Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 9

  • Hallo Tamorianer !


    Ja, ja ich weiss schon wieder Mahler !


    Für mich, da ich mich als einen " Mahlerianer "
    bezeichnen würde kann es nicht genug Mahler geben.


    Erst gestern abend hörte ich mir die M9 ( meine erklärte " Lieblingssinfonie ) unter
    Abbado und den Berlinern wieder an.
    Diese Aufnahme bringt mir regelmäßig Schauer auf dem Rücken und eine Gänsehaut.
    Für mich eine absolute "Referenzaufnahme des Werkes.
    In keiner mir bekannten Aufnahme, kommt für mich der Abschiedsgedanke von Mahler ( sei es an der Tonalität oder der biografische, wenn dieser auch von Mahler nicht so gewollt war ) besser zum Hörer als in bei dieser Aufnahme.
    Wie schon Mengelberg zum Adagio bemerkte :
    " Mahlers Seele singt ihren Abschied : Leb wohl "


    Was sagt Ihr zur M9 ?



    Gruss
    Holger

  • Holger schrieb:


    [Zitat]Diese Aufnahme bringt mir regelmäßig Schauer auf dem Rücken und eine Gänsehaut.
    Für mich eine absolute "Referenzaufnahme des Werkes.[/Zitat]


    Hm, wenn du offensichtlich schon die äusserste Verzückung dank der erwähnten Abbado-Einspielung gefunden hast, dürftest du Argumenten gegen diese Aufzeichnung bzw. Plädoyers für andere Einspielungen des Werkes kaum zugänglich sein, oder seh ich da was falsch ? Ich gebe bei alledem nur zu bedenken, daß es VOR Abbado Referenzeinspielungen dieses Werkes gegeben hat und das es ganz gewiss auch NACH ihm welche geben wird....


    Einer, der wohligen Schauern und Gänsehäuten aus tiefster Seele misstraut :rolleyes:

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Hallo BBB !


    Sicherlich gab es VOR und wird es NACH Abbado noch
    "Referenzaufnahmen" geben.


    Für mich heißt Referenz auch nicht, daß das die einzig richtige Aufnahme ist.
    Ich höre mir z.B. auch sehr gerne die M9 mit Bernstein und den Berlinern an und .....


    Nun, welche ist denn Deine M9 ?
    Ich bin immer für andere Meinungen und Geschmäcker
    offen .



    Einer, der wohligen Schauern und Gänsehaut ab und
    zu ganz gerne hat.


    Gruss
    Holger

  • Hallo,


    Ich bekenne offen, daß ich mit Mahlers 9. bisher zwar nicht auf Kriegsfuß stehe, daß sie mich aber nicht begeistern konnte, übrigens nicht die einzige Mahler Sinfonie, der ich eher reserviert (nicht ablehnend!!) gegenüberstehe...


    Jemand schrieb hier sinngemäß, er höre ausschließlich Musik die er nicht verstehe.
    Ich bin hier anders programmiert: Ich höre ausschließlich Musik, die ich verstehe, oder zumindest subjektiv zu verstehen glaube. Man könt auch zynisch formulieren, verstehen will.
    Als die Neunte Mahler will ich eigentlich schon verstehen, ich gebe zu daß ich mich mit ihr noch kaum befasst habe, ok ich hab nur flüchtig hineingehört.
    Die Aufnahme, die ich besitze, sollte eigentlich OK sein, ich besitze jene unter Barbirolli und den Berliner Philharmonikern.


    Vielleicht bringt dieser Thread mich auf den Geschmack.


    Gruß aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Holger schrieb:


    [Zitat]Nun, welche ist denn Deine M9 ?[/Zitat]


    Hallo Holger, also ich hab deren gleich 3, die ich hiermit gerne vorstellen will:


    Otto Klemperer / Philharmonia Orchestra / EMI (1965)


    Bruno Walter / Columbia Symphony Orchestra / Sony
    (16. Jan. 1938 Musikvereinssaal, Wien)


    Carlo Maria Giulini, Chicago Symphony Orchestra, DG ca. 1978


    Die Klemperer-Aufnahme besticht durch die unsentimentale, stellenweise etwas harsche Herangehensweise des Dirigenten, die dem Werk jedoch nichts von seiner Größe nimmt.


