach mehrmaligem Hören noch episodisch finde und insgesamt keinen rechten emotionalen Bezug herstellen konnte. Und den Bezug zu Mendelssohn kann ich auch nicht sehen. Das Werk ist ja kaum klassizistisch i.e.S. zu nennen. Ich glaube aber nicht, daß das die Ursachen der Distanz sind.


    Obwohl ich vermutlich die Werke noch nicht gut genug kenne (obgleich seit etlichen, teils über 10 Jahren immer wieder gehört habe), geht es mir bei fast allem, was ich von Prokofieff kenne, übrigens so ähnlich. Die einzigen Stücke, die praktisch sofort eingeschlagen sind, sind das 2. Klavierkonzert und die beiden Violinsonaten und das sind auch immer noch mit Abstand meine Favoriten. Das allseits beliebte 3. Klavierkonzert empfinde ich beinahe so distanziert wie vorliegendes Stück. Anscheinend liegt mir der Stil einfach nicht besonders.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Vielen Dank, tukan, ich habe mir die Glazunov-Einspielung angehört, sehr schön!


    Außerdem geht mein Dank auch an flotan für seinen so wichtigen Hinweis auf Prokofiev! Bislang war mir nur "Peter und der Wolf" bekannt. :O Doch das wird sich umgehend ändern!



    Mit lieben Grüßen,


    diotima. :hello:

  • Bisher habe ich mich gar nicht getraut, meine absolut banausenhafte Haltung zu diesem Konzert hier kund zu tun. Aber jetzt traue ich mich: es ist mir egal!
    Ich kenne das Konzert schon recht lange und habe es auch nicht gerade erst zwei- oder dreimal gehört – aber wenn ich ehrlich bin: es hat bei mir keinen starken oder gar nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Wenn es läuft, empfinde ich es als nett; der beinahe aus dem Nichts hervorglimmende Einstieg ist schon wundervoll – aber dann folgen rhapsodischen Lyrismen und hypertrophe (Spät[est])Romantizismen, alles sehr schön, alles sehr ansprechend gesetzt und wohlgestaltet (ohne das ich jetzt die Partitur studiert oder auch nur eingesehen hätte ;) ) – aber es will mich nicht anfixen. Woran liegt's ? Wahrscheinlich ist es mir tatsächlich zu schön...


    Ich habe im Wahlverfahren zu »Was höre ich...« für das Konzert gestimmt, auch in der Hoffnung es bei konzentriertem Hören endlich neu kennenzulernen – aber ich habe jetzt bei mehrmaligem Hören meiner beiden Einspielungen (Mintz/Abbado und Zimmermann/Maazel) kein Heurekaerlebnis gehabt. Es bleibt ein Stück, daß mich – im besten Sinne – nicht aufregt.


    Viele Grüße,
    Medard

  • Was mich irritiert, ist natürlich nicht das persönliche Gefallen oder Missfallen - das ist wie immer jedem freigestellt. Und ich kann mir durchaus vorstellen, dass man gerade dieses Konzert "zu schön" oder auch "neutral" findet.


    Aber nur weil das Konzert über weite Strecken angenehm ins Ohr geht, ist es ja noch kein Easy-Listening-Werk. Auch tauchen hier immer wieder Begriffe wie "episodisch" oder "rhapsodisch" auf - wohingegen ich das Werk eher als "formal originell" und vor allem "konzentriert" beschreiben würde.


    Das hat vielleicht mit der Folie zu tun, vor der ich dieses Konzert höre: Ich hatte oben ja schon meine leichte Abneigung gegen das spätromantische Violinkonzert kundgetan. Nehmen wir Glasunows Violinkonzert (zweifellos ein etwas unfairer Vergleich, weil über zehn Jahre vor unserem Werk komponiert). Hier haben wir ein Konzert für den Ohrensessel: Recht weitschweifig, schulmäßige Form, brav voneinander getrennte Themenkomplexe, solide Instrumentation, Gegenüberstellungen Tutti-Solo, eine Kadenz, während der man ein kleines Nickerchen halten kann usw. Das etwa gleichzeitige Sibelius-Konzert finde ich viel interessanter, aber es bedient ohne Zweifel auch den konventionellen Typus. Gleichzeitig zu Prokofieff ist das erste Szymanowski-Konzert (der Name wurde von Flotan im Eingangsposting erwähnt): ich habe das heute seit langer Zeit mal wieder gehört - ein sehr interessantes Werk, phasenweise viel modernere Klangsprache als bei Prokofieff, dann aber wieder exzessives spätromantisches Schwelgen. Formal etwas unübersichtlich, macht auf mich einen etwas rhapsodisch-episodischen Eindruck :D.


