Aggressive Musik ... ?!?!

  • Liebe Forianer/innen,


    offensichtlich ist die Frage, ob die Musik eines Komponisten als "kriegerisch" oder "aggressiv" wahrgenommen wird, so schwerwiegend, daß sie im einzelnen zu persönlichen Irritationen führen kann. Das finde ich durchaus verständlich, aber auch schade, denn für mich ist die Frage nach "aggressiver Musik" durchaus ernstzunehmen und interessant: Daß Musik tiefe Gefühle in uns anspricht, wissen wir alle - und zu diesen gehören auch Wut, Zorn, Ärger...


    Also, hier einfach mal in den Raum gestellt:


    Gibt es Musik, die Ihr als aggressiv bezeichnen würdet?


    Mir persönlich fällt da spontan Strawinskys Sacre du printemps ein, das ja bei seiner Uraufführung in Paris 1913 den berühmten Skandal auslöste, vermutlich eben deshalb, weil die bis damals ungewohnte Aggressivität beim Publikum beängstigend und verstörend wirkte. In der Tat: Dieses Werk als "fetzig" zu bezeichnen, empfände ich immerhin als eine kräftige Untertreibung.


    Andererseits hat Strawinsky auch sehr viele Werke komponiert, die einen völlig anderen Charakter haben; ihn also als generell "kriegerisch" zu bezeichnen, fände ich ebenso verfehlt wie eine entsprechende Festlegung Beethovens.


    Doch zurück zur Frage:
    Welche Werke bzw. Stellen aus Werken würdet Ihr nennen? Was daran wäre "aggressiv"?


    Und - damit wird es interessant für mich:
    Wie wirken solche Werke bzw. Stellen auf Euch? Beunruhigend? Aufmunternd? Entspannend gar? ... ?

  • Lieber Gurnemanz,


    im Vorgriff auf die vielen zu gewärtigenden Antworten auf diese Frage ein bündelndes Statement: Wahr ist nicht, was ein Sender sendet, wahr ist, was beim Empfänger ankommt. (gilt auch für die diesen Thread veranlassenden Beiträge).


    Zwei Besispiele für (von mir so empfunden) martialisch hätte ich immerhin: Schostakowitsch Sinfonie Nr. 7 Satz 1 und Sinfonie Nr. 11 Satz 2. (beidemale das Schlachtgetümmel, dagegen ist Wellingtons Sieg liebliche Schalmeienmusik).


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von Gurnemanz
    Liebe Forianer/innen,


    offensichtlich ist die Frage, ob die Musik eines Komponisten als "kriegerisch" oder "aggressiv" wahrgenommen wird, so schwerwiegend, daß sie im einzelnen zu persönlichen Irritationen führen kann. Das finde ich durchaus verständlich, aber auch schade, denn für mich ist die Frage nach "aggressiver Musik" durchaus ernstzunehmen und interessant: Daß Musik tiefe Gefühle in uns anspricht, wissen wir alle - und zu diesen gehören auch Wut, Zorn, Ärger...


    Liebe Gurnemanz,


    bevor ich auf Deine Frage nach konkreten Kunstwerken eingehe, darf ich vielleicht auch noch eine Vorbemerkung machen, die allgemeineren Charakters ist.


    Musik ist eine Kunst, die in der Zeit verläuft. Was sie auszeichnet, ist die Bewegung in einem Tonraum, die an einen bestimmten Rhythmus gebunden ist. Wenn man sich auch die abendländische Musik beschränkt, so ist mit dieser Bewegung der Aufbau von Spannungen (ob durch Stauungen oder Dissonanzen) und ihr Abbau verbunden (etwa durch die Kadenz). Eine spannungslose Musik mag zwar zur Meditation dienen, aber wird doch im allgemeinen als wenig unterhaltend verstanden.


    Die Frage, ob Spannungen da sind, ist mE also in der Regel schon beantwortet, es fragt sich nur, wie sie aufgebaut werden, wie sie ausgehalten werden, wie sie gelöst werden.


    Beethovens Fünfte ist so ein Meisterwerk im Aufbau von Spannungen, in der musikalischen - manchmal abrupten - Entladung und in dem weitgespannten kathartischen Ende, in dem sich alle Spannungen in einem Jubelhymnus lösen. Wenn man Spannung mit "Aggression" übersetzt, so ist die Fünfte (gerade der 1. Satz) außerordentlich aggressiv, wenn man will auch kriegerisch. Allerdings in dem Sinne, in dem "der Krieg der Vater aller Dinge" ist. Denn ich kenne keine andere Musik, die bei mir so unkriegerisch in der Gesamtwirkung ist, sie nimmt die offenen und versteckten Aggressionen auf, "führt sie durch", d.h. macht sie zum Thema einer geistig-ästhetischen Auseinandersetzung - und löst sie triumphal am Ende auf. Man muss aber diese gewaltige Spannung aushalten, die sich im ersten Satz aufbaut - dann wird man mit den Freuden des Elysiums belohnt.


    Wer sich darauf nicht einlassen mag, hat sein Recht dazu, er versäumt aber mE eben das, was er beklagt: die Überwindung der Agressionen. Wer leugnet denn, dass die Welt voller Aggressionen ist und uns (u.a. durch Reizüberflutung) zunehmend aggressiver macht. Da ist es ein wichtiger Prozess, sich diesen Aggressionen zu stellen, sie ästhetisch zu fassen und sie zu überwinden.


    Für viele reicht da Beethoven schon nicht mehr aus, sie sehen die Welt in viel aggressiveren Klängen repräsentiert und der Weg, diese zu bewältigen, ist oft schwer zu finden oder gar unmöglich - wie will man nach einem Genozid beschwichtigen?


    Für andere ist offensichtlich Beethoven schon zu viel des Abbildes dieser Welt, sie möchten weniger Spannung und schnellere Auflösung. Da will ich nicht hereinreden, sondern nur eine Anekdote zum Schluss beitragen:


    Als Mutter Bach die Ihrigen zum Mittagsmahle rief, da sie mit Vater Bach Unterricht hatten, sprang einer der Jungs mitten in der Kadenz auf und lief zum Tisch. Vater Bach blieb sinnend stehen, dann setzte er sich ans Instrument und führte die Kadenz zu Ende. Erst dann konnte nun auch er zu Tische gehen ...


    (frei nacherzählt)


    Liebe Grüße Peter

  • Zum Beispiel:


    Haydn
    etliche Ecksätze in den mittleren Moll-Sinfonien, z.B. #45, Kopfsatz
    Sinfonie Nr. 102, Kopfsatz


    Mozart
    KV 466, Finale
    KV 504, Finale


    Beethoven
    Kreutzersonate, Presto
    op. 95, Anfang


    u.v.a.


    Schubert
    Quartett d-moll, Ecksätze
    Mut!
    Wandererfantasie, Anfang


    Bruckner
    8., Beginn des Finales
    9., Scherzo


    Mahler
    6., Kopfsatz, besonders auch der Anfang
    5., 2. Satz
    9., Rondo-Burleske


    Wäre ja auch ein Jammer, wenn Musik diesen Affekt gar nicht ausdrücken könnte...


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Thomas Pape
    im Vorgriff auf die vielen zu gewärtigenden Antworten auf diese Frage ein bündelndes Statement: Wahr ist nicht, was ein Sender sendet, wahr ist, was beim Empfänger ankommt. (gilt auch für die diesen Thread veranlassenden Beiträge).


    Lieber Thomas,


    den Zeichenbegriff mit dem Wahrheitsbegriff zu verbinden, finde ich kühn, aber falsch. "Was ist Wahrheit" hat ein uns Älteren nicht ganz unbekannter Vertreter der staatlichen Gewalt gefragt, bevor er sich gegen seine Erkenntnis von einer mobbenden Gruppe zu einem Akt größter Ungerechtigkeit verleiten ließ.


    Für die Fragestellung allerdings ist es durchaus angemessen zu sagen, dass es um die Empfindungen geht, die man beim Hören der Musik hat, nicht die, die man der Meinung eines anderen nach haben sollte. Es geht also um eine psychologische, nicht eine ästhetische Fragestellung.