    Walters Aufzeichnung aus dem Jahr 1938 ist zeitlich am nächsten an Mahler selber dran: man beachte vor allem die Tempi im 4. Satz ! Klang der immerhin über 60 Jahre alten Konserve: erstaunlich gut durchhörbares Mono.


    Giulinis Aufnahme vermag es, riesige Bögen zu schlagen, ohne die Binnenspannung des Werkes zu verletzen. Sie ist exemplarisch dafür, wie dicht bei Mahler Schmerz und Glückserfahrung beieinander liegen und sich immer wieder durchfluten, durchdringen... Diese sehr bewegende Einspielung ist
    (im Gegensatz zu jenen des Herrn Bernstein) gänzlich uneitel.


    Die von dir erwähnte Einspielung Abbados (ich bin übrigens "bekennender" Abbado-Fan,bewegt sich in die Richtung Giulinis, bleibt aber dennoch hinter dieser zurück.


    Die von Franz erwähnte 9. des Heiligen John Barbirolli ist mir zu spannungsarm: ich halte sie entschieden für überschätzt. Um die wesentlichen Facetten dieses Werkes kennenzulernen, sind Klemperer und Giulini geeigneter.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Hallo Alfred !


    " Mahlers Musik ist sehr subjektiv, eine schwer fassbare Musik, die sich mit Problemen beschäftigt, die einen nicht immer angenehm sind, die aber auch kompliziert sein können wie das Verhältnis des Menschen zur Natur, zu Gott oder zur Musik.
    Er spricht Dinge in seiner Musik an, die im Menschen nicht nur das Gute wecken, sondern Situationen oder psychologische Momente aufzeigen, die einen daran erinnern, dass man nicht immer ein Engel sein kann, dass man manchmal auch ein Teufel ist.
    Das ist ein Wagnis, das nicht immer verstanden wird.
    Diejenigen, die glauben, dass man nur schöne Melodien oder Hamonien hören sollte oder schöne Achitekturen sehen oder hören müsste, die haben natürlich recht, wenn sie sagen, das sie das bei Mahler nicht finden.
    Aber das wollte er auch nicht; er hat sein ganzes Leben lang versucht, etwas Menschliches zu
    erzählen. "
    Zitat von Rafael Kubelik über Gutav Mahler.


    Von daher, lieber Alfred, verstehe ich Dich hier und da Probleme damit zu haben, Mahlers Musik zu verstehen.
    Bei mir hat das auch eine ganze Zeit lang gedauert.
    Angefangen seine Musik zu mögen, hat es dann damit, daß ich zum erstenmal die M5 unter Barbirolli gehört habe.


    Von der M9 mit Barbirolli halte ich allerdings nicht so viel wie von seiner Einspielung der fünften.
    Bei keinem anderen Komponisten ist es so interessant Interpretationen zu vergleichen.
    Manchmal bedarf es einer besonderen Interpretation um das Werk zu verstehen.


    In der Hoffnung, daß es zwischen Dir und Mahler irgentwann einmal "klick" macht und das Du durch diesen Thread der Musik von ihm etwas näher kommst.


    Gruss
    Holger

  • Cher Holger,


    Nur eine kleine Ergänzung:
    Die von Dir erwähnte Aufnahme mit Bruno Walter wurde mit den Wiener Philharmonikern am 16.1.1938 im Wiener Musikvereinssaal eingespielt.


    Was Aufnahmen von Mahler betrifft, so bin ich sehr einseitig, nämlich die Aufnahmen von Leonard Bernstein und von Bruno Walter. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich nicht sehr viele andere wirklich kenne. Durch die Anregungen im Tamino-Forum bin ich auf Klemperer neugierig geworden (kannte ihn v.a. als Beethoven-Interpreten, die CD Bruckner Nr. 4 mit Klemperer hat mich fasziniert).

    Otto Rehhagel: "Mal verliert man und mal gewinnen die anderen".
    (aus "Sprechen Sie Fußball?")