    Gegenüber diesem einsätzigen Werk wirkt die Formgebung Prokofieffs fast schon wieder klassizistisch klar, vielleicht mit Ansätzen zur späteren Bartók'schen Brückenform durch die Symmetrien. Aber entscheidend für die erfreuliche Wirkung des Konzerts auf mich ist der originelle Umgang mit den Tempi, der "sprachähnliche" Charakter der Solostimme, das unablässige Dialogisieren zwischen Geige und Orchester (das Soloinstrument hat nie länger als sechs Takte Pause, und auch das nur sehr selten) sowie - wie oben erläutert - die wunderbare Klangfarblichkeit. Und eine gewisse Doppelbödigkeit, die ich mir aber vielleicht nur einbilde - die folkloristische Episode im ersten Satz, die bedrohlich klingenden Intermezzi im Scherzo, der ironische Unterton in Teilen des dritten Satzes.



    Viele Grüße


    Bernd


  • Lieber Bernd,


    du hast zwar unten bereits näher erläutert, worum es dir geht. Ich möchte aber doch auf das von dir Gesagte antworten:


    1. Johannes sprach in negativem Sinne von Episodenhaftigkeit. Das habe ich verstanden als fehlenden roten Faden und somit als ungenügende Struktur. Selbstverständlich muss ein Werk keine irgendwie geartete Struktur haben, um zu gefallen - augenzwinkernd (wenn dir danach ist) könnte man vielleicht sogar sagen, es darf keine haben, wenn es modern sein will. Du stößt dich an der Mutation zur Tatsachenbehauptung ("Nicht ohne Grund"). Nein, zu einer genaueren Formanalyse unter Einbeziehung der harmonischen Entwicklung anhand der Partitur bin ich mangels hinreichender musikwissenschaftlicher Kenntnisse nicht in der Lage. Den Verweis auf eine solche halte ich in unserem Zusammenhang aber ohnehin nicht für weiterführend. Ich bezweifele nicht, dass es dem Musikwissenschaftlicher möglich ist, eine Struktur des ersten Satzes, eine Bogenform, herauszuarbeiten, einzelnen Motiven Themenfunktion zuzuordnen usw. Das hilft mir - als nicht musikwissenschaftlichem und somit einfachem Hörer - aber nicht weiter. Meine Begründung ("Nicht ohne Grund") ist schlicht mein Höreindruck. Mein Höreindruck ist der Beschriebene - Episodenhaftigkeit, kein roter Faden. Nur, mir ist das egal, ich mag das Werk trotzdem sehr gern. Da Johannes das Haydn-Projekt so hervorragend betreut und vorantreibt, stellte sich bei mir unwillkürlich die Assoziation mit Haydn-Werken ein, als Johannes von Episodenhaftigkeit schrieb. Eine Missfallensäußerung oder gar Herabwürdigung von Haydn oder gar Johannes stand und steht mir vollkommen fern.


    2. Wollte Prokofjew à la Mendelssohn komponieren? Ja, dieser Gedanke ist mir gekommen. Es geht mir dabei weniger um Mendelssohn, sondern um den engen Zusammenhang des Violinkonzerts Nr. 1 mit der Sinfonie Nr. 1.