    Meiner Erfahrung nach sind die Eindrücke, die ein Werk vermittelt, umso desperater, je weniger man das Werk kennt, bzw. sich auf das Werk einlässt. Auch bei den Kennern wird es mehrere Meinungen geben, aber die lassen sich in der Regel auf wenige, aber zentrale kontroverse Punkte beschränken.


    Um Dir zum Abschluss dafür nur ein Beispiel zu geben. Ein guter Freund, Komponist seines Zeichens, lehnte Mozarts Requiem von vorneherein ab, weil er es als zu fröhlich empfand. Er hatte sich überhaupt nicht auf die Tonsprache Mozarts eingelassen und sie nur an der seinen gemessen. Inzwischen - nach Jahren! - hat er Mozart entdeckt - dieses lieto fine möchte ich nicht verschweigen, wohl aber meinen Anteil.


    Liebe Grüße Peter

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Zitat

    Original von pbrixius
    Für andere ist offensichtlich Beethoven schon zu viel des Abbildes dieser Welt, sie möchten weniger Spannung und schnellere Auflösung. Da will ich nicht hereinreden, sondern nur eine Anekdote zum Schluss beitragen:


    Als Mutter Bach die Ihrigen zum Mittagsmahle rief, da sie mit Vater Bach Unterricht hatten, sprang einer der Jungs mitten in der Kadenz auf und lief zum Tisch. Vater Bach blieb sinnend stehen, dann setzte er sich ans Instrument und führte die Kadenz zu Ende. Erst dann konnte nun auch er zu Tische gehen ...


    (frei nacherzählt)


    Auch ich als Hörer versuche, wenn nur irgendwie möglich, zu vermeiden, ein Musikstück vor seinem natürlichen Ende abzubrechen - gerade bei tonaler Musik, weil das Nichthören der Auflösung für mich unerträglich ist.


    :hello: Martin

  • Mir fällt da ganz spontan die Oper Bernarda Albas Haus ein, die Aribert Reimann 2000 in München uraufgeführt hat. Dieses dreiaktige Drama verfasste Federico García Lorca (1898–1936) und Harry Kupfer inszenierte.


    Bis dahin hatte ich noch keine Erfahrung mit dieser Art von Komposition gemacht, die vom Klangkörper sehr reduziert und auch nur von Frauen gesungen wurde.... teilweise so schrill, dass ich das Gefühl habe, es klingt immer noch in meinen Ohren nach. Diese schreckliche Geschichte der Familie, die auferlegt bekam 8 Jahre auf engstem Raum (verstärkt durch Stühle, die von überall her in den Raum ragten) zu trauern, konnte meiner Ansicht nach aber auch kaum nachvollziehbarer vertont werden. Gerade in der ersten halben Stunde empfand ich die Musik so unglaublich aggressiv, dass ich das Gefühl hatte, gleich durchzudrehen, laut zu schreien und auch, wie ganz viele in der Galerie, panikartig zu fliehen. Ich ließ mich dann aber weiter auf alles ein, hielt durch und möchte dieses Opernereignis auf keinen Fall missen. Hatte aber nicht den Mut, noch einmal in diese Oper zu gehen. Leider hielt sie sich auch nicht sehr lange in München.


    Eine sehr gute Rezension dieser Aufführung fand ich hier: "http://www.operundtanz.de/archiv/2000/06/bericht-muenchen.shtml"


    Herzliche Grüße
    Ingrid

  • Zitat

    Original von pbrixius


    Lieber Thomas,


    den Zeichenbegriff mit dem Wahrheitsbegriff zu verbinden, finde ich kühn, aber falsch.


    Lieber Peter,


    das mag aus Sicht Deiner wissenschaftlichen Disziplin durchaus richtig sein (eine Diskussion des Begriffes "Wahrheit" als solchen habe ich auch gar nicht im Sinn, sondern Wahrheit als "als wahr" empunden im Sinne einer Sender-Empfänger-Kommunikation oder, wenn Du so willst, des Stimulus-Response-Modells verwendet). Wie richtig dieser Satz ist (übrigens gar nicht so weit vom Thomas-Theorem entfernt), zeigt Tamino nur allzu trefflich.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von Thomas Pape
    das mag aus Sicht Deiner wissenschaftlichen Disziplin durchaus richtig sein (eine Diskussion des Begriffes "Wahrheit" als solchen habe ich auch gar nicht im Sinn, sondern Wahrheit als "als wahr" empunden im Sinne einer Sender-Empfänger-Kommunikation oder, wenn Du so willst, des Stimulus-Response-Modells verwendet). Wie richtig dieser Satz ist (übrigens gar nicht so weit vom Thomas-Theorem entfernt), zeigt Tamino nur allzu trefflich.


    Lieber Thomas,


    das Thomas-Theorem bezieht sich auf Wirksamkeit, nicht auf Wahrheit, das ist ein entscheidender Unterschied. Ich habe auch das Modell erkannt, da wird aber nicht quasi auf eine Seite abgebildet. Dass dieses Kommunikationsmodell ohnedies unvollständig ist, möchte ich nur im Vorbeigehen bemerkt haben.


    Um es ein wenig differenzierter anzugehen und zum Thema des Threads zurückzukehren (ich lege nun Schulz von Thun 1981 aus naheliegenden Gründen zugrunde), so muss man auf der Empfängerseite Wahrnehmung, Interpretation und Gefühl unterscheiden. Dabei ist der Empfänger nach Schulz von Thun für seine Reaktion verantwortlich, nicht der Sender für die Reaktion des Empfängers. Es muss immer in einem ersten Schritt herausgefunden werden, was einem ein Sender mitteilen will. Zitat: Erst mit der Zeit bin ich dahinter gekommen, dass ich oft gar nicht auf andere Menschen reagiere, wie sie sind, sondern auf die Phantasien, die ich mir von ihnen mache. (S. 75) Entscheidend ist es, dass man sie an der Realität überprüft. Wenn man da mit seiner Wahrnehmung einsam steht, braucht das nicht an allen anderen zu liegen. Da die Reaktion eines Empfängers weitgehend sein eigenes Werk ist, muss er es - etwa über einen Meinungsaustausch - überprüfen, da es sonst zum zwischenmenschlichen Tribunal wird, bei der es um die Fragen geht, wer ist schuld und wer hat Recht. Feedback ist die Antwort, nicht die Kommunikationsverweigerung oder der Rückzug.


    Bei Musik hat man es mit einem ästhetischen Zeichensystem zu tun, dessen Zeichen man kennen muss, um eine Äußerung in dem System angemessen zu deuten. Mache ich das nur senderzentriert, dann gibt es keinen Grund, warum ich meine Auffassung der Botschaft überprüfen sollte. Ich empfinde es eben so, fertig - aus! Dann aber macht es auch wenig Sinn, meine Empfindungen anderen mitzuteilen, außer ich halte mich so wichtig, dass meine Empfindungen anderen wichtig sein müssten, solche Eitelkeiten sind - hoffentlich - Taminos fern. Will ich mich also ästhetisch verständigen, dann geht das über Kommunikation - und da sind Empfänger und Sender gleich wichtig (wie auch die Frage: Wie hat es der Sender gemeint).


    Die sprachliche und ästhetische Kommunikation steht aber im gesellschaftlichen Raum - und da spielt eben auch der Kontext der Kommunikation eine wichtige Rolle und die Regeln einer Gemeinschaft. Bestimmte musikalische Vorgänge werden in anderen Kulturen notwendigerweise anders verstanden, weil abgesehen von der Lautmalerei das Zeichen eben arbiträr ist und der Konvention bedarf.


    Liebe Grüße Peter

  • Hallo zusammen!


    Für mich gibt es keine aggressive Musik an sich, sondern nur Werke, die mich beim Anhören aggressiv machen, das ist ein grosser Unterschied, finde ich. Und diese Werke befinden sich in der Regel nicht im Klassik-Bereich, sondern im Rock-, und Heavy Metal-Bereich. Diese Musik kann ich mir meistens nicht anhören, ohne sehr, sehr aggressiv zu werden.