  • Hallo,


    für mich ist die Aufnahme mit Abbado die beste Aufnahme diese Symphonie in letzter Zeit. Ich persönlich habe das Konzert in Berlin erlebt, die Intepretation Abbados hat mich zu tiefst erschüttert. Nach dem der letzte Akkord verklang, herrschte in der Philharmonie einige Zeit absolute Stille. Sehr gelungen finde ich auch die Aufnahme mit Bernstein und den Berliner Philharmonikern. Als Alternativen besitze ich die CD's mit Carlo Maria Giulini, Bruno Walter (1938 ),Klemperer und Karajan. Die esten zwei sind aber meiner Meinung nach die erste Wahl!


    Gruß


    Itzi

  • Hallo zusammen,


    die Neunte ist auch eines meiner Lieblingswerke, wobei ich mich - obwohl glühender Mahlerfan - damit lange Zeit schwergetan habe.
    Ich besitze die frühe Chikagoer Aufnahme von Abbado und auch die aktuelle und eine von Boulez - mit der letzteren tue ich mich schwer, ganz im Gegensatz zu seinen meisten anderen Mahlereinspielungen.
    Vorige Woche habe ich mir dann die Karajanaufnahme mit den Berlinern von einem Freund geborgt, und werde da diese Woche mal reinhören.


    Holger schrieb:


    Zitat

    Von der M9 mit Barbirolli halte ich allerdings nicht so viel wie von seiner Einspielung der fünften.


    Die Neunte kenne ich zwar nicht, aber die fünfte ist wirklich grandios. :)



    @Alfred:


    Wie ich oben schon schrieb, tat ich mich ebenfalls mit dieser Sinfonie sehr schwer, obwohl ich eigentlich sonst in der Vergangenheit nach allem Neuen von Mahler lechzte. Ich habe mir dann die Sinfonie langsam erschlossen, indem ich sie rückwärts hörte. :D
    Natürlich nur satzmäßig gemeint ;).
    Versuchs doch spaßeshalber mal und höre Dir nur den 4. Satz, das erschütternde Des-Dur-Adagio an. Falls das irgendwann mal "ankommt", weiter mit der Burleske aus dem dritten Satz u.s.w...



    (mittlerweile höre ich sie natürlich in der richtigen Reihenfolge 8) )


    Gruß
    Anti

  • Mahler 9 - Chailly


    Übrigens am : 07.09.2004 erscheint die M9 mit
    Chailly und dem Royal Concertgebouw Orchestra.


    Werd ich mir auf jedenfall zulegen.
    Die M3 von Ihm war KLASSE !



    Gruss
    Holger

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Hallo,
    dass Chailly's 3. toll sein soll, habe ich jetzt schon öfter gelesen - leider ist sie aber auch überall sauteuer...
    Gruß
    Achim

    Herzliche Grüße
    Uranus

  • Bei Mahler kommt es oft auf die für das eigene Ohr richtige Aufnahme an. Ich kenne von Barbirolli beide Aufnahmen der Neunten, aber auch die vieler anderer Dirigenten. Obwohl ich kein Karajan-Verehrer bin, möchte ich Dir für die Neunte eine der beiden Karajan-Aufnahmen empfehlen - mit Ausnahme des 3. Satzes der Rondo Burleske. Den dritten Satz bringt sehr gut Solti rüber. Mahler lohnt sich.


    Mit herzlichen Grüßen


    Matthias

    Tobe Welt, und springe,
    Ich steh hier und singe.

  • Der Zugang zu Mahler ist vielleicht nicht ganz leicht. Ich höre Mahler seit 1971, lese seit etwa 10 Jahren auch die musikwissenschaftliche Literatur. Für das erweiterte Verständnis empfehle ich das knappe Buch von Renate Ulm, Gustav Mahlers Symphonien, dtv Euro 14,40. Mahlers 9., insbesondere der 1. Satz gehört zu dem größten, was Mahler geschrieben hat. Ich habe viele Aufnahme - empfehle für den 1. Satz die Aufnahme Karajans, obwohl ich im allgemeine Vorbehalte gegen Karajan habe - und gegen alle neueren Aufnahmen. Ausnahme der 3. Satz die Rondo Burleske ist dort nicht gelungen. Die beste Aufnahme von diesem Satz, der den Übergang zur Moderne markiert, ist die von Solti - meine sehr subjektive Meinung.

    Tobe Welt, und springe,
    Ich steh hier und singe.