    Beide Werke hat Prokofjew zeitgleich komponiert. Da liegt doch der Gedanke nahe, dass beiden die selbe Idee zu Grunde liegt. Indizien dafür, dass der Gedanke zutrifft, gibt es:


    Beide Werke stellen insbesondere gegenüber der Skytischen Suite eine Rückkehr zum Althergebrachten dar. Nicht nur in der Sinf. 1, sondern auch in dem Violinkonzert verwendet Prokofjew den althergebrachten Aufbau (Sinfonie: viersätzig - Konzert: dreisätzig wie das von Mendelssohn). Wie er in der Sinfonie klassische Mittel aus moderner Sicht verwendet, verwendet er in dem Violinkonzert Romantizismen, die der Welt des althergebrachten romantischen Violinkonzerts entstammen. Mein Gedanke entsprang, wie ich hoffentlich nun verdeutlichen konnte, nicht dem Kritikerwort "Mendelssohnismus". Dieses Wort allein wäre für einen solchen Gedanken in der Tat ungenügend.


    3. Ich habe dem Werk keine mangelnde intellektuelle Tiefe vorgeworfen. Ich habe nur geschrieben: "Das Gefallen, das ich an ihm finde, ist allerdings kein intellektuelles, sondern ein genüssliches." Die weitere Bemerkung von mir, dasss Gewichtigkeit, intellektuelle Tiefe keine notwendige Voraussetzung für ein sehr gutes Werk sei, ist in diesem Kontext zu verstehen. Man sollte auseinanderhalten: 1. Hat das Werk intellektuelle Tiefe? 2. Ist fehlende intellektuelle Tiefe ein Mangel? Zu Frage 1 habe ich mich nicht geäußert. Ich habe nur geschrieben, dass mir das Werk nicht auf intellektueller, sondern auf der Genussebene gefällt. Die zweite Frage habe ich mit nein beantwortet.


    4. Über Prokofjews politisches Verhalten kann man lange streiten. Dem einen geht hier manches zu weit, dem anderen nicht weit genug. Pointiert: Ist es moralisch vorwerfbar, ein heiteres Werk zu schreiben, wenn um einen herum die Menschen sterben? Was ist der Beweggrund (schnöder Mammon? Aufrechterhaltung der menschlichen Würde?) In Deutschland gerät man bei der Diskussion dieser Frage notwendigerweise zum Thema Verhalten im Dritten Reich. Viel gäbe es hierzu zu sagen. Doch bitte habe Verständnis dafür, dass ich diese Diskussion hier nicht führen möchte. Der Einwand, dass ich Prokofjew sein politisches Verhalten vorwerfe, aber nicht bereit bin, darüber zu diskutieren, ist naheliegend und berechtigt. Normalerweise würde ich mich solcher Diskussion auch gerne stellen. Nur scheint mir das Thema den Thread vergiften zu können. An dieser Stelle daher bitte nicht.


    Viele Grüße
    Thomas

  • Hallo Flotan,


    gerade las ich in deinem Eröffnungsbeitrag diesen Satz:


    "Ich werde versuchen, in den nächsten Tagen nochmals im Genauen auf die einzelnen Sätze einzugehen ..."


    Ja, bitte tu das und lasse dir nach Möglichkeit nicht allzuviel Zeit. Wie du sicher gesehen haben wirst, tut ein genaueres Eingehen auf die einzelnen Sätze not, um der Diskussion Futter zu geben.


    Viele Grüße
    Thomas

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Hallo ihr Lieben,


    habe nun meine CD bekommen. Für mich wird es das erste mal sein dieses Stück im ganzen zu hören.



    Ich bin gespannt welche Eindrücke sich bei mir bilden werde. Vielleicht habe ich ja auch eine Einspielung erwischt die ihr nicht so empfehlen würdet.


    Bestimmt wird es für mich als Anfänger interessant werden, noch einige Informationen zu erhalten, wie man an so einem Stück heran gehen sollte und worauf man beim hören achten sollte.