    Sicher gibt es im Klassik-Bereich auch einzelne Werke, die man als kriegerische Musik empfinden kann, aber ich glaube, das liegt nicht in der Musik selbst, sondern an der eigenen Stimmung zum Zeitpunkt des Hörens bzw. womöglich an der eigenen Lebensgeschichte. Ich jedenfalls empfinde beim Hören Klassischer Musik kaum Aggressivität, sehr viel davon hingegen, wie gesagt, beim Hören von Rock-Musik.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Interviebanner 1 Gelbe Rose
  • wie wäre es mit


    Gustav Holst, The Planets, Mars the bringer of war


    kriegerischer geht's wohl kaum ...

    Es wird immer weitergehn, Musik als Träger von Ideen.

    Kraftwerk

  • So schnell wie ich hier antworten wollte, musste ich doch bereits beim ersten geplanten Satz innehalten und überlegen, was agressiv im musikalischen Sinne bezeichnet.


    Nimmt man bspw. das benannte Die Planeten - Mars von Gustav Holst oder Werke von Jon Leifs, so würde man hier im ersten Moment von agressiver Musik sprechen. Aber eigentlich trifft es das nicht besonders gut. Die Musik ist eher brachial, martialisch, tösend, bedrohlich, vielleicht sogar brutal. Aber agressiv? ?( :no:


    Nach einigem Nachdenken kam mir die Minimal Music in den Sinn. Werke wie Six Pianos oder In C sind extrem repitativ aufgebaut und besitzen daher ähnlich wie elektronische Tanzmusik einen sehr treibenden Charackter. Dieses antreibende, nie nachlassende und nie loslassende Moment könnte man vielleicht auch als afressiv bezeichnen. Aber auch hier scheint mir der Begriff agressiv nicht recht passend.


    Und so komme ich nach längerem überlegen dazu, dass mir kein einziges agressives Musikstück einfällt. Vielleicht eignet sich das Wort einfach nicht dazu, Musik zu beschreiben?


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Also ich meine mit aggressiv nicht, daß die Musik mich aggressiv macht. Sondern schon den Charakter der Musik, der nicht einfach mit energisch, vital oder sogar brutal beschrieben werden kann. Brutal fände ich noch mehr zB bei Bruckner, aber aufgrund der meist eher getragenen Tempi und anderer Aspekte, nicht unbedingt aggressiv. Aber wenn bei Mahler als Vortragsbezeichnung steht: "mit größter Vehemenz", "wild herausfahrend", "trotzig" usw., geht das für mich schon allein deswegen in Richtung Aggression. Etwas, was einen anspringt wie ein wildes Tier. Es gibt sicher noch andere Vergleiche, mit denen man diesen Gestus beschreiben könnte. Jemand schrieb mal über eine Polonaise von Chopin (vermutlich die berühmte As-Dur), sie habe die Energie einer Kavallerieattacke oder so ähnlich. Da ich noch nie geritten bin, geschweige denn mit den polnischen Husaren, kann ich das natürlich nur auf einer allgemeineren Ebene nachvollziehen. Aber ganz verfehlt scheint mir das Bild nicht.
    Wobei man heute da gewiß vorsichtiger ist und andere Vergleiche und Metaphern wählt.



    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Im "Spätexpressionismus" :P - also in betont emotional aufgewühlter Musik, die die Mittel einer gemäßigten Avantgarde der Nachkriegszeit mit denen einer orchestral massiven Spätromantik verknüpft - fallen mir spontan zwei Namen, zwei durchaus unterschiedliche Musikerpersönlichkeiten ein.


    Wesentlich erscheint mir die persönliche Prägung in vielen Sinfonien von Allan Pettersson. Das Leiden am subjektiven Schicksal wird zu einem künstlerischen sublimierten Leiden an der Existenz schlechthin; die musikalische Darstellungsweise ruft bei mir Aggression und Melancholie hervor und trägt nicht selten zu einer Katharsis bei, die mir bei entsprechender Befindlichkeit zu helfen vermag. :yes: - Dem Komponisten dürfte es auch derart ergangen sein. Er hat sich diesbezüglich auch unmissverständlich geäußert, wie man den informativen cpo-Booklets entnehmen kann.


    Einen vergleichbaren Effekt auf ähnlicher musikalischer Basis und mit ganz ähnlicher Wirkung empfinde ich beim Hören von André Jolivets Cellokonzert Nr. 2 aus den sechziger Jahren - während mich das zehn Jahre ältere zweite Trompetenkonzert viel beschwingter und heiterer stimmt. Dies bewirkt meines Erachtens der bisweilen von Clustern geprägte, quasi schreiende Streichersatz zusammen mit dem expressiven Solopart.


    Da gäbe es wohl noch viele Beispiele ...


    Besten Gruß, Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Zitat

    Original von pbrixius
    Beethovens Fünfte ist so ein Meisterwerk im Aufbau von Spannungen, in der musikalischen - manchmal abrupten - Entladung und in dem weitgespannten kathartischen Ende, in dem sich alle Spannungen in einem Jubelhymnus lösen. Wenn man Spannung mit "Aggression" übersetzt, so ist die Fünfte (gerade der 1. Satz) außerordentlich aggressiv, wenn man will auch kriegerisch. Allerdings in dem Sinne, in dem "der Krieg der Vater aller Dinge" ist. Denn ich kenne keine andere Musik, die bei mir so unkriegerisch in der Gesamtwirkung ist, sie nimmt die offenen und versteckten Aggressionen auf, "führt sie durch", d.h. macht sie zum Thema einer geistig-ästhetischen Auseinandersetzung - und löst sie triumphal am Ende auf. Man muss aber diese gewaltige Spannung aushalten, die sich im ersten Satz aufbaut - dann wird man mit den Freuden des Elysiums belohnt.
    Wer sich darauf nicht einlassen mag, hat sein Recht dazu, er versäumt aber mE eben das, was er beklagt: die Überwindung der Agressionen.


    Lieber Peter,


    so sehr ich in der hiesigen Debatte bei Dir bin: hier bitte ich Dich noch einmal zu überdenken, ob nicht auch ganz andere Schlüsse zulässig sind. Du schreibst ja, zunächst, daß Du keine andere Musik kennst, dir Dir in ihrer Gesamtwirkung derart unkriegerisch daherkommt wie Beethovens 5. (Ist dem wirklich so? Empfndest Du KV 299 oder KV 622 in ihrer Gesamtwirkung als kriegerischer??). Dann sagst Du, es sei jedem sein gutes Recht, die aufgebauten Spannungen nicht auszuhalten und vorzeitig die Segel zu streichen. Demjenigen unterstellst Du, das triumphale auflösende Ende zu und jene Wirkung zu versäumen, die das Werk bei Dir auslöst.
    Offen bleibt und IMO nur subjektiv beantwortet werden kann doch die Frage, ob das triumphale Ende ein Sieg über die den Krieg, über vernichtende Kräfte und ein Appell an die Menschlichkeit ist oder ob es das triumphale Ende des Siegers eines Krieges ist - die Ambivalenz macht doch so manchen Beethoven gerade anfällig für eine Instrumentalisierung. Eine Egmont-Ouverture lässt sich doch wesentlich leichter mißbrauchen kriegsmüde Geister zu wecken als die Tiefenauslotung einer op.111 oder die Noblesse des Erzherzog-Trios.


    Die unkriegerischste Musik, die ich kenne, ist Musik, die in ihrer Statik absolutes Nichtempfinden zum Ausdruck bringt: z.B. Saties Trois Gymnopedies.


    Ich hoffe, Dich da nicht missverstanden zu haben, aber ich bin wie gesagt der Ansicht, daß die 5. durchaus die unkriegerischste Musik sein KANN, aber nicht muss. Es ist [eine] Lesart.


    :hello:
    Wulf

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Aber wenn bei Mahler als Vortragsbezeichnung steht: "mit größter Vehemenz", "wild herausfahrend", "trotzig" usw., geht das für mich schon allein deswegen in Richtung Aggression.


    Ich weiß nicht, ob ich das als aggressiv bezeichnen würde. Bei Wikipedia steht als Definition zu Aggression:


    Zitat

    Aggression (lat. aggredi „herangehen“, „angreifen“) „ist jegliche Verhaltensform, die das Ziel hat, andere Lebewesen zu schädigen oder zu verletzen, welche motiviert sind, dem zu entgehen, oder Dinge zu beschädigen, bzw. zu zerstören, insoweit dies nicht ihre gesellschaftlich zugewiesene Aufgabe ist.