  • Liebe Forianer,


    irgendwie ist es ja merkwürdig, dass dieser thread über Mahlers Neunte so ein Schattendasein führt, wo doch Mahlers Musik an Popularität gewonnen hat. Warum das ist ist - ich vermag nicht darüber zu spekuklieren und will lieber nach und nach ein paar Einspielungen vorstellen, die mir diese großartige Sinfonie nähergebracht haben. Hoffentschlich schließt sich der eine oder andere an!


    Beginnen möchte ich allerdings mit einer Aufnahme, die mir den Zugang zu diesem Werk viele Jahre lang verwehrt hat: es handelt sich um die vielgerühmte live-Aufnahme mit den Berlinern unter Karajan.



    Während Karajan den ersten Satz schlüssig nach und nach aufbaut - die beiden Binnensätze sind ein katastrophaler Fehlgriff. Karajan findet weder zu den tänzerischen, sich überschlagenden Momenten des zweiten Satzes noch für die drastische Kontrapunktik der Burleske einen Zugang, er versucht sich auch hier an einem eher schönen, runden Klang, der aber nicht in den Noten steht. Besonders auffällig wird dies in der Burleske, wo er geradezu über die Schoffheiten hinwegspielt und dabei an der Musik vorbei dirigiert. Wer die Musik so kennenlernt, wird sie nicht verstehen können. Daran ändert auch nichts der letzte Satz, der mit diesem einseitigen Zugang wieder besser funktioniert.



    So, das war jetzt mal ein Anfang, beim nächsten mal stelle ich die Aufnahme vor, die mir diese herrliche Sinfonie um einiges näher gebracht hat.


    Viele Grüße,
    Christian

  • Hallo Christian,
    Du traust Dich was.
    Willkommen im Klub - solltest Du nach diesem Posting ärztliche Hilfe oder ein Rehabilitationsprogramm in Anspruch nehmen müssen, biete ich Dir meine volle Unterstützung an.
    :hello:
    P.S.: Ich finde auch den ersten und den vierten Satz nicht gar so toll gelungen, zu weich, zu üppig, zu geschönt. Aber tatsächlich: Im Vergleich mit den Mittelsätzen: Hohe Interpretationskunst...

    ...

  • Ich stimme Christians und Edwins Kritik an der Karajan-Aufnahme zu - und muss gestehen, dass ich sie gerade deswegen so sehr schätze.


    Diese Musik ist von so zerschmetternder Gewalt, dass ich davon nur einen kleinen Prozentsatz "verarbeiten" kann - ganz ähnlich wie beim Tristan. Deswegen brauche ich von diesem Stück einfach "geschönte", "oberflächliche" Aufnahmen, die den emotionalen Gehalt nicht voll ausspielen, sondern sozusagen eine Version ad usum Dauphini anbieten.


    Wird dem Werk natürlich nicht voll gerecht - aber Hörer wie ich haben damit immerhin die Möglichkeit, 5% der Symphonie erleben zu können, was immer noch unendlich viel mehr ist als gar nichts.


    Deswegen bin ich sehr froh, dass es diese Aufnahme gibt...


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Zitat

    Original von Barockbassflo
    Diese Musik ist von so zerschmetternder Gewalt, dass ich davon nur einen kleinen Prozentsatz "verarbeiten" kann - ganz ähnlich wie beim Tristan. Deswegen brauche ich von diesem Stück einfach "geschönte", "oberflächliche" Aufnahmen, die den emotionalen Gehalt nicht voll ausspielen, sondern sozusagen eine Version ad usum Dauphini anbieten.


    Frei nach Wagners eigener Einschätzung: "Ich fürchte, die Oper [d.i. Tristan] wird verboten, nur mittelmäßige Aufführungen können mich retten! Vollständig gute müssen die Leute verrückt machen!" Vielleicht hat Karajan ganz bewusst und aus purer Menschenfreundlichkeit auf "vollständig gute" Aufführungen verzichtet - das würde manches erklären... :D


    Die Karajan-Aufnahme der Neunten genießt ja interessanterweise einen relativ guten Ruf unter Mahler-Freunden. Vielleicht auch, weil der Kontrast zu den völlig missratenen Einspielungen der Vierten und Sechsten aufhorchen lässt. Ausgerechnet der erste Satz der Neunten, wohl das Herzstück der Mahler'schen Symphonik, gelingt Karajan dann doch erstaunlich gut...auch da gibt es aber aus meiner Sicht bessere, eindringlichere Aufnahmen (Boulez, Gielen, Giulini, mit Einschränkungen auch Abbado, Bernstein, Walter).