    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende


    Detlef

    Werden im Wirken - Großes braucht seine Zeit

  • Hallo zusammen,



    ich habe mir das Konzert inzwischen in den Einspielungen


    mit Frank Peter Zimmermann unter Lorin Maazel




    und mit Anne-Sophie Mutter unter Rostropovich




    angehört. Derzeit tue ich mich noch schwer, einen Zugang zu diesem Werk zu finden, denn es spricht mich (noch?) nicht an. :untertauch:


    LG, Elisabeth

  • Wenn ich die bisherige Diskussion richtig verstanden habe (korrigiert mich bitte falls ich mich irren sollte), so wundert es mich, dass die Struktur des Werkes irgendwie im Zusammenhang mit dessen Qualität stehen soll.


    Ich habe dieses Violinkonzert bisher ohne Partitur gehört und mich nicht um Analysen gekümmert. Trotz allem wirkt auch mich das Werk geschlossen und "wie aus einem Guß". Genau darin liegt für mich seine Stärke.


    Viele Grüße
    Frank


  • Hab ich bereits.... versucht. Aber da man keine Bilder von der Computerfestplatte einfügen kann, hab ichs wieder aufgegeben. Ohne Partiturausschnitte ists nämlich etwas langweilig....


    Somit kann ich nur mitteilen, daß dieses Werk deutlich strukturiert ist, in jedem der drei Sätze ganz klar ersichtlich.


    Zitat

    Klawirr
    Bisher habe ich mich gar nicht getraut, meine absolut banausenhafte Haltung zu diesem Konzert hier kund zu tun. Aber jetzt traue ich mich: es ist mir egal!
    Ich kenne das Konzert schon recht lange und habe es auch nicht gerade erst zwei- oder dreimal gehört – aber wenn ich ehrlich bin: es hat bei mir keinen starken oder gar nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Wenn es läuft, empfinde ich es als nett; der beinahe aus dem Nichts hervorglimmende Einstieg ist schon wundervoll – aber dann folgen rhapsodischen Lyrismen und hypertrophe (Spät[est])Romantizismen, alles sehr schön, alles sehr ansprechend gesetzt und wohlgestaltet (ohne das ich jetzt die Partitur studiert oder auch nur eingesehen hätte ) – aber es will mich nicht anfixen. Woran liegt's ? Wahrscheinlich ist es mir tatsächlich zu schön...


    Kann ich sogar verstehen. Ich nehme mal an, es fehlt Dir das Tragische, das Beklemmende a la Schostakowitsch.


  • Lieber Thomas,


    mir ist klar, dass Du niemanden herabsetzen wolltest. Ich natürlich auch nicht - eigentlich hatte ich nur die Absicht, ein bisschen Zunder in den wieder mal etwas vor sich hintröpfelnden Thread zu bringen. Aber das können andere sicher besser. :D


    Es zeichnet sich ja ab, dass man die Struktur des Konzerts gegensätzlich "empfinden" kann. Eher "episodisch", wie Johannes und Du, oder eher "geschlossen" bzw. "aus einem Guss" wie Frank Pronath und tendenziell ich. Hier kann man m.E. nur weiterkommen, wenn man die Eindrücke auf eine objektivierbare Basis stellt. Vielleicht möchte Flotan ja doch - auch ohne Bilder der Partitur - ein paar Aussagen zur Struktur der einzelnen Sätze und des gesamten Werks machen.


    Bei Mendelssohn und dem Bezug zur Symphonie classique bleibe ich skeptisch. Dreisätzig sind ja einige Konzerte des 20. Jahrhunderts, denen man aber niemals Mendelssohn-Nähe nachsagen würde. Und der Gestus unseres Konzerts ist ja nicht wirklich klassizistisch - weder bei den Tempi der Sätze und bezüglich der Klanglichkeit, noch in der Behandlung von Solostimme und Orchester, noch formal.


