Haydn: Sinfonie Nr. 99 Es-Dur
Bei dieser ersten der sechs für die zweite Londonreise komponierten Sinfonien (1793) handelt es sich um ein Werk, bei dem ich besonders schade finde, daß es - vermutlich aufgrund des mangelnden Spitznamens - vergleichsweise unbekannt ist. (Ich persönlich stelle es deutlich über z.B. die #100) Ich habe das Stück beinahe zufälligerweise schon kennengelernt, als ich noch gar kein so großer Haydnianer gewesen bin, weil es mit #104 auf einer damals günstigen Einspielung unter Gielen enthalten war, und es hat mir sofort sehr gut gefallen.
Klarinetten scheinen in den 1780er/90er Jahren noch immer eine Ausnahme im Orchester gewesen zu sein; sie finden sich zwar schon in Mozarts Pariser Sinfonie 1778, Haydn verzichtet aber selbst in der ersten Staffel der Londoner noch auf sie. Das vorliegende Werk ist das erste, in dem er Klarinetten einsetzt und sie treten hier mehrfach deutlich hervor, während sie z.B. in 101 meist im Tutti verschwinden. (Man könnte mutmaßen, daß sich die Klarinettisten in London nicht gerade bewährt haben, angesichts der eher untergeordneten Rolle, die sie in den folgenden Werken spielen...)
Einleitung: Adagio
Nach einem Es-Dur-Akkord des vollen Orchesters (man erinnert sich an Beethovens 5. Klavierkonzert oder Mozarts 39. Sinfonie) folgt eine zunächst eher zögernde, leicht melancholische Passage; nach einer Steigerung landet man in einem unisono gespielten Ces. Wieder wandert das kleine Motiv vom Beginn durch Oboe und Flöte, es kommt zu einer wuchtigeren Steigerung, die diesmal auf ein gemeinsames G herausläuft; ein gehaltener Bläserakkord (D7) leitet zum
Vivace assai (4/4)
Ein glänzendes Beispiel für Haydns Kunst, mit vergleichsweise nichtssagendem thematischen Material einen abwechslungsreichen und mitreißenden Satz hervorzubringen. Das Hauptthema hat allerdings einen mitreißenden Schwung, die folgende Überleitung trumpft mit Signalmotiven in Bläsern und Pauken auf. Wie häufig bei Haydn beginnt dann die zweite Gruppe zunächst ebenfalls mit dem Hauptthema in der Dominante, es folgt nach motivischer Verarbeitung aber noch ein abschließendes zweites Thema, wiederum eine sehr einfache, etwas volkstümliche Melodie (wie schon das erste Thema mit einer "Schrumm-Schrumm"-Begleitung).
Die Durchführung beginnt zwar mit einem zweimaligen "fragenden" Erscheinen des Hauptthemas. Die "Antwort" besteht nun aber darin, das unscheinbare 2. Thema durch alle möglichen Instrumente und Harmonien zu jagen. Dazu treten allerdings bald auch Elemente der ersten Gruppe und schließlich beißt sich das Doppelschlag-Motiv gleichsam fest. Das Seitenthema ist aber noch nicht geschlagen und bestreitet auch den Rest der Durchführung. Die Reprise folgt ff im vollen Orchester. Die Überleitungen der Expo sind hier weitgehend herausgekürzt, sehr schnell folgt das 2. Thema, das nun noch einmal, als sei es noch nicht genug, durchführungsartig verarbeitet wird. In der Coda gibt es dann noch mal eine Wiederkehr des 1. Themas in den Holzbläsern mit scherzando-Charakter.
Adagio (G-Dur - 3/4)
Dieser feierlich-ernste Satz ist vielleicht der Höhepunkt des Werks und in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich: Er ist einer von sehr wenigen langsamen Sätzen in voll ausgearbeiteter Sonatenform in den Londoner Sinfonien (m.E. ist nur der in 98 noch einer), er steht in der Terztonart (bei gleichzeitig entstandener Kammermusik wählt Haydn zwar mitunter noch entferntere Tonarten, aber in Sinfonien gewöhnlich die Tonika-Parallele (95, 103), Dominante (98, 102), Subdominante (der Rest der Londoner) und die Instrumentierung fällt ebenfalls auf. Ähnlich wie in etlichen anderen der späten Sinfonien treten die Bläser hier zwar auch solistisch auf, bilden aber andererseits eine Art "Klangteppich", der dem Satz einen durchaus romantischen Anstrich verleiht (der aus 102 sticht in ähnlicher Weise heraus, man vergleiche damit aber den "Spaltklang" im andante der 101 oder dem allegretto der 100)
Das erste Thema wird allerdings noch von den Streichern vorgestellt, wobei die Bläser, besonders die Flöte eine Art "Echo"-Funktion wahrnehmen.