    Man kann das jetzt auf die Musik - rein innermusikalisch - übertragen. Also wenn in der Musik die Ordnung oder Ruhe plötzlich zerstört wird, wäre dies ein aggressives Ereignis? Dann gäbe es etliche aggressive Musik. Wenn man als aggressive Musik nur diejenige bezeichnet, die Assoziationen mit Aggressivität im realen Leben hervorruft, dann wäre Beethovens Musik für mich nicht im geringsten aggressiv, denn dafür ist sie viel zu abstrakt.


    Die von dir als erstes erwähnte Passage bei Mahler klingt für mich eher schockierend. Aggressiv klingt so nach ungebändigter Angriffslust, während ich hier eher das Gefühl eines zwangsläufig eintretenden, fast vorhersehbaren Einbruchs habe.
    Wir müssen hier also wie immer aufpassen, dass wir (wie du auch schon erwähnst) Begriffe wie aggressiv, brutal, schockierend, provokant, etc. nicht durcheinander werfen - oder?

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Zitat

    Original von Wulf
    hier bitte ich Dich noch einmal zu überdenken, ob nicht auch ganz andere Schlüsse zulässig sind.


    Lieber Wulf,


    soweit es um individuelles Erleben geht, gibt es auch andere Schlüsse. Der bekannteste ist das "Per aspera ad astra", ein ganz geläufiges Schema in der Musik, das es schon lange vor Beethoven gibt. Auch hier könnte man den "Mühen" (oder die andere Analogie, dem Dunkel) das Ungenehme zu ordnen, das es erst wieder zu überwinden gilt, um zum angenehmen, den "Sternen" (oder dem Licht) zu gelangen. Je stärker der Kontrast zwischen den beiden Polen ist, je intensiver das Ringen um Erlösung, umso überzeugender ist dann das Erreichen des Zieles. Insofern kann man auch auf anderem Weg zu derselben Schlussfolgerung kommen. Bei Beethoven gibt es natürlich noch die politische Komponente, die hier nicht vernachlässigt werden darf - aber da sind wir bei der "Sender"-Intention ...


    Zitat

    Du schreibst ja, zunächst, daß Du keine andere Musik kennst, dir Dir in ihrer Gesamtwirkung derart unkriegerisch daherkommt wie Beethovens 5. (Ist dem wirklich so? Empfndest Du KV 299 oder KV 622 in ihrer Gesamtwirkung als kriegerischer??). Dann sagst Du, es sei jedem sein gutes Recht, die aufgebauten Spannungen nicht auszuhalten und vorzeitig die Segel zu streichen. Demjenigen unterstellst Du, das triumphale auflösende Ende zu und jene Wirkung zu versäumen, die das Werk bei Dir auslöst.


    Dies war - zugegebenerweise - eine rhetorische Übertreibung, die aber ihren realen Bezug hat. Ich halte den Gebrauch des Wortes "kriegerisch" auf die Musik für verfehlt. Wer immer Krieg kennt, wird als ein zentrales Kennzeichen die Menschenfeindlichkeit, die Barbarei sehen. In diesem Sinne ist die Fünfte eben das Gegenteil, ein Werk, das gerade auch in der Auseinandersetzung auf Menschlichkeit setzt. Deshalb ist auch die Zuweisung des Attributes "aggressiv" beim Werk Beethoven - spätestens von der Warte unserer Zeit her - mE verfehlt. Dass es Ideologen im 20. Jahrhundert gab, die Beethoven gerade in den Dienst ihrer Menschenfeindlichkeit nehmen wollten, ist für mich ein Missbrauch.


    Ich bitte die rhetorisch geprägte Hyperbel hier zu entschuldigen, ohne dass ich mich dabei anklagen möchte :D



    Zitat

    Offen bleibt und IMO nur subjektiv beantwortet werden kann doch die Frage, ob das triumphale Ende ein Sieg über die den Krieg, über vernichtende Kräfte und ein Appell an die Menschlichkeit ist oder ob es das triumphale Ende des Siegers eines Krieges ist - die Ambivalenz macht doch so manchen Beethoven gerade anfällig für eine Instrumentalisierung. Eine Egmont-Ouverture lässt sich doch wesentlich leichter mißbrauchen kriegsmüde Geister zu wecken als die Tiefenauslotung einer op.111 oder die Noblesse des Erzherzog-Trios.


    Wie gesagt, missbrauchen kann man Musik immer. Genausogut könnte man Haydns "Gott erhalte Franz den Kaiser" und das Kaiserquartett als Mobilisierungsstation eines fanatischen Nationalismus orten. Eine harmonische Musik, die über die Konflikte hinweglügt, ist für mich da "gefährlicher". Wenn man mal nachschlägt, welche Musik in den KZs aufgeführt wurde, könnte man bei ganz anderen Werken erschauern als bei Beethovens Fünfter.


    Ich nenne nun einfach mal diese Beispiele, um die Weite der persönlichen Assoziationsmöglichkeiten aufzuzeigen, die am Ende immerhin der erfreuliche Ergebnis haben könnten, dass man nur noch aktuell komponierte Werke hören kann. Übrigens kann Dir JR mal erzählen, wie in einem anderen Forum, dem er wie ich angehörte, Elgars "Pomp and Circumstances" als Ausdruck der unmenschlichen englischen Kolonialpolitik verstanden wurde, die Gutmensch möglichst auch nicht hören sollte. Ich habe die Märsche eigentlich immer als ein wenig schräg und gar nicht so sehr militaristisch gesehen. Nun, die Geschmäcker sind eben verschieden ...



    Zitat

    Die unkriegerischste Musik, die ich kenne, ist Musik, die in ihrer Statik absolutes Nichtempfinden zum Ausdruck bringt: z.B. Saties Trois Gymnopedies.


    Ich hoffe, Dich da nicht missverstanden zu haben, aber ich bin wie gesagt der Ansicht, daß die 5. durchaus die unkriegerischste Musik sein KANN, aber nicht muss. Es ist [eine] Lesart.


    Da sind wir uns sicher einig.


    Liebe Grüße Peter

  • Von einem taminofreien Tagesausflug zurückkehrend, finde ich interessante Beiträge zu den von mir aufgeworfenen Fragen - vielen Dank an alle!


    Zitat

    Original von Thomas Pape
    Wahr ist nicht, was ein Sender sendet, wahr ist, was beim Empfänger ankommt.


    Hm, Du nennst selbst Beispiele, die ich für treffend halte:


    Zitat

    Zwei Besispiele für (von mir so empfunden) martialisch hätte ich immerhin: Schostakowitsch Sinfonie Nr. 7 Satz 1 und Sinfonie Nr. 11 Satz 2. (beidemale das Schlachtgetümmel, dagegen ist Wellingtons Sieg liebliche Schalmeienmusik).


    Gerade Schostakowitschs 11. habe ich mir heute zweimal angehört: Wenn der 2. Satz mit den brutalen Schlagzeugkaskaden nicht offene unverhüllte Aggression darstellt, auch unabhängig von meinen Empfindungen, dann weiß ich auch nicht... Allerdings höre ich gerade hier noch mehr heraus: Schmerz, Verzweiflung, tiefe Trauer, die in den leiseren Phasen, deutlich im 3. Satz hervorbricht - beim ersten Hören hat es mich wütend gemacht, beim zweiten Hören traurig.

  • Zitat

    Original von pbrixius
    Wenn man Spannung mit "Aggression" übersetzt, so ist [Beethovens] Fünfte (gerade der 1. Satz) außerordentlich aggressiv, wenn man will auch kriegerisch. Allerdings in dem Sinne, in dem "der Krieg der Vater aller Dinge" ist. Denn ich kenne keine andere Musik, die bei mir so unkriegerisch in der Gesamtwirkung ist, sie nimmt die offenen und versteckten Aggressionen auf, "führt sie durch", d.h. macht sie zum Thema einer geistig-ästhetischen Auseinandersetzung - und löst sie triumphal am Ende auf. Man muss aber diese gewaltige Spannung aushalten, die sich im ersten Satz aufbaut - dann wird man mit den Freuden des Elysiums belohnt.


