Nachdem ich das Niveau dieses Forums in letzter Zeit vor allem durch substanzlose Threads und müde Aufgüsse wie Rätsel und TMOOs in seichte Ufer getrieben habe, möchte auch ich zur Abwechslung etwas zu seiner Substanz beitragen und eine Frage aufwerfen, die ins Allertiefste, nämlich den Kern seines Selbstverständnisses führt. Ich werde mich aber hüten, die eigentliche und wohl nie gültig zu beantwortende Frage "Was ist klassische Musik?" zu stellen, sondern individualisiere sie gleich. Sollte aber jemand doch den Stein der Weisen gefunden haben und die Quadratur des Kreises lösen können, um so besser. Dann wird Tamino nämlich in die Geschichte eingehen und womöglich noch für einen Nobelpreis vorgeschlagen werden.
Bei einer, zugegeben flüchtigen, ergebnislosen Recherche, ob es einen solchen Thread nicht doch schon gibt, stieß ich unter anderem auf diese noch viel fundamentalere Fragestellung: Was ist eigentlich Musik?
Sie führte, wie vorhersehbar, zu keinem Ergebnis, wohl aber zu einer Reihe interessanter Antworten und dieser Gegenfrage:
ZitatOriginal von Caesar 73
Nur eine Frage am Rande: Müssen wir Musik unbedingt definieren, im akademischen Sinn? Mir kommt da spontan Erich Fried in den Sinn: Ein Gedicht von ihm heißt: "Es ist was es ist" Gemeint ist hier zwar die Liebe, aber in gewisserweise trifft die Frieds Schlussfolgerung ebenso auf die Musik zu. Zu uferlos, zu weit ist dieses Feld.
Natürlich müssen wir hier gar nichts, außer möglichst Interessantes verständlich auszudrücken, aber es erstaunt mich, dass man sich anscheinend bislang um diese Kernfrage unseres gemeinsamen Selbstverständnisses gedrückt zu haben schien, so oft man es auch schon einzukreisen versuchte. Sollte ich einen solchen Thread aber nur übersehen haben, schiebe ich diesen natürlich gerne dort hin.
Ich möchte mich nicht gleich zum Einstieg überfordern und versuche es daher erst einmal auf dem "negativen" Weg, inspiriert durch eine bekannte Anekdote, auf die ich mich schon anderswo bezog. Der zufolge hatte ein amerikanischer Richter einmal zu entscheiden, ob eine bestimmte Publikation Pornografie sei. Die Verteidiger warfen alle möglichen kunstästhetischen Definitionen auf, die nicht nur den Richter verwirrten, bis es diesem reichte und er das Werk mit der "klassisch" gewordenen Begründung verbot, er wisse nicht, wie Pornografie zu definieren sei, aber er erkenne sie, wenn er sie sehe. Danach wäre, frei nach Talleyrands Bonmot über den Verrat, Pornografie bzw. in unserer Fragestellung, klassische Musik "eine Frage des Datums". Was nicht die denkbar falscheste Antwort ist.
Was wäre aus der Perspektive der klassischen Musik das Pendant zur Pornografie? Popmusik? Unterhaltungsmusik? Sogenannte Fahrstuhl- und andere "Gebrauchsmusik"? Schlager? Volksmusik? Rap? Gar Jazz mit seinen freien Improvisationen??? Wird Klassik zur Pornografie, wenn sie, ähnlich wie die Erotik, in der Werbung missbraucht wird? Wenn ja, müsste es doch auch den umgekehrten Weg geben. Wie ginge das?
Bei genauerer Betrachtung wird man all diese Gattungen in der Musik wiederfinden, bei der wir fraglos akzeptieren, dass sie in einem Forum für klassische Musik behandelt zu werden verdient. So wurden auch, wann immer die Zugehörigkeit einer Gattung wie Operette, Musical oder, der Auslöser dieses Threads, Filmmusik zur klassischen Musik in Frage gestellt wurde, diese mindestens von einer engagierten Mehrheit bejat. So waren wir am Ende einer befriedigenden Antwort so fern wie zuvor, wenn auch um einige Gedankengänge reicher.
Versuchen wir es trotzdem, wohl ahnend, dass der Ausgang derselbe sein dürfte.
Hier ein paar Anregungen, wie man die Abgrenzungen sinnvollerweise nicht vornehmen kann:
E-Musik ist klassische Musik, U-Musik ist es nicht
Man braucht nicht auf Offenbach oder Strauß Bezug zu nehmen, die sich gewundert hätten, wenn man ihre Musik nicht hätte als Unterhaltungsmusik verstehen wollen. Die Spezialisten werden wissen, wie weit man da zurück gehen kann und muss, aber auch Mozarts Tanzmusiken waren längst nicht der Anfang der U-Musik in der Klassik, und weder Bernstein noch Sondheim markieren deren Ende. Dennoch hat sich die Tonträgerindustrie diese Unterscheidung zu eigen gemacht, wenn sie auch von "Institutionen" wie dem irreführenderweise "Klassik-Radio" genannten Häppchensender zunehmend unterlaufen wird.
Es gibt nur gute und schlechte Musik. Klassische Musik ist gute Musik
Nicht nur bei Operette und Musical dürften da die Meinungen schon stark auseinander gehen, auch wenn selbst die engagiertesten Gegener einräumen dürften, dass es gute - oder wenigstens bessere - und schlechte(re) gibt - natürlich auch in der Klassik allgemein. Auch wenn man die immer wieder bechworene "Tiefe" an Stelle des "GUten" setzt, dürfte da kaum sehr viel Haltbares herauskommen.
Klassik kann per Definition nur Musik der Vergangenheit sein
Man schlage mal diesen Begriff bei Wikipedia nach. Dort findet man von der Antike über die ziemlich präzise eingegrenzte Wiener Klassik (1780-1827) bis hin zur "Populären Klassik" diverse Begriffe und Perioden, aber keine Antwort. Auch bestreitet kaum jemand, dass mindestens die herausragenden Komponisten der Gegenwart "klassische" Musik schreiben, was eine, wie auch immer geartete, zeitliche Definition ausschließt, auch wenn manche, darunter wohl auch der Gründer dieses Forums, das gerne hätten. Wenn aber Vergangenheit im Extremfall die soeben vergangene Minute ist, hilft diese Definition auch nicht weiter.
Klassische Musik begnügt sich nicht mit Einfällen, sondern wird dies erst durch deren Verarbeitung
Der Versuch ist sicher nicht unfruchtbar, aber dann müssten wir wohl u. a. die sogenannte Minimal Music und große Teile z. B. der Tanzmusik der Wiener Klassik oder viele der beliebten Volksmusikbearbeitungen ausschließen, die wir fraglos in "unserem" Repertoire dulden. Je mehr wir aber davon zulassen, um so größere Bereiche der gegenwärtigen Unterhaltungsmusik gehörten dazu, denn auch simple Schlager verarbeiten, wenn auch auf schlichtestem Niveau. Wo aber verläuft die Grenze vom Schlichten zum Anzuerkennenden?
Dies nur mal zum Einstieg, denn die Fragen und Nachfragen sind womöglich noch zahlreicher als denkbare Antworten. Ich hoffe daher auf eine rege Debatte, wohl wissend, dass hier der Weg das Ziel ist, weil das Ziel selbst zu sehr im Vagen des fernen Horizonts liegt und sich - jedenfalls für mich - stets als Fata Morgana erwiesen hat, wenn ich einmal meinte, ihm näher gekommen zu sein.
Also: was ist für Euch klassische Musik?
Jacques Rideamus