Wenn von den großen italienischen Primadonnen des klassischen Belcanto-Stils die Rede ist, fallen meist drei Namen: Adelina Patti, Nellie Melba und Luisa Tetrazzini. Patti und Melba haben ja schon Threads im Schellack-Forum, und die jüngste der drei sollte hier nicht vergessen werden.
Luisa Tetrazzini konnte ihr Publikum durch ihre kühnen Ornamente und ihre kraftvollen hohen Töne zu Begeisterungsstürmen veranlassen; Toscanini wird der Ausspruch zugeschrieben, sie sei ein “soprano pirotecnico” gewesen. In der hohen Lage konnte sie so kraftvoll singen, dass sie von dem Gesangsspezialisten John Steane in dieser Hinsicht sogar mit Birgit Nilsson verglichen wurde (nach Kesting “Die großen Sänger”, S. 152).
Zeitgenössische Kritiker monierten gern, dass sie virtuoser wirke als sie in Wirklichkeit war, ärgerten sich über ihre Bühnenstunts, verwiesen auf die gequetschten Töne in der tieferen Lage, den typischen “Baby-Sound” – vergebens. Die am 28. 06. 1871 in Florenz geborene Luisa Tetrazzini hatte zwar eine lange Anlaufzeit, um richtig bekannt zu werden. Als junge Sängerin gastierte sie an vielen Bühnen (Neapel, Buenos Aires, Warschau, Lissabon), ohne den ganz großen Durchbruch zu erlangen. Dieser kam dann jedoch 1907 an der Londoner Covent Garden Opera und 1908 am Manhattan Opera House in New York, beide Male als Violetta; von da an lag ihr das Publikum zu Füßen.
Luisa Tetrazzini strahlte weder Glamour noch damenhafte Kühle aus – schon als junge Sängerin wirkte sie recht kompakt. Ihr Timbre hatte nicht die kristalline Reinheit, mit der Nellie Melba, Emma Eames oder später Amelita Galli-Curci aufwarten konnten. Die makellose Virtuosität der Sängerinnen der Alten Schule wurde von ihr nicht mehr erreicht; ihre Aufnahmen zeigen vielleicht auch so etwas wie einen Abgesang auf das hohe Ideal des Belcanto.
Was ihr Singen jedoch unwiderstehlich machte, sind die Natürlichkeit und die Spontaneität, die auch nach ca. 100 Jahren auf den heutigen Hörer noch wirken: Es ist ein kommunikatives Singen mit vokaler Phantasie und kokettem, manchmal auch etwas robustem Charme. Auch wenn die Sängerin ihre leuchtenden hohen Töne und Koloraturen gern ein wenig herausstellte, wirken sie nicht wie Selbstzweck, sondern unterstreichen die Darstellung und charakterisieren die Figur.
Als Page Oscar in Verdis “Un ballo in maschera” singt sie “Saper vorreste” mit dem Ausdruck eines naseweisen und naiven Jungen, der mit der Wahrung eines Geheimnisses kokettiert, um es später doch preiszugeben – mit fatalen Folgen, wie wir wissen. Und das wiederholte “Tra la la la ...” färbt sie so burschikos ein, dass man trotz des fraulichen Timbres diesen kecken Jungen förmlich vor sich sieht.
Und selten habe ich in Aminas “Ah, non giunge” so viel überbordende Freude gehört wie bei Tetrazzini: In der Opernfigur hört man die Freude am glücklichen Ende, bei der realen Sängerin meint man eine Freude am Singen zu hören, die kommunikativ ist und ansteckend wirkt. Das Gleiche gilt für Philines “Io son Titania” aus der Oper Mignon – zum Ausdruck kommen nicht nur Philines, sondern auch Luisas Freude am großen Auftritt.
Den “großen Auftritt” genoss sie allerdings auch in ihren Aufführungen gern: Es gibt da diesen schönen Bericht über eine “Traviata”, bei der sie, während sie das hohe Es am Ende von “Sempre libera” sang, die Schleppe ihres Kleides aufnahm und von der Bühne ging, wobei sie den Ton hielt, bis sie außer Sichtweite war ...
Das mag von den Kritikern zu Recht als Primadonnenallüre getadelt worden sein, die Begeisterung des Publikums war ihr gewiss. Und man kann es nachvollziehen, wenn man ihre Aufnahme der Szene hört. Tetrazzini ist auch vom vokalen Typus her keine zerbrechliche Violetta; morbidezza und fragiles Pathos, die man eigentlich mit dieser Rolle assoziiert, hört man bei ihr weniger. “È strano” und “Ah, fors è lui” singt sie eher mit mädchenhafter Verwunderung und Neugier über die nie gekannten Gefühle, die dieser eigenwillige junge Mann mit seiner Sorge und Ernsthaftigkeit in ihr geweckt hat.
Ich warte in dieser Szene immer auf eine für meinen Geschmack wunderschöne Auszierung in Form einer Schleife mit einem hohen Ton, die einige Diven der Jahrhundertwende auf “dell úniverso” gesungen haben, und die diese Phrase richtig aufleuchten lässt. Außer Tetrazzini haben vorher auch Marcella Sembrich, Nellie Melba und Gemma Bellincioni die Phrase auf diese Weise ausgeformt. Den Teil der Szene ab “Follie! follie! ...” singt sie nicht so fieberhaft-exstatisch wie später manche Verismo-Diven, sondern eher mit trotzig-auftrumpfender Gebärde und einer vokalen Tour de force.
Von Kollegen wurde Luisa Tetrazzini als warmherzig, humor- und temperamentvoll geschildert, und ihre besten Aufnahmen sind vielleicht diejenigen, in denen sie diese Facetten ihrer Persönlichkeit mit einbringen konnte. “Una voce poco fà” zeigt sie als charmant und gestisch singende Buffo-Interpretin; nach den Aufnahmen von Conchita Supervia und Maria Callas ist ihre meine drittliebste Version.
Der Ausdruck von Elegie und Melancholie lag ihr wohl weniger, weshalb vielleicht “Caro nome” und Aminas “Ah, non credea ...” wohl nicht zu den Aufnahmen gehören, an die man sich zuerst erinnert, wenn man ihren Namen hört.
Nach den Erfolgen in England und den USA konzentrierte sie ihre Karriere in erster Linie auf diese beiden Gebiete. In New York gab es einige Differenzen mit dem Management, so dass sie auf einer Pressekonferenz erklärte, sie wolle lieber in den Straßen von San Francisco singen, denn die seien frei. Dass dies keine leeren Worte waren, bewies sie am Weihachtsabend des Jahres 1910, als sie dort auf einer Bühne unter freiem Himmel vor einer begeisterten Zuschauermenge sang ...
1912 gab sie ihre Karriere als Opernsängerin auf, hatte jedoch noch große Erfolge als Konzertsängerin. Privat hatte sie weniger Glück: Zwei Ehen scheiterten; der dritte, wesentlich jüngere Ehemann, den sie als Mittfünfzigerin geheiratet hatte, gab ihr Geld mit vollen Händen aus, so dass sie in den 30er Jahren ziemlich verarmt war.
Spöttelnde Fragen nach den Gesangskünsten im reiferen Alter beantwortete sie auf ihre Weise: Sie ging ans Klavier, demonstrierte ihre immer noch stupende technische Virtuosität und kommentierte dies mit dem Satz: “Sono vecchia, sono grassa, ma sono sempre la Tetrazzini!” (“Ich bin alt, ich bin fett, aber ich bin immer die Tetrazzini”).
In Rom und Mailand wirkte sie bis zu ihrem Tod am 28. 04. 1940 als Pädagogin. Bereits in den 20er Jahren entdeckte sie in San Francisco ein noch sehr junges Mädchen, das als musikalisches Wunderkind galt und schon mit 11 Jahren Konzerte gegeben hatte. Luisa Tetrazzini nahm die vielversprechende junge Sängerin mit nach Mailand, wo diese eine umfassende Ausbildung erhielt und später eine der bedeutendsten Koloratursopranistinnen wurde. Wegen ihrer fülligen Statur hatte auch sie einige Häme zu ertragen (und wurde bei einem Opernfilm durch ein Double ersetzt), aber sie hat Aufnahmen hinterlassen, die zu meinen Lieblingseinspielungen gehören: Es war Lina Pagliughi.