    Ich bin Christian dankbar, dass er diesen Thread wiederbelebt hat (ich hatte auch schon mit dem Gedanken gespielt) und werde mich nach Möglichkeit an der Diskussion beteiligen.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Ich finde es schön, daß hier vergleichsweise viele einer Meinung sind, was den Wert der historischen Bruno-Walter-Aufnahme betrifft ... Und bei Bernstein ist mein Favorit sein Live-Mitschnitt mit den Berliner Philharmonikern bei DGG (als Karajan heimlich in seiner Loge gesessen und Tränen geweint haben soll)....

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Und bei Bernstein ist mein Favorit sein Live-Mitschnitt mit den Berliner Philharmonikern bei DGG (als Karajan heimlich in seiner Loge gesessen und Tränen geweint haben soll)....


    Dazu eine Frage an Ben oder an jemanden, der die Frage beantworten kann ;) : In wieweit gibt es signifikante Unterschiede zu Bernsteins DG-Aufnahme mit dem Concertgebouw Orchester?


    Bernstein hatte mich mit seiner überemotionalisierten, weinerlichen Deutung des vierten Satzes derart verschreckt und verärgert, daß ich mir die Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern nicht näher zu Gemüte führte. War das ein Fehler?

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Hallo Norbert,


    die Amsterdamer Aufnahme Bernsteins kenne ich nicht, wohl aber die Berliner. An der scheiden sich wohl die Geister: Deiner Einschätzung der Interpretation des vierten Satzes als "weinerlich" kann ich durchaus zustimmen (das Tempo ist eh stark verschleppt), auch sonst erlaubt sich Bernstein Eigenmächtigkeiten, die z.T. eindeutig gegen die Partitur verstoßen: bekanntestes Beispiel sind zwei Passagen im ersten Satz (u.a. beim mit "Schattenhaft" bezeichneten Abschnitt), bei dem Bernstein die Geigen "sul ponticello" spielen lässt: ein insb. bei Komponisten der Zweiten Wiener Schule häufig verwendeter Effekt, den Mahler aber hier definitiv nicht vorgeschrieben hat. Andererseits hat die Aufnahme zumindest in den ersten drei Sätzen schon eine gewaltige Sogkraft (das Orchesterspiel ist keinesfalls karajanesk makellos, aber spürbar engagiert). Die Geräusche, die Bernstein auf verschiedene Art und Weise beim Dirigieren erzeugt, sind auf ihre Art höchst gelungene Kommentare zur Musik.


    Also insgesamt an manchen Stellen eher ein Weiterkomponieren als eine werkgetreue Interpretation - ich bin da selbst hin- und hergerissen. Abbado hat übrigens einmal in einem Interview bekannt, dass er die Berliner Aufnahme Bernsteins sehr schätze - auch weil Bernstein sich Freiheiten herausgenommen habe, vor denen alle anderen zurückgeschreckt wären (sinngemäß zitiert).


    Viele Grüße


    Bernd

  • Liebe Forianer,


    nachdem mir wie geschildert der Zugang zu Mahlers 9. Sinfonie über HvK zunächst schwer fiel, habe ich schließlich einen zweiten Anlauf unternommen und mir die Aufnahme von Pierre Boulez zugelegt.