    Eine schöne Beschreibung, die mir zeigt (wie im Schostakowitsch-Beispiel), daß aggressiv scheinende Stellen nicht aus dem Gesamtzusammenhang eines Werks herausgelöst werden dürfen. Würde ich eine Kritik an Beethoven in dem Sinne anbringen, daß ich ihn in der Fünften "kriegerischer" Affirmation bezichtigen wollte, dann käme für mich eher der Schlußsatz ins Visier: Das triumphale Auflösen am Ende, das Du anführst, in der Art militärischen Auftrumpfens. Ähnlich in der Neunten, aber beide Werke sind viel zu komplex, als daß ich ihnen gewaltverherrlichende Intentionen unterschieben wollte. Immerhin: Mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, dem Wissen um die Folgen von Aggression in den Weltkriegen - was Beethoven natürlich nicht ahnen konnte -, mit diesen Erfahrungen ist mir an den Schlüssen der 5. und 9. manches suspekt, so weit würde ich schon gehen.


    Zitat

    Wer immer Krieg kennt, wird als ein zentrales Kennzeichen die Menschenfeindlichkeit, die Barbarei sehen. In diesem Sinne ist die Fünfte eben das Gegenteil, ein Werk, das gerade auch in der Auseinandersetzung auf Menschlichkeit setzt.


    Gerade hier empfinde ich in der Schlußapotheose Unbehagen: Menschlichkeit ja, aber mit welchen Mitteln?

  • Zitat

    Original von Erna
    Für mich gibt es keine aggressive Musik an sich, sondern nur Werke, die mich beim Anhören aggressiv machen, das ist ein grosser Unterschied, finde ich.


    Da bin ich mir nicht so sicher: Vielleicht können wir uns aber darauf einigen: Es gibt Musik, die Aggressivität in irgendeiner Weise thematisiert (kritisch, vielleicht verherrlichend oder einfach aus schmerzhafter Regung heraus...), unabhängig davon, wie es auf mich wirkt. Die Bezeichnung "aggressive Musik" ist für sich genommen ziemlich pauschal, das gebe ich zu.


    Zitat

    Und diese Werke befinden sich in der Regel nicht im Klassik-Bereich, sondern im Rock-, und Heavy Metal-Bereich. Diese Musik kann ich mir meistens nicht anhören, ohne sehr, sehr aggressiv zu werden. [...] Ich jedenfalls empfinde beim Hören Klassischer Musik kaum Aggressivität, sehr viel davon hingegen, wie gesagt, beim Hören von Rock-Musik.


    Da geht's mir ganz genauso - z. B. wenn derartiger Lärm aus einem vorbeifahrenden Auto herausschallt. Ob Heavy Metal selbst aggressiv sein kann, fände ich interessant zu wissen, kann aber selbst nichts dazu sagen, da ich dieser Musik aus dem Wege gehe.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Interviebanner 1 Gelbe Rose
  • Zitat

    Original von Gurnemanz
    Würde ich eine Kritik an Beethoven in dem Sinne anbringen, daß ich ihn in der Fünften "kriegerischer" Affirmation bezichtigen wollte, dann käme für mich eher der Schlußsatz ins Visier: Das triumphale Auflösen am Ende, das Du anführst, in der Art militärischen Auftrumpfens. Ähnlich in der Neunten, aber beide Werke sind viel zu komplex, als daß ich ihnen gewaltverherrlichende Intentionen unterschieben wollte. Immerhin: Mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, dem Wissen um die Folgen von Aggression in den Weltkriegen - was Beethoven natürlich nicht ahnen konnte -, mit diesen Erfahrungen ist mir an den Schlüssen der 5. und 9. manches suspekt, so weit würde ich schon gehen.



    Gerade hier empfinde ich in der Schlußapotheose Unbehagen: Menschlichkeit ja, aber mit welchen Mitteln?


    Lieber Gurnemanz,


    zwei Argumente dagegen:


    1) der gewaltige Aufbau im 1. Satz braucht in der klassischen Diktion ein gemäßes Gegengewicht, deshalb ist der 4. Satz außerordentlich knapp formuliert.


    2) die Fünfte und die Sechste begreife ich als Doppelwerk, wie die Fünfte nicht ohne "Natur" ist, so ist die Sechste nicht nur "Natur". Es gibt eine Vielzahl von Beziehungen zwischen den beiden Sinfonien, es seien nur zwei äußerliche genannt, die beiden Sinfonien sind zusammen veröffentlicht worden und tragen beide dieselbe Widmung. Mehr liest man u.a bei Cadenbach (in Riethmüller et. al.: Beethoven, Interpretation seiner Werke, Bd. 1, S. 499-502). Insofern verliert der vierte Satz seine "abschließende" Wirkung (damit auch die Affirmation) und korrespondiert mit dem Dankgebet am Ende der Sechsten.


    Das von Dir als affirmativ Verstandene entstammt u.a. der Replik auf die französische Opern-, Fest- und Agitationsmusik, allerdings aus einer postrevolutionären Perspektive. Wer diese Brechungen nicht wahrnimmt, kommt eben darauf, dass hier affirmiert werden soll. Nur darf man Beethoven nicht für unsere mangelnder historischer Kenntnis geschuldeten Missverständnisse verantwortlich zu machen. Eine gute Aufführung (in meinem Sinne) wird gerade die Brüche und auch das Nichtabgeschlossene trotz und gerade wegen der immer wiederholten Kadenz am Ende wahrnehmbar machen.


    Liebe Grüße Peter

  • Ohne jetzt haarspalterisch sein zu wollen, möchte ich doch der Frage auf den Grund gehen, was Musik und Aggression miteinander zu tun haben.


    Das Musik aggressiv IST, denke ich, kann nicht sein. Dass jemand Instrumente oder Stimme beharkt, hat an sich noch niemandem weh getan oder jemand angegriffen. Musik ist jedoch permanent Spannung, weil, wie Peter schrieb, in einen Zeitablauf und Rhythmus geschehend (Peter, bitte verzeihe die sinngemäße Wiedergabe). Spannung ist Voraussetzung für Aggression, aber nicht jede Spannung führt zu Aggression.


    Musik kann aber aggressiv WIRKEN oder gar MACHEN. Dies liegt im Auge oder Ohr des Betrachters bzw. Hörers und in diesem Punkt stimmt der Satz von Thomas Pape darüber, dass die „Wahrheit“ beim Empfänger und nicht beim Sender liegt. Dieses divergierende subjektive Empfinden der „gefühlten“ Wahrheit führt oft zu Missverständnissen und ist wohl die Grundlage für die letzte harte Kontroverse.


    Der bewusste Satz führt zu sehr konstruktiven Assoziationen, z. B. die Anregung, sich um höchstmögliche Klarheit bei kommunikativen Prozessen zu bemühen, aber der Wahrheitsbegriff im absoluten Sinne klammert hier wichtige Aspekte, z. B. die Möglichkeit nachträglicher Klärungen aus.


    Wenn mir jemand mit unkontrollierter Aggression gegenübertritt, mit Hass, der nicht reflektiert ist, dann stößt mich das ab. Musik (-Interpretation) kann diese Intention durchaus haben. Das ist vor allem dann der Fall, wenn hinter der Interpretation eine aggressive und menschenfeindliche Ideologie wie der Faschismus steht. Eine so getragene Interpretation kann meines Erachtens sogar aus dem lieblichsten Lied – in der Regel vom Komponisten ganz anders motiviert (wer tot ist, kann sich ja nicht mehr wehren) was ganz Perfides machen. Hier sind wir auch beim Missbrauch von Musik. Der macht sicher fassungslos und auch wütend.


    Dahingehend ist gerade mit Wagner einiges passiert und es lässt nachvollziehen, das entsprechend Gepeinigte – wie z. B. KZ – Häftlingen, die mit Wagner – Musik „begrüßt“ worden, davon nichts mehr wissen wollen.


    Trotzdem ist jemand, der unter „normalen“ Unständen diese Musik kennengelernt hat und daran Positives entdeckt hat, noch lange kein Nazi oder Kriegsverherrlicher.


    Ingrid hat dankenswerter Weise Bernarda Albas Haus eingebracht. Ein gelungenes Bespiel für eine musikalische Aufbereitung einer gewaltgeschwängerten Familienstruktur, für die die Stilmittel der Moderne m. E. die ideale Umsetzung ermöglichen. Das Werk ist bemüht, die psychologischen Hintergründe der Gewalt zu erhellen und trägt, wenn man als Opernkonsument zu einer anstrengenden Auseinandersetzung bereit ist, m. E. dazu bei, über Aggressionsentstehung und die Verhältnisse dazu aufzuklären.