    Bezüglich des (un)politischen Aspekts: So konfliktträchtig finde ich ihn gar nicht, zumindest nicht in diesem Fall. Aber Du hast schon recht - es könnte schnell zu Abschweifungen kommen.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Ich habe folgende Aufnahmen, die ich mir anlässliches dieses Threads nochmal angehört habe. Auflistung in der Kaufreihenfolge:


    [A] Maxim Vengerov, LSO, Rostropovich (Teldec)
    [B] Gil Shaham, LSO, Previn (DG)
    [C] Sarah Chang, BPO, Rattle (EMI)


    Ich habe das Konzert viele Jahre nicht mehr gehört, erst vor ca. einem Jahr wieder anlässlich des Kaufs von [C], die ich mir wegen des 1. VC von Schostakowitsch gekauft habe, ein Konzert, das ich viel mehr schätze. Insofern hat das 1. VC von Prokofieff (und auch sein 2.) bei mir immer ein Schattendasein geführt. Ich muss aber sagen, dass ich es schon mag.


    Das Werk ist sicherlich gesanglich-lyrisch, aber auch von motorischen Rhythmen und einigen Grotesken geprägt. Ich würde es nicht als "idyllisch" abtun. Die Reprise nach der (kurzen!) Kadenz im ersten Satz klingt zwar sehr idyllisch mit der Violine schwebend über der Harfe. Aber die Kadenz klingt für mich alles andere als idyllisch. (Und überhaupt: Wie kurz und unvirtuos ist die Kadenz eigentlich? Ist das nicht schon fast eine Verweigerung?) Ich finde, der erste Satz verbreitet eher eine gewisse Wehmut. Auch das Scherzo klingt so garnicht idyllisch. Herrlich die groteske Passage mit den wiegenden, "schmutzigen" Tönen der Violine.


    Die drei Aufnahmen kann man wohl alle empfehlen. Vengerov [A] spielt m. E. am forschesten von den Dreien, betont auch die Grotesken am meisten. Sarah Chang [C], die hier selten genannt wird, spielt zurückhaltender, aber sehr lyrisch-schön. (Ich schätze insbesondere ihre Einspielung des 1. Konzerts von Schostakowitsch auf derselben CD.) So wie ich das dem kurzen (!) Vergleichshören (was immer sehr schwierig und zeitaufwändig ist, will man es richtig machen) entnehme, scheint mir persönlich die Aufnahme [B] etwas schwächer als die anderen, vielleicht weniger fein gespielt.


    maticus

  • Zitat

    Original von flotan


    Hab ich bereits.... versucht. Aber da man keine Bilder von der Computerfestplatte einfügen kann, hab ichs wieder aufgegeben. Ohne Partiturausschnitte ists nämlich etwas langweilig....


    Somit kann ich nur mitteilen, daß dieses Werk deutlich strukturiert ist, in jedem der drei Sätze ganz klar ersichtlich.


    Lieber flotan,


    deine letzte Äußerung macht neugierig auf eine Darlegung dieser Struktur. Wahrscheinlich würde mein Hörgenuss noch gesteigert, wenn ich eine solche heraushören würde.


    Meine Konzertführer schweigen zu diesem Thema übrigens ebenfalls, wenn es auch bei Reclam zu den Sätzen 2 und 3 heißt, diese berücksichtigten ebenfalls in besonderer Weise die Durchhörbarkeit der Satzstrukturen.


    Klar ist es einfacher, Dinge aufzuzeigen, wenn man die Noten vor Augen hat. Aber es dürfte doch auch ohne Noten gehen. Du kannst z. B. die am weitesten verbreitetste Aufnahme wählen (z. B. Zimmermann, wenn du sie besitzt) und an ihr mittels Zeitangaben angeben, worüber du schreibst.


    Würde mich freuen.


    Zitat

    Original von Detlef


    Bestimmt wird es für mich als Anfänger interessant werden, noch einige Informationen zu erhalten, wie man an so einem Stück heran gehen sollte und worauf man beim hören achten sollte.


    Detlef


    Lieber Detlef,


    die Aufnahme Shahams kenne ich nicht. Der ist aber ein so hervorragender Geiger, dass du dir normalerweise nicht die geringsten Sorgen machen müsstest, die falsche CD erwischt zu haben.