    Heute weiß ich, dass diese Aufnahme etliche Schwächen hat, so wirken die Steigerungen im 1. Satz seltsam kraftlos, und das Finale birgt für mich keine spürbare emotionale Dimension. Entscheidend ist hier aber der 3 Satz, eben jene Rondo - Burleske, die bei Karajan unter den fetten Streichern gleichsam erstickt. Boulez öffnet einem hier die Ohren: plötzlich begreift man die Kontrapunktik der Bläser, hört die vielen Stimmen, die ineinandergreifen und einander überlagern. Boulez' eher analytischer Ansatz, alles hörbar zu machen, kommt hier der Musik absolut zu Gute! Und ich finde nicht, dass das häßlich klingt, ganz im Gegenteil, es ist eben ein derber, brutaler Höllenritt, der höchst komplex aufgebaut ist und immer mehr in den Abrund driftet. Bernstein sah hier den Zusammenbruch der Zivilisation - und das ist schon ein gutes Bild, werden doch zivilisatorische Gebräuche (ein Tanz ist ja immer auch ein 'gesellschaftliches Ereignis') bis zum bitteren Ende getrieben. Während Boulez diesen Vorgang eher als Zuschauer analysiert, was den Vorgang begreifbar macht, ist man bei Bernstein (kenne nur die Concertgebouw-Aufnahme) gleichsam selber auf dem Parkett und wird vom Strudel der Zerstörung viel unmittelbarer erfasst. In seiner Berliner-Aufnahme soll Bernstein hier noch einen Schritt weiter gegangen sein.


    Viele Grüße
    Christian

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Also insgesamt an manchen Stellen eher ein Weiterkomponieren als eine werkgetreue Interpretation - ich bin da selbst hin- und hergerissen. Abbado hat übrigens einmal in einem Interview bekannt, dass er die Berliner Aufnahme Bernsteins sehr schätze - auch weil Bernstein sich Freiheiten herausgenommen habe, vor denen alle anderen zurückgeschreckt wären (sinngemäß zitiert).


    Viele Grüße


    Bernd


    Hallo Bernd,


    danke für Deine Einschätzung.


    Das mit dem "Weiterkomponieren" tritt beileibe nicht nur bei bei Mahlers 9. auf. Ich gestehe, daß mir Mahler selbst "genug zu sagen hat", als daß ich eine "erweiterte Komposition" bräuchte...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Hallo Christian,
    die Boulez-Aufnahme hat ihre Tücken. Du beschreibst sie objektiv richtig. Dank eines längeren Gesprächs mit Boulez glaube ich zu verstehen, was er will: Den ersten Satz deutet Boulez als einen Versuch, gegen ein Schicksal anzukämpfen - aber es ist nicht ein heroischer Versuch, sondern der Versuch in totaler Schwächung.
    Der letzte Satz ist dann das Gefühl eines Aufgehens in den Kosmos, schwebend, in völliger Gleichgültigkeit. Boulez geht dabei von den letzten Takten des "Lied von der Erde" aus.
    Damit werden diese beiden Sätze, die ich ebenfalls beim ersten Hören als eigentümlich empfand, für mich eigentlich schlüssig.
    Eine andere Frage ist es dann freilich, ob man das nun mag oder nicht.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Christian B.


    Heute weiß ich, dass diese Aufnahme etliche Schwächen hat, so wirken die Steigerungen im 1. Satz seltsam kraftlos, und das Finale birgt für mich keine spürbare emotionale Dimension.



    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    die Boulez-Aufnahme hat ihre Tücken. Du beschreibst sie objektiv richtig. Dank eines längeren Gesprächs mit Boulez glaube ich zu verstehen, was er will: Den ersten Satz deutet Boulez als einen Versuch, gegen ein Schicksal anzukämpfen - aber es ist nicht ein heroischer Versuch, sondern der Versuch in totaler Schwächung.
    Der letzte Satz ist dann das Gefühl eines Aufgehens in den Kosmos, schwebend, in völliger Gleichgültigkeit. Boulez geht dabei von den letzten Takten des "Lied von der Erde" aus.
    Damit werden diese beiden Sätze, die ich ebenfalls beim ersten Hören als eigentümlich empfand, für mich eigentlich schlüssig.
    Eine andere Frage ist es dann freilich, ob man das nun mag oder nicht.
    :hello:


    Ich halte gerade den ersten Satz in der Boulez-Einspielung für sehr gelungen (den dritten und vierten beurteile ich wie Christian, für den zweiten fehlt Boulez m.E. der richtige Ton - man höre hier Bruno Walter). Die semantische Dimension, die Edwin angesprochen hat, lasse ich jetzt mal unberücksichtigt: aber der Umgang mit den Tempi ist traumwandlerisch sicher (bei einem objektiv vielleicht etwas zu langsamen Grundtempo), die Durchsichtigkeit des Klangs vorbildlich. Zudem sind gerade die leisen Stellen von ungeheurer Intensität, wozu auch das herausragende (überhaupt nicht plakative) Orchesterspiel beiträgt (das CSO wächst auch in der Giulini-Aufnahme über sich heraus). Wirklich unterspielt finde ich nur den Zusammenbruch mit den "mit höchster Gewalt" hereinfahrenden Posaunen plus Tamtam - hier fehlt ebendiese "höchste Gewalt" und auch die panische Beschleunigung in den vorhergehenden Takten findet kaum statt. Aber mit dieser Passage sind auch andere Dirigenten gescheitert.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Na ja- es ist halt ein typischer Bernstein, mit allen emotionalisierenden Verzerrungen und das schiere Gegenteil von Bruno Walter, aber dieser live-Mitschnitt aus Berlin hat, auch wenn man beim Mitlesen in der Partitur immer wieder den Kopf schüttelt, eine derart ungeheuerliche emotionale Intensität, daß sie jedwede kopfigen Bedenken völlig in den Wind schlägt bei mir. (Abgesehen davon natürlich, daß Bernstein in seiner Interpretation unglaublich viel von Horenstein "geklaut" hat -- und dies wörtlich: Nämlich aus Horensteins Orchestermaterial.)

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    ...Der letzte Satz ist dann das Gefühl eines Aufgehens in den Kosmos, schwebend, in völliger Gleichgültigkeit. Boulez geht dabei von den letzten Takten des "Lied von der Erde" aus.
    Damit werden diese beiden Sätze, die ich ebenfalls beim ersten Hören als eigentümlich empfand, für mich eigentlich schlüssig.
    Eine andere Frage ist es dann freilich, ob man das nun mag oder nicht.
    :hello:


    Hallo Edwin,


    Danke für die wertvollen Hinweise, ich habe es mir jetzt noch mal angehört, habe aber so meine Probleme mit diesem "in völliger Gleichgültigkeit" bei Boulez. Wenn man es so sieht, ist es in der Tat stimmig, aber wenn man bspw. die alte Buno Walter Aufnahme von 1938 im Ohr hat, ist es einfach unmöglich, diesen Satz in eher distanzierter Gleichgültigkeit ausklingen zu lassen. Die Zeiten haben sich gewiss geändert, aber bei Walter klingt eine Empathie durch, die man nicht ganz aus der der Partitur weglassen kann. Spanned wäre nun freilich die Frage, wer diese Interpretationslinie von Walter mit den Möglichkeiten unserer Zeit (Orchester und Aufnahmetechnik) weiterverfolgt hat.


    Viele Grüße,
    Christian

  • Hallo Christian,
    das ist für mich eben das Reizvolle an diesen völlig unterschiedlichen Interpretationen:
    Walter: Intensive Darstellung von Emotion
    Bernstein: Darstellung überbordender Emotion
    Boulez: Akzeptanz der "Letzten Dinge" - fast im Sinne des Buddhismus.


    Meiner Meinung nach sind vor allem Walter, aber eben auch Horenstein und Bernstein derart in die Bereiche der Emotion vorgedrungen, daß man von einer weiteren Einspielung des Werkes lieber die Finger lassen sollte, wenn man keinen wesentlich anderen Ansatz hat. Boulez bietet mir genau diesen anderen Ansatz, er ist kein abgeschwächter Bernstein oder kein verwässerter Walter, sondern er hat eine neue Lesart.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Ich finde es schön, daß hier vergleichsweise viele einer Meinung sind, was den Wert der historischen Bruno-Walter-Aufnahme betrifft ... Und bei Bernstein ist mein Favorit sein Live-Mitschnitt mit den Berliner Philharmonikern bei DGG (als Karajan heimlich in seiner Loge gesessen und Tränen geweint haben soll)....


    ... aber nicht wegen Mahler, sondern wegen Bernstein ;(

  • Zitat

    Original von helmutandres


    ... aber nicht wegen Mahler, sondern wegen Bernstein ;(


    Kann schon verstehen, dass er auch mal so dirigieren hätte wollen :stumm: :D

    Viva la libertà!

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