    Es wäre schade, wenn Musik dem Thema Aggression pauschal ausweichen würde. Die Chance einer konstruktiven Auseinandersetzungsform wäre ungenutzt.


    LG
    :hello:


    Ulrica

  • Zitat

    Original von Ulrica
    Musik kann aber aggressiv WIRKEN oder gar MACHEN. Dies liegt im Auge oder Ohr des Betrachters bzw. Hörers und in diesem Punkt stimmt der Satz von Thomas Pape darüber, dass die „Wahrheit“ beim Empfänger und nicht beim Sender liegt. Dieses divergierende subjektive Empfinden der „gefühlten“ Wahrheit führt oft zu Missverständnissen und ist wohl die Grundlage für die letzte harte Kontroverse.


    Liebe Ulrica,


    Du hast mich durchaus sinngemäß zitiert. Ich habe deshalb gegen den Begriff "Wahrheit" protestiert, weil er eine für die Frage fremde Kategorie ist. Es erinnert mich an solche Konstrukte wie "authentische Gefühle". Ich möchte die Problemstellung dialektisch angehen, da ist die subjektive Perspektive nicht ausreichend. Dass die persönlichen Gefühle und Assoziationen eben persönlich sind und als solche auch nicht bezweifelbar, ist ja nur eine Seite der Medaille. Würde man diese allein betonen, ergäbe sich grenzenlose Willkür. Es gibt aber auch eine "Bringschuld" dem Werk vom Hörer/Interpreten her - sonst könnte ja auch jeder Interpret ein Werk darstellen, wie er es möchte. Innerhalb eines sozialen Bezuges gibt es aber dafür von der historisch-gesellschaftlichen Konstellation her deutliche und bestimmbare Grenzen, die einen Konsens voraussetzen und bilden, welche Interpretation akzeptiert wird und welche nicht. Ob man nun auf die Komponisten-Intentionen verweist (wie ich es zumindest andeutungsweise auch getan habe) oder auf innermusikalische Strukturen (was sinnvoller, aber in einem solchen Forum schwieriger darzulegen ist, ohne eine Anzahl der Mitleser außen vor zu lassen), es gibt eben die "Sendung" mit ihren eigenen Gesetzen und es gibt einen gesellschaftlich-historischen Kontext.


    Aggressiv machen kann jede Musik, auch die harmloseste, wenn sie inadäquat aufgeführt wird (etwa extrem laut oder endlos wiederholt, um zwei Beispiele zu nennen). Das meinte ich damit, dass es bei diesen Erscheinungen um etwas geht, das nicht von der Musik ursächlich veranlasst wird, sondern durch einen spezifischen Gebrauch der Musik, also um Außermusikalisches.


    Liebe Grüße Peter

  • Um auf die genannten konkreten Beispiele einzugehen:


    Den "Le Sacre" von Strawinsky empfinde ich als nicht besonders aggressiv. Er ist teilweise sehr laut und schroff, natürlich, aber sehr rhythmisch, tänzerisch, teilweise ekstatisch.


    Die genannten Sinfonien von Schostakowitsch, die 7. und die 11. etwa, sind insofern aggressiv als sie reale Gewalt darstellen. Es kann an den Stellen selbst für den Zuhörer (im Konzertsaal!) schwer zu ertragen sein. Ingo Metzmacher sagte mal bei einer Einführung (sinngemäß), bevor er die 7. von Schostakowitsch dirigierte, dass die Steigerung im ersten Satz wohl zum Lautesten gehört, was es in der Musik gibt, und dass diese Lautstärke auch für ihn als Dirigent schwer zu ertragen sei, dass dies aber zur realistischen Darstellung der Gewalt gehört. Ich persönlich finde die Schlagzeugsequenzen im 2. Satz der 11. noch viel drastischer.


    maticus

  • Zitat

    Original von pbrixius
    [...] der gewaltige Aufbau im 1. Satz braucht in der klassischen Diktion ein gemäßes Gegengewicht, deshalb ist der 4. Satz außerordentlich knapp formuliert.


    Lieber Peter,


    gegen die Knappheit habe ich nichts einzuwenden, mein Unbehagen richtet sich auf den Gestus des Marschmäßigen, aber, wie gesagt, das höre ich heute aus der Distanz anders, auch mit der musikalischen Erfahrung, wie verstellt, gebrochen Fanfaren und Marschrhythmen klingen können (Mahler, Schostakowitsch). Beethovens Triumphieren ließe sich ja noch, auch wenn das auf Mißverständnissen beruhen dürfte und man Beethoven damit nicht trifft, mit marschierenden Wehrmachtstruppen assoziieren (Stanley Kubrick hat es in Clockwork Orange getan); versuchte man Ähnliches mit Schubertschen Militärmärschen, wäre das Ergebnis bloß lächerlich.


    Zitat

    [...] die Fünfte und die Sechste begreife ich als Doppelwerk, wie die Fünfte nicht ohne "Natur" ist, so ist die Sechste nicht nur "Natur". [...] Insofern verliert der vierte Satz seine "abschließende" Wirkung (damit auch die Affirmation) und korrespondiert mit dem Dankgebet am Ende der Sechsten.


    Ein schöner Gedanke; das leuchtet mir ein.


    Zitat

    Nur darf man Beethoven nicht für unsere mangelnder historischer Kenntnis geschuldeten Missverständnisse verantwortlich zu machen. Eine gute Aufführung (in meinem Sinne) wird gerade die Brüche und auch das Nichtabgeschlossene trotz und gerade wegen der immer wiederholten Kadenz am Ende wahrnehmbar machen.


    Auch hier: einverstanden. Und: Man darf nicht vom Komponisten um 1800 eine Reflexion über Gewalt und Affirmation im 20. Jahrhundert verlangen, wohl aber von heutigen Interpreten: Die sind ja nicht auf dem Stand von 1800.


    Keineswegs würde ich Beethoven übrigens unterstellen, er habe mit dem Schluß der Fünften (oder anderswo) dazu aufrufen wollen, daß Menschlichkeit und Freiheit mit militärischer Gewalt durchzusetzen sei. Das läßt mich fragen: Gibt es Gewaltverherrlichung in der (klassischen) Musik? Wenn ja, in welchen Beispielen? Mir selbst fällt momentan nichts ein; es müßte so etwas wie das Gegenteil von dem sein, was Adorno, wenn ich es richtig erinnere, von den Fanfaren und Märschen in den Symphonien Mahlers gesagt hat: Sie seien aus der Sicht der Verschleppten komponiert. Also Ähnliches, nur aus der Sicht der Sieger?

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Zitat

    Original von pbrixius
    Es gibt aber auch eine "Bringschuld" dem Werk vom Hörer/Interpreten her -


    Nein, lieber Peter, ganz eindeutig nein. Eine Bringschuld gibt es erst in dem Moment, wenn der Hörer Interesse hat. Widrigenfalls wird er das Werk beiseite legen, es ignorieren und es wird -wie vielfach auch geschehen- in der Versenkung verschwinden.


    Ein Werk -sei es Musik, ein Bild, ein Buch, was auch immer- ist eben nur ein Angebot unter vielen Angeboten. Der Mensch verfügt nun gottlob über Filter, um aus dem Überangebot von Informationsangeboten das für ihn Irrelevante zurückzuweisen, zu verdrängen, es schlicht zum white noise zu machen. Somit dürfte es Dinge geben, die Dir wichtig sind, die verstehen zu wollen -und ich betone wollen- für andere absolut nicht in Betracht kommt.


    Tatsächlich drehst Du den inkriminierten Satz lediglich mit der Betonung auf den Sender um, was ebensowenig zielführend ist (oder die von Dir als Empfänger-Affekt befürchtete Selbherrlichkeit auf den Sender verlagert).