Die Überleitung zu D-Dur bildet eine Version des 1.Themas, unbegleitet von den Holzbläsern vorgetragen und umspielt. Das wichtige 2. Thema folgt erst als Schlußgruppe (die letzten 8 Takte vor dem Doppelstrich, 27-44). Wichtig, denn die Durchführung wird mit diesem Material bestritten, wobei es zu ff-Steigerungen des vollen Orchesters kommt.
Die Reprise setzt unvermittelt nach einer Pause ein. Natürlich hat Haydn sie wesentlich umgestaltet: Die Überleitung, die vorher ätherisch in den unbegleiteten Bläsern erklang, erscheint nun variiert in den Streichern, erst beim 2. Thema stimmen die Bläser wieder ein. Dieses Thema wird nun noch einmal in einer ausführlichen (20 Takte bei einer Satzlänge von 98 Takten)
erweiterten Reprise oder Coda in zwei Wellen in satt leuchtenden Farben zu erhabener Größe, einschließlich schmetternder Horn/Trompetenfanfaren, gesteigert.
Menuetto. Allegretto
Für dieses Menuett ist, ungeachtet des "allegretto" eine außerordentlich rasche (Takte=96) Tempoangabe überliefert (allerdings aus erste einigen Jahrzehnte später erstellten Klavierfassungen von Komponisten wie Czerny oder Hummel; es ist nicht auszuschließen, daß dieser Tempovorschlag von einer "Beethovenisierung" geleitet war). In diesem Tempo gespielt, handelt es sich um ein vollwertiges "Scherzo" Beethovenscher Dimensionen. Das spielt allerdings keiner annähernd so flott. Dennoch ist man sich erfreulicherweise über ein relativ zügiges Tempo einig: Brüggen und Harnoncourt kommen auf ca. 68-74, Gielen immerhin ca. 60. Jedenfalls ein mitreißender Satz mit off-beat-Akzenten und durchführungsartigen Passagen.
Das lyrisch-melancholische Trio steht in C-Dur (wiederum ein in Haydns Sinfonien eher seltener Wechsel in eine terzverwandte Tonart) hier dominieren die Oboen und es gibt eine auskomponierte Überleitung zum Scherzo.
Finale. Vivace (2/4)
Auch hier wird den Bläsern, nicht zuletzt den Klarinetten ausgiebig Gelegenheit zur Brillanz gegeben. Wieder einmal haben wir es mit einem "Sonatenrondo" zu tun.
Nach der Vorstellung des Rondothemas (1-8 ) wird dieses in der Fortspinnung bereits auf witzige Weise in seine Bestandteile zerlegt. Ein zweites, allerdings verwandtes Thema tritt ab T. 67/68 auf die Bläser verteilt auf, wird dann von den Streichern übernommen. Es folgt ein erster durchführender Abschnitt (ab 99), die knappe Wiederkehr des Rondo-Themas (113), ernsthafte polyphone Verarbeitung (ab 132), inklusive Umkehrung des Themas und eine Reprise (ab 171/172), bei der in äußerst witziger Weise das Material auf die Holzbläser und Streicher verteilt wird. Das folgende Tutti endet in Fermate und Generalpause Ein neuer Anlauf mit dem Rondothema in langsamem Tempo bleibt stecken. Aber es ist noch lange nicht Schluß: Takt 222/23 kommt die Reprise des 2. Themas, wieder in komisch-grotesker Weise auf die Bläser verteilt. Ein furiose Coda des gesamten Orchesters schließt eines der geistreichsten und witzigsten Haydn-Finali.
(Beethoven begann wohl etwa zu der Entstehungszeit des Werks bei Haydn zu studieren; er hat sich die kontrapunktischen Passagen aus dem Finale abgeschrieben; dabei ist allerdings unklar, ob das aufgrund eigener Faszination oder auf Geheiß des Lehrers geschehen ist.)
Insgesamt eine hochoriginelle, farbenreiche Sinfonie, wobei für mich die besonderen Höhepunkte im Adagio und im Finale liegen.
JR