    Deine Frage nach der richtigen Herangehensweise lässt sich wenn überhaupt nur sehr schwer beantworten, hängt sie doch sehr von deiner musikalischen Vorbildung ab. Du bezeichnest dich als Anfänger, also gehe ich davon aus, dass du keine Instrument spielst und keine Noten lesen kannst. Dann gebe ich dir folgenden Ratschlag (der kein Patentrezept ist):


    Lass die CD über einige Tage immer mal wieder laufen. Das wird dazu führen, dass du dich wie von selbst einhörst. Wenn dir das Werk auf diese Weise einigermaßen vertraut geworden ist, kannst du auf die Themen, Motive oder auch Melodien achten. Der Kopfsatz beginnt ja sehr lyrisch, träumerisch. Später wird ein grotesk-virtuoses Thema dagegengestellt. Versuche, die Themen für sich zu hören, so dass du sie auswendig summen kannst. Achte dann darauf, was mit den Themen geschieht. Das gleiche machst du mit dem letzten Satz. Achte darauf, ob ein Thema aus dem ersten Satz aufgegriffen wird - es wird. Vergleiche den Ende des Konzerts mit dem Anfang. Stelle dem den Mittelsatz gegenüber.


    Wie gesagt, es handelt sich um kein Patentrezept, aber vielleicht hilft dir diese Vorgehensweise ja, das Werk besser kennen zu lernen. Falls ja, teile uns bitte deine Erfahrungen mit.


    Möglicherweise gibt es ja bald an dieser Stelle doch noch näheres zur Struktur zu lesen. Solche Beschreibung hörend nachzuvollziehen, empfinde ich immer wieder als sehr lehrreich.


    Viel Spaß noch mit dem Werk wünscht
    Thomas


  • Lieber Thomas,


    vielen Dank für Deine Erklärungen. In den nächsten Tagen werde ich versuchen mich auf die „Bilder“ einzulassen, die das Werk vermitteln möchte. Beim normalen hören, achte ich nicht so sehr auf die Gliederung und Struktur eines Stückes. Dabei an „die Hand“ genommen zu werden ist für mich sehr hilfreich. Dadurch haben sich mir schon viele Feinheiten erschlossen.


    Darin sehe ich mich als Anfänger. Noten lesen habe ich gelernt und spiele auch Instrumente. Vielleicht wäre es nicht schlecht die Partitur zu besorgen und mit zu verfolgen. Gibt es die irgendwo kostengünstig?


    Vielen Dank auch an allen mit ihren nützlichen Beiträgen
    Detlef

    Werden im Wirken - Großes braucht seine Zeit

  • Was ich nicht ganz bei euren Gedankengängen nachvollziehen kann ist, dass man aufgrund eines mit Romantizismen angehauchten Werkes gleich folgert, es sei (in gewisser Weise) in seiner Entstehungszeit deplatziert.
    Deine Frage Thomas, ob es verwerflich sei ein heiteres Werk in Zeiten des Krieges zu schreiben, beantworte ich mit nein – zumindest nach meinem persönlichem Empfinden. Mir fehlt einiges an Hintergrundwissen, aber man könnte diesen Aspekt ja auch vor dem Hintergrund betrachten, dass sich Prokofieff nach ‚schöneren Zeiten’ sehnt. Warum sollte ein Künstler schließlich nur seine Umgebung in seinen Schöpfungen aufnehmen – oftmals werden doch auch Sehnsüchte offenbar…
    (Genauso entstehen auch nachdenkliche und von Einzelschicksalen durchzogene Werke in Zeiten des Wohlstandes…etc.)


    Es mag sein, dass ich in meinen Gedanken alleine und/oder gar falsch liege, aber diese kamen mir während des Durchlesens des Threads so in den Sinn.


    Auch dadurch angeregt, dass ich das Konzert teils anders empfinde…ähnlich wie es Maticus beschrieb. So eine richtige Idylle nehme ich nicht wahr…Gerade im 1.Satz kann ich schon etwas missmutige Stimmung heraushören (um nicht zu sagen - wenn man/ich es wollte – kriegerischer Unterton…jedenfalls kommen mir auch in solchem Bezug Assoziationen – eine Wahrnehmung durch eure Diskussion ausgelöst).
    Aber das ist ja nun einmal subjektiv.


    Ich habe wie Thomas die Einspielung mit Shlomo Mintz, dem Chicago Symphony Orchester und Claudio Abbado.


    Interessant fand ich – und darauf will ich bei den nächsten Hördurchgängen verstärkt achten – was zur Orchesterbegleitung geschrieben wurde: selten (oder gar nicht) dient das komplette Orchester als Begleitung, sondern Orchestergruppen – und dort eben sehr kreativ.



    Generell tue ich mich im Gesamtbild immer noch schwer mit dem Violinkonzert – nachdem es bei mir eigentlich auch eher ein Nischendasein verbracht hat, habe ich es eben auch anlässlich dieses Threads herrausgeholt. Und ehrlich gesagt war ich nach dem ersten Hören vor mittlerweile wieder gut einer Woche total positiv überrascht: da klang tatsächlich etwas wie Gefallen in meinen Ohren mit…Wie auch für Wolfgang (teleton) ist der 2.Satz genau mein ‚Stil’ – forsch, teils recht rabiat und mit Pepp.
    Im 3.Satz klingt für mich etwas Vertrautheit mit – eventuell die hier erwähnten ‚Romantizismen’? So in der ersten Hälfte des Satzes. (Mag aber auch an meinem musikalisch ungeschulten Ohren liegen…)


    Vielen Dank jedenfalls für den Thread – er hat mir für dieses Werk neue ‚Höranregungen’ gegeben.
    Bin gespannt wie sich das weiterentwickelt.



    Lieben Gruß,
    Maik

    Wie ein Rubin auf einem Goldring leuchtet, so ziert die Musik das Festmahl.


    Sirach 32, 7

  • Hallo Maik, Thomas und alle,

    Zitat

    Original von Maik
    Deine Frage Thomas, ob es verwerflich sei ein heiteres Werk in Zeiten des Krieges zu schreiben, beantworte ich mit nein – zumindest nach meinem persönlichem Empfinden. Mir fehlt einiges an Hintergrundwissen, aber man könnte diesen Aspekt ja auch vor dem Hintergrund betrachten, dass sich Prokofieff nach ‚schöneren Zeiten’ sehnt. Warum sollte ein Künstler schließlich nur seine Umgebung in seinen Schöpfungen aufnehmen – oftmals werden doch auch Sehnsüchte offenbar…
    Es mag sein, dass ich in meinen Gedanken alleine und/oder gar falsch liege, aber diese kamen mir während des Durchlesens des Threads so in den Sinn.


    Auch dadurch angeregt, dass ich das Konzert teils anders empfinde…ähnlich wie es Maticus beschrieb. So eine richtige Idylle nehme ich nicht wahr…Gerade im 1.Satz kann ich schon etwas missmutige Stimmung heraushören (um nicht zu sagen - wenn man/ich es wollte – kriegerischer Unterton…jedenfalls kommen mir auch in solchem Bezug Assoziationen – eine Wahrnehmung durch eure Diskussion ausgelöst).
    Aber das ist ja nun einmal subjektiv.


    Mir geht es ähnlich: Auch ich sehe dieses Konzert überhaupt nicht als romantisch-unbeschwert an, höchstens als mit freundlich-ironischen Romantik- und anderen Zitaten gespickt. Wie schon in der zeitnahen "Symphonie Classique" spielt Prokofiev ja auch hier mit den Formen der Vergangenheit, wie er sich ja auch an die drei Sätze hält, die klassische Tempo- und Ausdrucksordnung aber umdreht.
    Außerdem finde ich auch, dass die Geige hier einen oft mäkeligen, wie ich schon früher ertwähnte, kommentierenden Tonfall annimmt, der sicherlich nicht zu einem heiter-losgelösten Charakter beiträgt.


    Mir übrigens hat dieser Thread auch viel Spaß gemacht, obwohl ich später wegen viel Arbeit nicht mehr intensiv mitdiskutieren konnte.


    Ich freue mich schon auf die nächste Runde, vielen Dank für die Organisation, Thomas und Maik.


    Grüße


    tukan

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