    Zusätzlich gebe ich zu bedenken, daß Musik, zunächst und vorrangig als Zeichensystem betrachtet - wie Du das anregst- den akffektbewirkenden Klang ausklammert. Das ist nun eine Frage des Betrachtungsstandpunktes: Mein Ausgangspunkt ist immer der Klang, das musikalische Ereignis, das von Zeichen beschrieben wird (mit unseren Notensystemen zuweilen unzureichend: Art Blakeys Schlagzeugrhytmen sind -so mein Kenntnisstand- mit unserem Notensystem nicht aufzuschreiben).


    Was das Thomas-Theorem betrifft brauchst Du gar nicht zu protestieren: Ich habe es in die Nähe meiner ersten Feststellung gerückt, nicht mir ihr gleichgesetzt. Gegen die Verwendung des Wortes "Wahr" in dem von mir eröffneten Zusammenhang magst Du gerne protestieren; unverständlich ist es nicht, wie Deine weiteren Ausführungen gezeigt haben.


    Damit, daß Du einen anderen Standpunkt beziehst, kann ich gut leben, gegen taminotaugliche Invektiven-Polemik bin ich ohnehin resistent.


    Einige richtige Stichworte hast Du auch genannt:


    Zitat

    Für die Fragestellung allerdings ist es durchaus angemessen zu sagen, dass es um die Empfindungen geht, die man beim Hören der Musik hat, nicht die, die man der Meinung eines anderen nach haben sollte. Es geht also um eine psychologische, nicht eine ästhetische Fragestellung.


    Hier allerdings ist Widerspruch angebracht:


    Zitat

    Mache ich das nur senderzentriert, dann gibt es keinen Grund, warum ich meine Auffassung der Botschaft überprüfen sollte. Ich empfinde es eben so, fertig - aus! Dann aber macht es auch wenig Sinn, meine Empfindungen anderen mitzuteilen, außer ich halte mich so wichtig, dass meine Empfindungen anderen wichtig sein müssten, solche Eitelkeiten sind - hoffentlich - Taminos fern.


    Natürlich gibt es senderseitig diesen Grund: Erfolgskontrolle. Was Deine Darstellung des Empfängers betrifft, so ist Dir gewiss selber klar, daß dies eine kaum zulässige Überspitzung ist: Das Ergebnis ist eben Gleichgültigkeit.


    Unsere Auffassungen unterscheiden sich hier:


    Zitat

    Will ich mich also ästhetisch verständigen, dann geht das über Kommunikation - und da sind Empfänger und Sender gleich wichtig (wie auch die Frage: Wie hat es der Sender gemeint).


    Allein im Wort "Sender" liegt eine aktive Position, in "Empfänger" eine passive. Tausche ich also Deinen Vorschlag "verständigen" gegen das meiner Auffassung nach angemessene "mitteilen" aus, dann ergibt sich durchaus eine Gewichtungsverschiebung.


    Ulrica hat das mit ihrem Beispiel auf den Punkt gebracht:


    Zitat

    Dahingehend ist gerade mit Wagner einiges passiert und es lässt nachvollziehen, das entsprechend Gepeinigte – wie z. B. KZ – Häftlingen, die mit Wagner – Musik „begrüßt“ worden, davon nichts mehr wissen wollen.


    Und um im Tamino-Umfeld zu bleiben: Wenn Paul Beethoven als aggressiv empfindet (oder sich ihm bei chinesischer oder indonesischer Musik die Nackenhaare hochstellen), dann wird man das durch keinerlei noch so gelehrte Erläuterungen ändern können.



    Liebe Grüße vom Thomas

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von Thomas Pape


    Nein, lieber Peter, ganz eindeutig nein. Eine Bringschuld gibt es erst in dem Moment, wenn der Hörer Interesse hat. Widrigenfalls wird er das Werk beiseite legen, es ignorieren und es wird -wie vielfach auch geschehen- in der Versenkung verschwinden.


    Lieber Thomas,


    ich bleibe mal bei der Fünften. Du sagst, dass es eine Bringschuld erst dann gebe, wenn der Hörer Interesse habe. Damit setzt Du den Hörer in einer solipsistische Position, als könne der einzelne Hörer für sich entscheiden, was für ihn Interesse hat und was nicht. Sein Interesse ist aber keine zufällige Entscheidung eines geschichts- und gesellschaftlosen Individuums, sondern vermittelt durch die Gesellschaft, an der er notwendig teilhat.


    Deshalb habe ich schon en passant eingewandt, dass Du ein sehr unvollständiges Modell der Kommunikation verwendest, wie ich es aus dem 19. Jahrhundert (Marke Bühler etwa) kenne. Das Modell funktioniert nur, wenn man eine Vielzahl von konkreten Bedingungen benennt (oder voraussetzt). Ein Gedicht von Goethe, das Dir auf Deutsch vorgetragen wird, kannst Du eben nur verstehen, wenn Du der deutschen Sprache mächtig bist. Ansonsten wird es eine für Dich sinnlose Lautreihe sein. Wenn Du die Fünfte hörst, ohne diesem Kulturkreis anzugehören und ein Wissen mitzubringen, das es Dir ermöglicht, das Werk als Werk wahrzunehmen, hörst Du eben etwas Sinnloses - und Deine Reaktion darauf mag etwas über Deine psychische Verfassung aussagen, es findet aber keine ästhetische Kommunikation statt.


    So wie Du die Sprache und das Verhalten dieser Gesellschaft erst lernen und erwerben musst, so ist es eben auch mit dem Verständnis von Musik. Natürlich kann man sich auch damit beschäftigen, was passiert, wenn Dir das alles fehlt, wie also ein Neanderthaler auf die Fünfte reagierte. Das ist aber zum einen spekulativ und geht an den Voraussetzungen vorbei, die eine Diskussion in dieser Gruppe mit sich bringt. Denn wir sind keine Neanderthaler, wir sind an Musik, an klassischer Musik interessiert, wir haben ein - wenn auch unterschiedliches - Vorwissen, die Diskussion findet hier statt. Diese Bedingungen habe ich voraus gesetzt


    Gesellschaftliches Verhalten muss gelernt werden und wird gelernt - und ist es nach Meinung der betroffenen Gruppe inadäquat (wenn Du mit Deinem Polohemd zu einem Empfang gehst), so musst Du erst einmal lernen, wie Du Dich adäquat verhältst.


    Einer der Grundfehler des von Dir benutzten Modells ist, dass es - so wie Du es referierst - einseitig gerichtet ist. Das ist - mit Verlaub - Unsinn. Jeder Sender ist gleichzeitig Empfänger, jeder Empfänger Sender. Dazu findet jede Kommunikation in einem gesellschaftlichen Kontext statt.


    Der Sonderfall, dass ein Partner der Kommunikation über eine Konserve (CD, Buch) repräsentiert ist, wurde schon hinlänglich in der Kommunikationswissenschaft untersucht. Wenn es Dich interessiert, kann ich Dir meinen Standpunkt gerne referieren.


    Zitat

    Ein Werk -sei es Musik, ein Bild, ein Buch, was auch immer- ist eben nur ein Angebot unter vielen Angeboten. Der Mensch verfügt nun gottlob über Filter, um aus dem Überangebot von Informationsangeboten das für ihn Irrelevante zurückzuweisen, zu verdrängen, es schlicht zum white noise zu machen. Somit dürfte es Dinge geben, die Dir wichtig sind, die verstehen zu wollen -und ich betone wollen- für andere absolut nicht in Betracht kommt.


    Erstaunlicherweise gingst Du bei der Darstellung Deines Modells davon aus, dass jemand etwas hört. Insofern ist doch schon längst die Entscheidung gefallen, ob man das Werk hört oder nicht. Warum gehst Du nun diesen Schritt zurück? Entweder erörtern wir die Situation vor oder während der ästhetischen Kommunikation. Das können wir beides tun, aber doch nicht voluntaristisch hin und her springen.


    Mit der Fragestellung, welche Musik ich als aggressiv empfinde und warum, hat das nichts zu tun, denn wenn das Werk "white noise" für mich ist, werde ich es kaum als aggressiv aufnehmen.



    Zitat

    Tatsächlich drehst Du den inkriminierten Satz lediglich mit der Betonung auf den Sender um, was ebensowenig zielführend ist (oder die von Dir als Empfänger-Affekt befürchtete Selbherrlichkeit auf den Sender verlagert).


    Mir fehlt die Selbstherrlichkeit im Modell, bei mir ist kritisches Hinterfragen angesagt, aber Du hast offensichtlich nicht verstanden, dass es nicht um eine Umkehrung, sondern um eine Gleichzeitigkeit geht, um ein Aufeinander-Wirken.


    Die Schwierigkeit, die in dem vereinfachten Modell Bühlers liegt, zeigt sich doch darin, dass es um eine idealisierte Darstellung geht, wie immer geht es um einen kompetenten "Sprecher" und einen kompetenten Hörer. Du willst auf der einen Seite ein idealisiertes Modell, aber einen (im Sinne der Modellbildung) "inkompetenten" Hörer. Bevor Du den Normalfall untersuchst, postulierst Du den Störfall.




    Zitat

    Zusätzlich gebe ich zu bedenken, daß Musik, zunächst und vorrangig als Zeichensystem betrachtet - wie Du das anregst- den akffektbewirkenden Klang ausklammert.


    Wie kommst Du denn darauf? Das steht doch selbst im Bühlerschen Kommunikationsmodell ... (Ausdruck, Appell, Darstellung).



    Zitat

    Damit, daß Du einen anderen Standpunkt beziehst, kann ich gut leben, gegen taminotaugliche Invektiven-Polemik bin ich ohnehin resistent.


    Nicht resistent bin ich gegen unterschwellige Invektiven, die lege ich schon offen. Es macht bekannterweise in der Rhetorik einen Sinn, an einer Stelle etwas anzudeuten, indem man ein "Reizwort" nennt, nach dem Motto aliquid haeret, es wird schon etwas hängen bleiben. Damit kann man dem Gesprächspartner etwas unterstellen, ohne sich dazu bekennen zu brauchen, dass man hier aggressiv vorgeht. Hier ist es die Unterstellung einer polemischen Argumentation.


    Auch Wertungen wie


    Zitat

    Einige richtige Stichworte hast Du auch genannt:


    sind ein gutes Beispiel für eine "taminotaugliche Invektiven-Polemik". Da spiele ich nicht mit und breche ich ab. Auch die wiederum geschickt versteckte Unterstellung




    Zitat

    Und um im Tamino-Umfeld zu bleiben: Wenn Paul Beethoven als aggressiv empfindet (oder sich ihm bei chinesischer oder indonesischer Musik die Nackenhaare hochstellen), dann wird man das durch keinerlei noch so gelehrte Erläuterungen ändern können.


    zeigt, dass Du offensichtlich nicht gelesen hast, was ich Paul geschrieben habe. Für Dich fasse ich es gerne noch einmal zusammen:


    Solange Paul sagt, dass er Beethovens Musik als aggressiv empfindet, respektiere ich seine Empfindung, denn es ist seine, nicht meine. Ich kann dann allenfalls noch einwenden, dass mir die Pauschalisierung "Beethovens Musik" ein wenig übertrieben scheint, die Angabe konkreter Werke (etwa Orchesterwerke oder Sinfonien) seine Einstellung glaubhafter erscheinen ließe - aber es kann sich ja tatsächlich auf jedes Werk Beethovens beziehen. Nur wenn Paul den Schluss daraus zieht, dass Beethovens Werk aggressiv ist, werde ich dagegen argumentieren. Das tue ich nicht - da scheint ein Missverständnis zu sein - um Paul zu bekehren, aber das Forum wird nicht nur von Paul gelesen, da richte ich mich über die Antwort an Paul an die Forumsöffentlichkeit. Was also der Bezug auf Paul hier zu suchen hat, außer dass Paul meine Beiträge als Angriff auf sich missverstanden hat, was sie in keinem Fall waren, weiß ich nicht. Paul hat das Stichwort "Beethoven - aggressive Musik" gegeben, mehr nicht, ich denke nicht daran, da einen Graben aufzuwerfen, wo keiner ist. Da handelte es um ein Missverständnis und nicht um Böswilligkeit, von keiner Seite.


    Gelehrte Erläuterungen, lieber Thomas, erspare ich Dir und dem Forum, das ist schon immer herunter gebrochen auf das, was ich glaube, was allgemein verständlich ist.


    Liebe Grüße Peter


  • Lieber Peter,


    herzlichen Dank für Deine Bestätigung meiner Eingangsaussage: "Wahr ist nicht, was ein Sender sendet, wahr ist, was beim Empfänger ankommt."


    Merci beaucoup :lips:


    Einen schönen sonnigen Sonntag wünscht


    der Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von Thomas Pape
    [herzlichen Dank für Deine Bestätigung meiner Eingangsaussage: "Wahr ist nicht, was ein Sender sendet, wahr ist, was beim Empfänger ankommt."


    Merci beaucoup :lips:


    Lieber Thomas,


    diese Argumentationsweise kenne ich aus Argumentationssträngen der Psychoanalyse, ich hoffe mich heute noch anhand Oberhoff damit beschäftigen zu können. Der Schulz von Thun, aus dem ich zitierte, heißt übrigens vollständig "Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden - Störungen und Klärungen. Reinbek bei Hamburg 1981". Darin beschäftigt sich Schulz von Thun auch mit den unausgesprochenen Inhalten ( vgl. S. 78 ):


    1. Das Unausgesprochene belastet die Kommunikation stärker.
    2. Unausgedrückte Gefühle verwandeln sich in Gifte, die Leib und Seele von innen her angreifen
    3. Ausgedrückte Gefühle ermöglichen eine Veränderung der emotionalen Realität.


    Deshalb ist das sog. Feedback immer eine gute Sache, und es ist besser Reaktionen mitzuteilen als sie zu unterdrücken. Das gibt dem anderen die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen, so dass man aus dem Reich der Fantasien sich der Realität nähert, so weit dies möglich ist.


    In der ästhetischen Kommunikation sehe ich - Beispiel die Fünfte - die Möglichkeit sich mit den dort ausgedrückten Affekten zu identifizieren, sie zu erkennen, sie auszuleben und zu bewältigen. Das setzt eben die Bereitschaft voraus, sich dem anderen, das immer im Kunstwerk vorhanden ist, auszusetzen, von der Ich-Bezogenheit zum Dialog zu kommen.


    Das erschwert man sich entschieden, wenn man mit "wahr" operiert, dem eben "falsch" entspricht - wie es keine "wahren" Gefühle gibt, gibt es keine "falschen". Erst wenn ich Gefühle in einem bestimmtes Wertungssystem beurteile (und das sollte man dann auch nennen) komme ich zu solchen Aussagen. Ich ziehe hier allerdings (bezogen auf die Gesellschaft) immer noch "angemessen/unangemessen" den Begriffen "wahr/falsch" vor, die für mich etwas Theologisches an sich haben. Wenn ich im Besitz der Wahrheit bin, brauche ich mir um Angemessenheit keine Gedanken mehr zu machen.


    Einen schönen sonnigen Sonntag wünscht


    nun auch der Peter

  • Zitat

    Original vom sonnigen Thomas Pape
    "Wahr ist nicht, was ein Sender sendet, wahr ist, was beim Empfänger ankommt."


    Lieber Thomas,


    bitte lasse doch das arme Wörtchen "wahr" in Ruhe. Das kann nix dafür, daß man es auch aussprechen oder aufschreiben kann, ohne es ansatzweise kontextadäquat einordnen zu können... ;)


    Peter hatte bereits versucht anzumerken, daß diese ganze hübsche Diskussion - wohin auch immer sie sich zu wenden anschickt - eines ganz gewiß entbehren können sollte: Den Begriff "Wahrheit".


    Das Wörtchen "Binsenweisheit" wäre für Deine kleine Floskel noch geschmeichelt, wenn es sich wenigstens um eine solche handeln würde. Es ist allein schlicht Unfug, jede vermittelnde Instanz innerhalb der verschiedenen Kommunikationsformen auszublenden, jede Möglichkeit intersubjektiver Kongruenzen und das Nutzen strukturgleicher Kommunikationsmuster, welche selbstverständlich gelingenden Adressatenbezug ermöglichen, auszublenden und sich auf einen fluffigen Kuschelrelativismus zurückzuziehen, den nur vertreten kann, wer sich von grundlegenden Kenntnissen in der Sache freizuhalten vermochte.


    Danke für Dein Verständnis. :hello:



    Alex.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose