Haydn, Joseph: Sinfonie Nr. 102 B-dur

  • Nr. 102 ist eine der bemerkenswertesten unter Haydns Londoner Sinfonien. Sie führt durchaus kein Schattendasein, ist aber sicherlich unbekannter als die anderen Londoner mit dreistelliger Ordungsziffer. H.C. Robbins Landon bezeichnete sie sinngemäß als Haydns lauteste und aggressivste Sinfonie – und meinte damit wohl vor allem den außergewöhnlichen ersten Satz des Werks, der durch seine Wildheit und seinen stellenweise rabiaten Gestus sowie aufgrund der selbst für Haydn ungewöhnlich intensiven thematischen Arbeit verblüfft. Aber auch die drei folgenden Sätze stehen dem nicht nach.


    Die B-dur-Sinfonie wurde wohl Ende 1794 in London komponiert und am 2. Februar 1795 dortselbst uraufgeführt, einen Monat vor Nr. 103 und drei Monate vor Nr. 104. Es war die erste Sinfonie, die nicht mehr unter Salomons Verantwortung aufgeführt wurde, sondern in den von Giovanni Battista Viotti initiierten „Opera Concerts“.


    Der erste Satz beginnt mit einer gewichtigen Largo-Einleitung: Zwischen zwei portalartige Tutti-Unisono-B’s (Takt 1 und 6) plaziert Haydn eine ätherische Melodie in Geigen und Bratschen (T. 2-5), deren erste Phrase dann farbig instrumentiert durch die ziemlich verschatteten Harmonien schweift (T. 10-22). Der Vivace-Hauptsatz stellt sein erstes, energisches Thema ungewöhnlicherweise in Forte-Dynamik vor und wiederholt es dann im Piano (T. 22-37). Sofort schließt sich, was für diesen Satz charakteristisch ist, eine Quasi-Durchführung des Themas an. Es folgt ein ebenfalls sehr energisches, auftaktiges, kurzes Überleitungsthema (T. 56ff.), das schon beim ersten Erscheinen gleichzeitig (!) in seiner abwärtsgerichteten Grundgestalt (Bässe) und seiner aufwärtsgerichteten Umkehrung (erste Violinen) erscheint und unter dem in den zweiten Violinen durchlaufenden Achtelimpuls des ersten Themas mehrfach wiederholt wird. In Takt 80 kommt die durchweg energiegeladene Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss. Es folgt das möglicherweise ungewöhnlichste Seitenthema, das Haydn je komponiert hat: eingerahmt von zwei ganztaktigen Fortissimo-Akkorden und zwei ebenfalls ganztaktigen Pausen erklingt im Piano der Streicher ein eher unscheinbares, aber „harmonisch abwegiges“ Motiv (Walter). Die ungewöhnliche Struktur wiederholt aber im Grunde nur die ersten sechs Takte der Largo-Einleitung – soviel zum thematischen Zusammenhang zwischen Einleitung und Hauptsatz bei Haydn! Nachdem das Seitenthema einmal wiederholt worden ist, kehrt die Musik bereits in Takt 92 umstandslos zunächst zum Überleitungsthema und dann zum ersten Thema zurück, mit dessen Material die Exposition im Piano beschlossen wird.


    Nach der Wiederholung der Expo folgt die im Verhältnis zu den anderen Satzabschnitten längste (127 Takte) und wohl auch konzentrierteste Durchführung, die Haydn je geschrieben hat. Zunächst: ganztaktige Pause – Fortissimo-Akkord – ganztaktige Pause – Seitenthema (T. 111-117). Dann eine Durchführung des ersten Themas, bei der die ostinat stampfenden Achtelketten dominieren (T. 117-131). Das zweite Thema taucht wieder auf, mit seinen „abgespalteten“ letzten beiden Vierteln wird gespielt, das Thema erfährt kontrapunktische Verdichtung und u.a. durch eine Oboenstimme harmonische Aufladung und mündet in einen Temperamentsausbruch, den man diesem schüchternen Gebilde nie zugetraut hätte (T. 132-160). Jetzt ist das Überleitungsthema in höchstmöglicher Verdichtung dran: in einem dreifachen Oktavkanon (T. 160-184) wird es durch den Wolf gedreht. Dabei übersät Haydn (wie auch an anderen Stellen der Durchführung) die Partitur mit fz- und sf-Dynamikangaben, wie auch Beethoven sie in der Durchführung der Eroica nicht häufiger hingeschrieben hat. Eine kurze Zäsur in Takt 184, dann erscheint in den Flöten das erste Thema. Der schon genug durchgerüttelte Hörer wähnt sich aufatmend in der Reprise, aber ach, sie ist nur Schein: In Takt 192 setzt noch einmal eine wilde Durchführung des ersten Themas ein, bei der die ostinaten Achtel unter dröhnenden Bläserakkorden immer weiter nach oben sequenziert werden, was schließlich fast in einer Art Apotheose des Themas endet (T. 192-222). Schließlich ein ungeheuer effektvoller, kurzer Übergang zur Reprise – Geigen, Oboen und Flöten werfen sich über einem explosiv crescendierenden Paukenwirbel den Kopf des ersten Themas zu (T. 222-227). Die Reprise ist verkürzt und teilweise gegenüber der Expo zugespitzt, die Coda hält Haydn kurz: sie arbeitet auschließlich mit dem ersten Thema, das sich gewissermaßen verrennt, dann aber – nach einer Fermatenpause – triumphal zum Abschluss geführt wird.


    Der zweite Satz, ein Adagio im Dreivierteltakt, steht in F-dur und ist (mit einigen Abweichungen) eine Übertragung des langsamen Satzes von Haydns Klaviertrio Hob.XV: 26 ins Medium der Orchestermusik. (Man hat lange diskutiert, ob Sinfonie-Adagio oder Klaviertrio-Adagio zuerst da war, aber die Frage scheint entschieden zu sein – u.a. weil eine Transposition von Fis nach F wahrscheinlicher ist als das Gegenteil.) Dabei hat Haydn den Satz aber „sinfonisch“ erweitert – aus der A-A’-A’’-Form des Kammermusikwerks wurde eine A-A1-A’-A’’-Form (A1 ist keine Variation von A, sondern eine in Instrumentation und Dynamik leicht veränderte Reprise). Vor allem gewinnt der Satz an Klangfarbe, es ist überhaupt einer der am apartesten instrumentierten Sinfoniesätze Haydns – mit obligatem Solocello sowie gedämpften Pauken und Trompeten. Eine zwischen galanter Attitüde und empfindsamer Expressivität changierende, langgezogene Melodie prägt das Geschehen der ersten Hälfte des A-Teils, in der zweiten Hälfte dominiert eine nach Moll gewendete Sechzehnteltriolen-Bewegung, die vorher schon im Solocello angedeutet worden war. Die dreimalige mehr oder weniger variierte Wiederholung dieses Formkomplexes gestaltet Haydn äußerst fantasievoll, die Balance zwischen entspannter Kantabilität und expressiver Verdichtung ist großartig.


    Das Menuett, Allegro, nimmt wieder den „unwirschen“ Gestus des ersten Satzes auf, wenn auch nicht ganz so stark. Der auftaktige Beginn wiederholt aber außerdem, auch wenn man es kaum glaubt, fast exakt den Kopf des Hauptthemas des zweiten Satzes! Den ruppigen Charakter unterstreicht Haydn gelegentlich noch, wenn er selbst den Auftakt im fz notiert (T. 8 ). Typisch für diesen Satz sind die permanenten Betonungen auf dem dritten Taktteil, die kaum noch etwas vom ursprünglichen Charakter eines Menuetts durchscheinen lassen. Entspannter und kantabler dagegen das Trio, in dem es zu einer oktavierten Parallelführung von Oboe und Fagott kommt.


    Schließlich das Finale, Presto im Zweivierteltakt. Die Formgebung ist nicht ganz leicht zu durchschauen, es ist eine der vielen Variationen eines „Sonatenrondos“, die Haydn auf Lager hatte. Der Tonfall ist (traditionell) deutlich entspannter als im Kopfsatz, aber die Heterogenität der Elemente verblüfft gleichwohl: ein tänzerisches Hauptthema, aus dem sich ein klopfendes Motiv in den Bläsern abspaltet, ein temperamentvolles Thema mit großen Intervallsprüngen im Fortissimo (T. 38ff.), ein leicht „ungarisch“ klingendes Motiv mit chromatisch geschärften Achtelketten (T. 78ff.), „fast absurde, kreisende Sechzehntelfiguren“ (Walter). Dazwischen unablässige Verwandlungen des Hauptthemas, bei dem ständig mit dem Auftakt Ball gespielt wird, das aber auch zu plötzlichen Ausflügen in eine seriöse Sphäre kontrapunktischer Verarbeitung fähig ist (T. 187ff.). Am Schluss das bewährte, aber immer wieder überraschende Spiel mit der Musik, die nicht weiß, wie sie zum Ende kommen soll. Großartiger Abschluss einer Sinfonie, die für mich zu den liebsten des gesamten Repertoires gehört.


    Morgen folgen noch ein paar Bemerkungen zu einigen Einspielungen.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Nun noch der Hinweis auf vier Einspielungen:





    Das ist die zweite Aufnahme dieser Sinfonie mit Adam Fischer von 2006, nicht zu verwechseln mit der alten, die in der großen Sammelbox enthalten ist. Die alten Einspielungen der späten Haydn-Sinfonien mit Fischer sind eher unauffällig, orchestral nicht übermäßig brillant und aufnahmetechnisch ziemlich grau. Man kann aber schon bei der Sammelbox verfolgen, wie Fischer mit immer späterem Aufnahmedatum immer besser wird. Inzwischen - das erlebt man gerade im Konzert sehr eindrucksvoll - ist Fischer der originellste Nicht-Hip-Haydn-Dirigent geworden, den ich kenne. Er hat ein untrügliches Gefühl für die Originalität der Musik und scheut sich nicht, die komponierten Pointen demonstrativ herauszustellen. Ich kenne keine Aufnahme, die das Spiel mit dem Auftakt im Menuett von Nr. 102 so hervorhebt wie diese. Auch sonst lässt die Einspielung in puncto Energiegeladenheit, Tempowahl, Transparenz, spieltechnisches Niveau und Aufnahmetechnik kaum Wünsche offen.






    Immer noch sehr zu empfehlen: die Harnoncourt-Aufnahme aus den späten 80ern. Keinerlei Extravaganzen - wenn man etwas kritisieren will, dann eher, dass die Interpretation fast zu schön und zu füllig klingt. Wenn man das mag: eine großartige Aufnahme, fantastisches Spiel des Concertgebouw-Orchesters (man höre sich den wunderbar ausgesungenen zweiten Satz mit dem Cellosolo an!), perfekte Balance zwischen den Instrumentengruppen. Harnoncourt sorgt natürlich dafür, dass die konfrontative Seite der Sinfonie nicht zu kurz kommt.






    Von Brüggen und seinem Ensemble stammt die empfehlenswerteste HIP-Einspielung der Sinfonie, die ich kenne. Sehr temperamentvoll, oft geradezu explosiv, aber nie pauschal im ersten Satz. Man höre sich an, wie Brüggen die letzten beiden Streicherakkorde am Ende der Exposition beim erstenmal und bei der Wiederholung spielt - das nenne ich Differenzierung! Im zweiten Satz wird die Kantabilität sehr schön getroffen, aber eben auch die latente Gefährdung (sehr schön die gelegentlichen Stopftöne der Hörner). Im Vergleich zu den anderen, durchweg sehr schnellen Aufnahmen ein leicht gebremstes Finale, das aber alles andere als lahm ist und manche Details besonders schön herausarbeitet.






    Bezüglich Goodman bin ich fast immer skeptisch, und auch hier gibt es entsprechenden Anlass. Es ist zweifellos historisch "richtig", dass Goodman auf einem Hammerklavier mitklimpert. Wie er das macht, finde ich schon anfechtbarer - Tendenzen in Richtung Klavierkonzert sind unüberhörbar. Erstens wegen seiner Auszierungen, zweitens wegen des aufnahmetechnisch "unnatürlich" in den Vordergrund gezogenen Tasteninstruments. Über längere Strecken ist das Klavier aber gar nicht zu hören - ob Goodman da gerade dirigiert oder eingeschlafen ist, weiß ich nicht. Spieltechnisch kann man gerade den Streichern im ersten Satz zubilligen, dass sie seelenlose Perfektion erst gar nicht erreichen wollen. Aber: der ruppige Tonfall, der in dieser Sinfonie über weite Strecken herrscht, kommt Goodman entgegen - und wer eine aufgerauhte, orchestral eher klein besetzte Lesart sucht, wird nicht enttäuscht. Noch mehr als Brüggen betont Goodman die "Gefährdungen" im langen Satz (ganz viele Stopftöne der Hörner) und lässt als einziger auch die halbe Forte-Note der Hörner in Takt 56 wie notiert ausspielen.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Lieber Bernd,
    von den Einspielungen, die Du genannt hast, kenne ich Brüggen und Goodman – dazu die Fischer-Aufnahme aus dem Brilliant-Klotz.


    Was Brüggen und Goodman anbetrifft so sind unsere Grundeinschätzungen ja scheinbar eher konträr :D – aber im Fall der 102. muß ich Dir unbedingt beipflichten. Hier ist Brüggen einfach ideal. Zwar macht auch Goodman für meine Begriffe eigentlich fast alles richtig, das schroffe Klangbild trifft meinen Geschmack ja ohnehin und auch das im Vergleich mit Brüggen insgesamt eher höhere Tempo (nur im Menuetto ist Brüggen zügiger) schadet der Musik hier nicht. Aber, ach!, das von Dir schon inkriminierte Fortepiano-Geklimper ist wirklich enervierend! Oftmals geht mit Herrn Goodmann die Leidenschaft durch und er überschreitet die stützende Rolle, die man dem Tasteninstrument vielleicht zubilligen könnte. Dann gerät er scheinbar in Extase, was ihn zur Ausführung von etwas seltsam anmutenden Klimperfigürchen verführt. Es ist geradezu ein Glücksgefühl, wenn man das Klavier in den Fortepassagen nicht hören kann. Warum er bestimmte Passagen dann überhaupt nicht begleitet, ist mir auch ein Rätsel.


    Die Aufnahme aus der Fischer-Box ist ziemlich unspektakulär, für meinen Geschmack etwas arg lahm, was der Innenspannung der Musik im Adagio (Goodman: 4.55; Brüggen: 5.09; Fischer: 6.10) und insbesondere im Menuetto (Goodman: 4.58; Brüggen 4.32; Fischer 6.49) IMO doch ziemlich schadet. Das Klangbild ist zudem etwas pauschal und mulmig.


    Viele Grüße,
    Medard

  • Zitat

    Original von Klawirr
    Die Aufnahme aus der Fischer-Box ist ziemlich unspektakulär, für meinen Geschmack etwas arg lahm, was der Innenspannung der Musik im Adagio (Goodman: 4.55; Brüggen: 5.09; Fischer: 6.10) und insbesondere im Menuetto (Goodman: 4.58; Brüggen 4.32; Fischer 6.49) IMO doch ziemlich schadet. Das Klangbild ist zudem etwas pauschal und mulmig.



    Lieber Medard,


    bezüglich der Aufnahme aus der Fischer-Box gebe ich Dir völlig recht. Umso erstaunlicher ist dann tatsächlich die neue, allerdings unverschämt teure Neuaufnahme, in der z.B. auch das Tempo im zweiten Satz um einiges schneller ist (4:57 statt 6:10!). Beim Menuett ist Fischer nach wie vor langsamer als die Hipper (6:04), aber in diesem Fall finde ich das zumindest erwägenswert - die Luftpause nach dem Auftakt und vor allem der ausgespielte und nicht nur verhuscht angedeutete Schleifer gefallen mir sehr gut. Der Satz bekommt dann mehr einen trotzig stampfenden Charakter, obwohl mir die temperamentvoll-schnelleren Varianten von Brüggen und Goodman auch sehr zusagen (im eigentlichen Menuett ist Goodman nach meiner Erinnerung sogar noch etwas schneller als Brüggen, er verlangsamt das Trio allerdings viel stärker - daher die längere Trackdauer bei Goodman).



    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Bernd,


    Schöne Vorstellung des Werkes. Ich habe dieses gestern gehört und bin sehr angetan davon. Ich würde sogar sagen das es momentan meine liebste Haydn-Sinfonie ist (von denen die ich bislang kenne).
    Kurzer Höreindruck von mir soweit ich das noch in meinem Gedächtnis habe.
    Besonders gut gefällt mir die Durchführung des 1.Satzes wo viel passiert und Haydn zeitweise ziemlich extreme Kontraste gegenüberstellt, soweit ich mich noch erinnern kann war zum. bei meiner Harnoncourt-Einspielung hörbar, wirklich schon einige Beethovensische Artikulationen dabei und man merkt auch wieder allgemein bei dieser Sinfonie das ihn Haydn viel mehr als Mozart zum. in seinen Sinfonien beeinflußt haben mag. Der 2. Satz ist für mich der wohl schönste langsame Satz aus den Haydn-Sinfonien die ich bislang kenne, sehr schönes Thema, originell die Begleitung eines Cellos und besonders schön gefällt mir der Moment wie am Schluß mitten bei den (begleitenden) abwärts bewegenden hohen Streichern gegen Ende des Themas hineinmoduliert wird, im Grunde ein kleiner Kniff und kurzer Moment, für mich aber mit großer wunderbarer Wirkung.
    Das Menuett mag ich auch sehr obwohl ich sonst allgemein nicht so unbedingt ein Freund von Menuetten der Klassik-Ära bin, aber dieses finde ich gut gelungen, wieder habe ich das Gefühl einen Schuß Beethoven mit diesen markant rythmischen Betonungen wahrnehmen zu können. Der letzte Satz ist auch sehr abweschslungsreich, die wie Bernd sie genannt hat "klopfenden Bläserthemen" die rythmisch so weit ich noch in Erinnerung habe vor den Tuttis stehen erinnern mich sogar ein wenig stilistisch an Rossini...dabei könnten sie aber ja zeitlich höchstens nur ein Vorläufer sein.


    lg
    Thomas

    „Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein.” (Marie von Ebner-Eschenbach)

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  • Das ist in der Tat eine der großartigsten Sinfonien Haydns und der erste Satz genießt bei mir nochmal eine besonders ausgezeichnete Stellung. Auch der langsame Satz ist ein alter Favorit. Vielleicht absichtlich im Kontrast zu dem dichten und dramatischen Kopfsatz recht einfach, vergleichsweise kontrastarm, aber mit wunderbarem Klang und träumerischer Stimmung (mein Liebling wird wohl das Largo aus #88 bleiben, aber dieser hier geht in eine ähnliche Richtung). Das Menuett wird natürlich sehr häufig viel zu langsam genommen, aber es funktioniert sogar als Brucknerscher Elefantentanz ganz gut. Das Finale finde ich allerdings, bei aller Brillanz und Originalität etwas "leicht" verglichen mit den vorhergehenden Sätzen.


    Bernd hat schon auf die aparte und differenzierte Instrumentation des adagios hingewiesen. Auch das Finale besticht durch einige zwischen Humor und Groteske schwankende Finessen, wenn etwa das Auftaktmotiv in unbegleiteten Hörner/Fagotten erscheint oder in ganz ausgedünntem Satz zwischen den Geigen hin- und hergeworfen wird (nach der fugato-Episode, als wolle man sich über die Gelahrtheit lustig machen).
    Der Kopfsatz ist dagegen von einer bei Haydn eher ungewöhnlichen Massivität im Orchester, was einige Schwierigkeiten an die Interpreten stellt (denn der wuchtige Charakter soll ja jedenfalls, bei aller wünschenswerten Transparenz, erhalten bleiben). Etwa die Hörbarkeit der Flöte, wenn sie das Hauptthema verdoppelt. Geteilte Violinen sind hier eigentlich Pflicht (auch im Finale sehr wichtig)...
    Egal, allein dieser Kopfsatz straft all jene Lügen, die Haydn (etwas gönnerhaft) als soliden, aber braven Altmeister mit einigen augenzwinkernden Scherzchen sehen. Eine solche Wucht und Dramatik findet man sonst sehr selten.


    Zu Interpretationen muß ich mich bei Gelegenheit nochmal ausführlicher äußern; Brüggen gefiel mir ebenfalls sehr gut (und er meistert die Balancen im Kopfsatz trotz live-Aufnahme), Jochum fand ich ein wenig zu leichtgewichtig im Kopfsatz. Eine grandiose, wuchtige Interpretation (und deutsche Sitzordnung) liefert Klemperer ab, und das ohne allzubreite Tempi (Menuett natürlich zu langsam, aber nicht langsamer als Jochum). Unbedingt hörenswert, muß aber wohl in Japan bestellt werden (soviel wie Amazon als Import verlangt, würde ich jedenfalls nicht zahlen)



    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich schätze die Nr. 102 unter den Londonern nebst der 99 auch ganz besonders.
    Habt ihr v.a. im Finale nicht auch den Eindruck des Fingerzeigs in Richtung Beethoven? Es kommt mir so vor, als ob gerade im Finale dieser Symphonie deutlich wird wie sehr sich Meister und Schüler (im Geiste) durchdrungen haben.


    :hello:
    Wulf

  • Zitat

    Original von Wulf
    Habt ihr v.a. im Finale nicht auch den Eindruck des Fingerzeigs in Richtung Beethoven? Es kommt mir so vor, als ob gerade im Finale dieser Symphonie deutlich wird wie sehr sich Meister und Schüler (im Geiste) durchdrungen haben.



    Hm, ich sehe die Beethoven-Vorwegnahme oder (wenn man will) -Nähe vor allem im ersten Satz mit seiner Dramatik und Wucht/Aggressivität , der intensiven thematischen Arbeit, der ausgedehnten Durchführung usw.


    Im Finale gibt es allerdings auch Momente, die später bei Beethoven auftauchen: Die Verselbständigung des Auftaktmotivs, auf die Johannes hingewiesen hat, findet sich in ähnlicher Weise auch beim Übergang zur Reprise in den Kopfsätzen der vierten Symphonie (auch in B-dur!) und der Waldsteinsonate.


    Andererseits haben wir im Finale von Nr. 102 auch Opera-Buffa-Elemente wie das ebenfalls aus dem Hauptthema abgespaltete klopfende Holzbläsermotiv. Thomas/âme fühlt sich hier zu Recht an Rossini erinnert, der eigentliche Bezugspunkt wäre aber sicher eher die zeitgenössische Buffa: in der (Eifersuchts-)Arie des Titelhelden im vierten Akt von Mozarts "Figaro" ist ein fast identisches Motiv allgegenwärtig.


    Unabhängig von allen vermeintlichen Mozart- und Beethoven-Bezügen: Der letzte Satz von Nr. 102 ist wie die meisten Finali der Londoner Sinfonien zweifellos "leichtgewichtiger" (und kürzer) als der jeweilige Kopfsatz. Ich sehe aber in der Spannweite der musikalischen Idiome (Kontrapunkt/Buffa etc.) und vor allem in ihrem unmittelbaren Nebeneinander und ihrer gegenseitigen "Kommentierung" eine besondere Qualität dieser Sätze.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Es gibt einige Verbindungen zu Beethovens 4., das ist richtig. Auch die hat eine (Schein)reprise mit der Flöte im Kopfsatz und einen Paukenwirbel bei der Rückleitung zur Reprise. Im Finale kommt ebenfalls eine komische Verlangsamung des Hauptthemas kurz vor Schluß (bei Haydn T 278 ff. im Finale). Aber ebenso wie bei dem Spiel mit dem Auftakt bin ich mir nicht sicher, ob man das nicht häufiger findet.


    Ich finde die Haydn-Finali natürlich auch nicht grundsätzlich zu leicht; aber hier fällt es aufgrund des vergleichsweise wuchtigen Menuetts und des Kopfsatzes besonders auf. Die ebenfalls gewichtige #98 hat einen zwar humorigen, aber deutlich längeren Schlußsatz.


    :hello:


    JR

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  • Es wundert mich, dass diese Aufnahme noch nicht erwähnt wurde:



    Sinfonien Nr. 22, 86, 102
    City of Birmingham Symphony Orchestra,
    Sir Simon Rattle


    Diese Aufnahmen stammen aus Rattles "Goldenen Jahren" in Birmingham. Sie zeichnen sich durch Genauigkeit, Gestaltungswillen, Antiroutine, Dramatik, Scharfsinn, Witz und eine nicht nachlassende Spannung aus. Die Sinfonie Nr. 102 habe ich nicht wieder so überzeugend gehört wie hier. Es ist schon erstaunlich, welches Niveau Rattle mit diesem Orchester erreicht hat. Seine neuen Berliner Haydn-Aufnahmen kenne ich leider nicht, aber die Kritiken waren ja sehr durchwachsen.
    Das CBSO braucht sich jedenfalls hinter keinem Orchester, ob HIP oder "normal" zu verstecken!


    Philipp

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  • Die 102. ist die für mich ungewöhnlichste und gerade in den langsamen Abschnitten auch nachdenklichste seiner Londoner Sinfonien. Vielleicht auch die fortschrittlichste. Gerade für Quereinsteiger, die nur die "Namenssinfonien" der Londoner kenne dürfte sie eine (wie ich tark hoffe: positvie!) Überraschung sein.

    HERNEN

  • Nach freundlichem Hinweis in dreierlei blauem Imperativ ( :hello: ) präzisiere ich hier mal meine Vorbehalte aus dem Entdeckungsthread:


    Zum ersten Satz dieser Symphonie habe ich nach wie vor keinen richtigen Zugang. Hier wurde u.a. die Beethovennähe diskutiert, die mir ja eigentlich den Zugang erleichtern sollte - aber sie tut es nicht, vielleicht sogar im Gegenteil. Das Hauptthema ist jedenfalls ganz klar kein Beethoventhema, sondern eins von Haydn, und ich mag es nicht. Irgendwie klingt es für mich doch spielerisch, aber es wird forte herausgedonnert und klingt in den hohen Streichern irgendwie lärmig. Das Lärmige setzt sich dann natürlich bis zum Seitenthema fort. Wenn's dadurch aggressiv klingen soll: Ich finde, es passt nicht zu dem Haydnschen Thema, ebenso wie übrigens in der Militärsymphonie. Das konnte Beethoven einfach um Längen besser, und der hatte dazu dann auch das passende thematische Material.
    Einzelne Stellen in der Durchführung und der Übergang zur Reprise gefallen mir ja durchaus sehr, aber insgesamt komme ich mit diesem Satz nicht ins Reine.


    Ganz anders mit Satz Nr. 2: Das ist mein liebster langsamer Satz aus den Haydn-Symphonien, ganz klar! Das Solocello ist einfach bezaubernd, ob Brahms wohl bei seinem zweiten Klavierkonzert diesen Satz im Sinn hatte? Ganz beeindruckend finde ich die Mollwendung im Thema, auch die stampfende Überleitung der Streicher in die Coda!


    Das kräftige Menuett ist im Kontrast dazu sehr schön. Da finde ich übrigens im Gegensatz zum Kopfsatz das Ruppige, ja, Aggressive - wie in vielen anderen von Haydns Symphoniemenuetten - sehr gelungen und durchaus zum thematischen Material passend.


    Das Finale ist, finde ich, eine sehr gelungene Kombination aus Schwung und Dramatik und Witz. Das sehe ich anders als Johannes: Auch wenn es länger ist, das 98er-Finale mit seinen konzertanten Einlagen und Gags finde ich wesentlich leichter. Hier gibt es doch durchaus dramatische und wuchtige Stellen (die echten Sonatensätze finde ich aber meist besser als die Sonatenrondos, z.B. 86, 90, 92)!


    Ohne den Kopfsatz wäre diese Symphonie sicher einer meiner Favoriten, aber die Kopfsätze sind mir eben sehr, sehr wichtig.


    So, jetzt warte ich gespannt auf die Prügel für meine Kopfsatz-"Blasphemie"... :D
    (oder Wege aus dem Dilemma ;) )



    Gruß,
    Frank.

  • Zitat

    Original von Spradow
    Zum ersten Satz dieser Symphonie habe ich nach wie vor keinen richtigen Zugang. Hier wurde u.a. die Beethovennähe diskutiert, die mir ja eigentlich den Zugang erleichtern sollte - aber sie tut es nicht, vielleicht sogar im Gegenteil. Das Hauptthema ist jedenfalls ganz klar kein Beethoventhema,


    Es wäre ja auch etwas seltsam den Satz Haydns danach zu beurteilen, ob ein Thema möglichst Beethoven-nah ist. ;)


    Zitat


    sondern eins von Haydn, und ich mag es nicht. Irgendwie klingt es für mich doch spielerisch, aber es wird forte herausgedonnert und klingt in den hohen Streichern irgendwie lärmig. Das Lärmige setzt sich dann natürlich bis zum Seitenthema fort.


    Ich bin beinahe Deiner Ansicht, daß das Hauptthema etwas Nerviges hat. Es besteht eigentlich aus zu schnellen Noten, um wirklich wuchtig zu sein, es scheint nicht ganz leicht, ein Tempo zu finden, das sowohl die wuchtigen Schläge auf 1 und 2 als auch die Achtel richtig zur Geltung kommen läßt (ich favorisiere eine etwas breitere, aber wuchtigere Lesart mit deutlicher Artikulation wie bei Klemperer). (Man kann wohl auch sonst plausibel machen, daß der "alla breve"/2/2 Takt oft ein etwas breiteres Tempo nahelegt, dit auch bei 98,i und 104).
    "Beethovensch" sind eher andere Sachen, u.a. eben das Seitenthema mit dem Unisono und der Generalpause, oder die bohrenden Wiederholungen. Aber wie auch immer, die Musik erwirbt ihre Qualität nicht von einem imaginären Vorgriff auf Beethoven, auch wenn die Energie und einige Gestalten ähnlich sein mögen.


    Zitat


    Wenn's dadurch aggressiv klingen soll: Ich finde, es passt nicht zu dem Haydnschen Thema, ebenso wie übrigens in der Militärsymphonie. Das konnte Beethoven einfach um Längen besser, und der hatte dazu dann auch das passende thematische Material.


    Die Militärsinfonie hat aber doch kein besonders wuchtiges oder Beethovensches Material, oder?


    Zitat


    Das Finale ist, finde ich, eine sehr gelungene Kombination aus Schwung und Dramatik und Witz. Das sehe ich anders als Johannes: Auch wenn es länger ist, das 98er-Finale mit seinen konzertanten Einlagen und Gags finde ich wesentlich leichter.


    Das ist 98 ist in gewisser Weise leichter, gewiß, aber durch seine schiere Länge und stellenweise massiven Klang eben auch wieder nicht.


    Zitat


    Hier gibt es doch durchaus dramatische und wuchtige Stellen (die echten Sonatensätze finde ich aber meist besser als die Sonatenrondos, z.B. 86, 90, 92)!


    Eben. Das Finale fällt keineswegs ab, aber es ragt nicht in dem Maße heraus wie für mich z.B. die in 82, 86, 92, 103 und 104.
    Der Kopfsatz ragt dagegen m.E. heraus, ohne daß ich noch mehr dazu sagen könnte, als Bernd oben getan hat.


    :hello:


    JR

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    I knew the night had gone.
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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Es wäre ja auch etwas seltsam den Satz Haydns danach zu beurteilen, ob ein Thema möglichst Beethoven-nah ist. ;)


    Das tue ich ja nicht, aber möglicherweise schaden mir die "Vorschusslorbeeren" der Beethovennähe dieses Satzes: Denn solange ich in Haydn den Beethoven-Vorläufer finden wollte, konnte ich ganz allgemein nicht viel mit seiner Musik anfangen.



    Zitat


    Ich bin beinahe Deiner Ansicht, daß das Hauptthema etwas Nerviges hat. Es besteht eigentlich aus zu schnellen Noten, um wirklich wuchtig zu sein, es scheint nicht ganz leicht, ein Tempo zu finden, das sowohl die wuchtigen Schläge auf 1 und 2 als auch die Achtel richtig zur Geltung kommen läßt (ich favorisiere eine etwas breitere, aber wuchtigere Lesart mit deutlicher Artikulation wie bei Klemperer). (Man kann wohl auch sonst plausibel machen, daß der "alla breve"/2/2 Takt oft ein etwas breiteres Tempo nahelegt, dit auch bei 98,i und 104).
    "Beethovensch" sind eher andere Sachen, u.a. eben das Seitenthema mit dem Unisono und der Generalpause, oder die bohrenden Wiederholungen. Aber wie auch immer, die Musik erwirbt ihre Qualität nicht von einem imaginären Vorgriff auf Beethoven, auch wenn die Energie und einige Gestalten ähnlich sein mögen.


    Die Energie finde ich eben nicht so recht. Ich sage ja nicht, dass es unbedingt wie Beethoven klingen muss, aber ein weniger graziles Thema würde m.E. sehr helfen. Allerdings: Wer 1795 etwas Unwirsch-Energisches schreibt, muss sich den Vergleich mit Beethoven m.E. schon gefallen lassen.



    Zitat

    Die Militärsinfonie hat aber doch kein besonders wuchtiges oder Beethovensches Material, oder?


    Stimmt, das ist ja eben ihr Problem. :D
    Ich finde, dass sie nicht kriegerisch klingt, auch wenn sie das vielleicht stellenweise soll. Genauso, wie die 102 im Kopfsatz vielleicht energisch klingen soll, es durch das Material aber m.E. meist nicht tut (sondern stattdessen lärmt ;) ). Mir kommt es ein bisschen so vor, als wenn Haydn hier etwas sein will, was er nicht (bzw. nicht mehr) ist, oder was er nicht mit seinem Stil in Einklang bringen kann.



    Zitat

    Das ist 98 ist in gewisser Weise leichter, gewiß, aber durch seine schiere Länge und stellenweise massiven Klang eben auch wieder nicht.


    Und, was ich vergessen habe, das Finale von 98 ist kaum kontrapunktisch, im Gegensatz zu diesem hier. Was die "schiere Länge" betrifft: Mir ist es zu lang, ich empfinde es immer als recht schwachen Abschluss dieser tollen Symphonie.



    Zitat

    Eben. Das Finale fällt keineswegs ab, aber es ragt nicht in dem Maße heraus wie für mich z.B. die in 82, 86, 92, 103 und 104.
    Der Kopfsatz ragt dagegen m.E. heraus, ohne daß ich noch mehr dazu sagen könnte, als Bernd oben getan hat.


    Da fällt mir gerade ein, dass ich auch 103 nicht besonders mag... :D
    Schon interessant, dass sich da bei mir so eine tiefe Kluft im zweiten Londoner Sixpack auftut: 99 fantastisch, 101 und 104 toll, die anderen aus verschiedenen Gründen nicht vorne mit dabei.




    Gruß,
    Frank.

  • Zitat

    Original von Spradow
    Die Energie finde ich eben nicht so recht. Ich sage ja nicht, dass es unbedingt wie Beethoven klingen muss, aber ein weniger graziles Thema würde m.E. sehr helfen. Allerdings: Wer 1795 etwas Unwirsch-Energisches schreibt, muss sich den Vergleich mit Beethoven m.E. schon gefallen lassen.


    Das Hauptthema finde ich nicht nervig, und "grazil" wäre mir dazu auch nicht eingefallen (noch nicht einmal bei der Piano-Variante). Es ist sicher nicht übermäßig originell - aber das sind ja viele Kopfsatzthemen bei Haydn und eben auch bei Beethoven nicht: man höre sich nur das gänzlich uncharakteristische Hauptthema des Kopfsatzes von dessen vierter Sinfonie an (der ja, wie oben schon kurz diskutiert, einige interessante Parallelen zu Nr. 102 aufweist). Wichtig ist, was die beiden Komponisten aus ihren Themen machen - und die Techniken des energetischen Aufladens der Achtelbewegung, des Abspaltens von Themenbestandteilen, der Betonungen gegen die Taktschwerpunkte und auch der ständigen dynamischen Akzentsetzungen machen m.E. einen sehr "unwirsch-energischen" Eindruck. "Lärmend" würde ja bedeuten, dass die musikalische Komplexität nicht mit der hochgefahrenen Dynamik mithalten kann. Das lässt sich aber m.E. objektiv widerlegen - die Dichte der thematischen Arbeit ist im Kopfsatz von 102 nunmal extrem hoch, ebenso die Vielfältigkeit und Länge der Durchführung.


    Mit dem Beethoven von 1795, der gerade op. 1 und 2 komponierte, kann das m.E. gut mithalten. Auch wenn solche Vergleiche problematisch sind: der Kopfsatz von Beethovens erster Sinfonie (1800) erreicht diese Konzentration noch nicht, in der zweiten Sinfonie (1802) ist LvB dann auf Augenhöhe und erst der Kopfsatz der Eroica (1803/04) setzt schließlich ganz andere Standards.




    Zitat

    Stimmt, das ist ja eben ihr Problem. :D


    Soso... :evil:




    Zitat

    Da fällt mir gerade ein, dass ich auch 103 nicht besonders mag...


    :boese2:


    Du verspürst wohl das Bedürfnis, sämtliche noch unbetreuten Haydn-Sinfonienthreads zu eröffnen? :D



    Viele Grüße


    Bernd

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  • Hallo Bernd!


    Zitat

    Original von Zwielicht


    Das Hauptthema finde ich nicht nervig, und "grazil" wäre mir dazu auch nicht eingefallen (noch nicht einmal bei der Piano-Variante). Es ist sicher nicht übermäßig originell - aber das sind ja viele Kopfsatzthemen bei Haydn und eben auch bei Beethoven nicht: man höre sich nur das gänzlich uncharakteristische Hauptthema des Kopfsatzes von dessen vierter Sinfonie an (der ja, wie oben schon kurz diskutiert, einige interessante Parallelen zu Nr. 102 aufweist). Wichtig ist, was die beiden Komponisten aus ihren Themen machen - und die Techniken des energetischen Aufladens der Achtelbewegung, des Abspaltens von Themenbestandteilen, der Betonungen gegen die Taktschwerpunkte und auch der ständigen dynamischen Akzentsetzungen machen m.E. einen sehr "unwirsch-energischen" Eindruck. "Lärmend" würde ja bedeuten, dass die musikalische Komplexität nicht mit der hochgefahrenen Dynamik mithalten kann. Das lässt sich aber m.E. objektiv widerlegen - die Dichte der thematischen Arbeit ist im Kopfsatz von 102 nunmal extrem hoch, ebenso die Vielfältigkeit und Länge der Durchführung.


    An der Dichte des Satzes zweifle ich überhaupt nicht, ich mag doch nur das Hauptthema nicht (und dessen durchführungsartige Fortführung auch nicht), ich empfinde es als tendenziell physisch unangenehm (deswegen "lärmend", es war kein Lärmen um nichts gemeint). Es erzeugt für mich wahrscheinlich deswegen auch keinen energischen Vorwärtsdrang. Vielleicht ist es auch einfach nur ein Problem meiner Einspielungen und ich brauche eigentlich was HIPes; schade, dass man in den Hörschnipseln immer nur die langsame Einleitung zu hören bekommt.
    "Grazil" ist sicherlich nicht der richtige Ausdruck für das Thema, ich habe ihn als Gegenstück zu "wuchtig" verwendet - und wuchtig ist es mit Sicherheit auch nicht.




    Ich dachte, die macht Rappy? ?(;)
    Jetzt weißt Du zumindest, warum ich versuche, die Londoner zugunsten ihrer Vorgänger abzuwerten! :D:untertauch:



    Gruß,
    Frank.

  • Zitat

    Original von Spradow


    Die Energie finde ich eben nicht so recht. Ich sage ja nicht, dass es unbedingt wie Beethoven klingen muss, aber ein weniger graziles Thema würde m.E. sehr helfen. Allerdings: Wer 1795 etwas Unwirsch-Energisches schreibt, muss sich den Vergleich mit Beethoven m.E. schon gefallen lassen.


    Wie gesagt, besonders grazil ist das nicht, verglichen z.B. mit den Hauptthemen von 101 oder 103. Sondern schon widerborstig und etwas polternd. Mit "nervig" meinte ich eher, daß es nervöse Energie aufweist, nicht unbedingt, daß es auf die Nerven geht, aber eben nicht ignoriert werden kann, sondern im positiven Sinne irritiert. Es besteht so gleichsam von Beginn an eine Spannung, ungeachtet der mäßigen Originalität des Themas
    (vgl. übrigens auch mit dem schnellen Teil von Webers Oberon-Ouverture?!).
    Mit "Beethovensch" sind aber wohl besonders Stellen gemeint wie die oben von Bernd erwähnte Entwicklung mit dem Überleitungsmotiv.


    Zitat


    [Nr. 100]
    Ich finde, dass sie nicht kriegerisch klingt, auch wenn sie das vielleicht stellenweise soll. Genauso, wie die 102 im Kopfsatz vielleicht energisch klingen soll, es durch das Material aber m.E. meist nicht tut (sondern stattdessen lärmt ;) ). Mir kommt es ein bisschen so vor, als wenn Haydn hier etwas sein will, was er nicht (bzw. nicht mehr) ist, oder was er nicht mit seinem Stil in Einklang bringen kann.


    Nein, ganz und gar nicht. Der Kopfsatz von 102 ist außerordentlich, aber nicht untypisch; der in 100 ist m.E. sogar ziemlich typisch. Der soll nicht wirklich kriegerisch klingen, das sind eher muntere Marschelemente, allerdings klang für die Zeitgenossen allein der Beginn mit den unbegleiteten Holzbläsern nach Militärmusik. Und der Einbruch im langsamen Satz machte offenbar großen Eindruck. Von solchen, eher "äußerlichen" Effekten (und auch die waren Haydn nie fremd) ist die 102 aber sehr weit entfernt.


    Zitat


    Und, was ich vergessen habe, das Finale von 98 ist kaum kontrapunktisch, im Gegensatz zu diesem hier. Was die "schiere Länge" betrifft: Mir ist es zu lang, ich empfinde es immer als recht schwachen Abschluss dieser tollen Symphonie.


    Wäre ja auch total langweilig, alle Finali gleich zu machen (Merke: Haydn ist nicht Bruckner! er hatte mehr als ein Schema), Kontrapunktik ist keine Qualität per se, sonst wäre Reger der größte Komponist aller Zeiten... Das von 98 ist ein wenig "flächig", aber außerordentlich originell, ein ziemliches Unikat. Dagegen ist das von 102 bei allen unbestrittenen Qualitäten im Grunde derselbe "Typ" wie in 94 oder 99.


    Zitat


    Da fällt mir gerade ein, dass ich auch 103 nicht besonders mag... :D
    Schon interessant, dass sich da bei mir so eine tiefe Kluft im zweiten Londoner Sixpack auftut: 99 fantastisch, 101 und 104 toll, die anderen aus verschiedenen Gründen nicht vorne mit dabei.


    103 ist aber jedenfalls von vorn bis hinten unbestreitbar Haydnsch!
    Mein Anti-Favorit (sogar unter allen 12) ist eindeutig und mit weitem Abstand Nr. 100. Die Ecksätze sind sehr gut, wenn auch m.E. nicht herausragend, das allegretto nutzt sich recht schnell ab (und ist von der "Schockstelle" abgesehen der schlichteste Satz weit und breit, mir ein bißchen zu schlicht) und auch das Menuett ist nicht weiter bemerkenswert. 99 und 102-14 schätze ich alle außerordentlich. 101 mochte ich zwischendurch nicht besonders, weil die mir etwas zu "niedlich" war, was teils an Interpretationen liegt (das Menuett ist z.B. großartig, aber wird fast immer verschleppt und dann langweilig).


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Johannes,


    Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Nein, ganz und gar nicht. Der Kopfsatz von 102 ist außerordentlich, aber nicht untypisch; der in 100 ist m.E. sogar ziemlich typisch. Der soll nicht wirklich kriegerisch klingen, das sind eher muntere Marschelemente, allerdings klang für die Zeitgenossen allein der Beginn mit den unbegleiteten Holzbläsern nach Militärmusik. Und der Einbruch im langsamen Satz machte offenbar großen Eindruck. Von solchen, eher "äußerlichen" Effekten (und auch die waren Haydn nie fremd) ist die 102 aber sehr weit entfernt.


    Ok, mein obiges Statement nehme ich zurück, da es problematischerweise voraussetzt, dass die Musik tatsächlich militärisch bzw. wuchtig klingen soll (bzw. so, wie ich als heutiger Hörer "militärisch" oder "wuchtig" definiere).



    Zitat


    Wäre ja auch total langweilig, alle Finali gleich zu machen (Merke: Haydn ist nicht Bruckner! er hatte mehr als ein Schema), Kontrapunktik ist keine Qualität per se, sonst wäre Reger der größte Komponist aller Zeiten... Das von 98 ist ein wenig "flächig", aber außerordentlich originell, ein ziemliches Unikat. Dagegen ist das von 102 bei allen unbestrittenen Qualitäten im Grunde derselbe "Typ" wie in 94 oder 99.


    Meine Einschätzung des 98er-Finales ist rein subjektiv, kein Werturteil!



    Zitat

    103 ist aber jedenfalls von vorn bis hinten unbestreitbar Haydnsch!


    Da mochte ich vor allem den zweiten Satz nie so recht. Das höre ich mir aber erst morgen nochmal an, denn jetzt ist wirklich mal op. 131 dran...



    Gruß,
    Frank.

  • Seltsamerweise machte ich um die 102. bislang einen Bogen. Ich meine vor vielen Jahren mal hineingehört zu haben und war nicht auf Anhieb begeistert, so dass ich das Werk zurückstellte. Dieser Tage habe ich dieses Fehlurteil mal bereinigt. Tatsächlich handelt es sich um ein sehr gewichtiges Werk. Mir gefällt besonders der wuchtige und für Haydn sehr dramatisch geratene Kopfsatz, aber auch die restlichen. Das Finale mag der vergleichsweise leichtgewichtigste Satz sein, ist für sich genommen aber auch sehr gut.


    Eine Einspielung, die bisher noch nicht genannt wurde, aber sehr gelungen ist, ist jene der Wiener Philharmoniker unter André Previn (1993):



    Spielzeiten: 8:59 - 6:08 - 6:08 - 4:31


    Der englische Musikwissenschaftler Sir Donald Tovey (1875–1940) sah die 102. nach der 104. und dem Streichquartett in F-Dur, op. 77, Nr. 2, sogar als Haydns größtes Werk an, wie ich heute gelesen habe. In der Ansage irgendeiner Rundfunkaufnahme hieß es auch, die 102 sei die "Beethoven-artigste" aller Haydn-Symphonien.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich kann nur auf meinen Beitrag von 2008 (Nr. 10) verweisen, in dem ich mich nachdrücklich für Rattles Birminghamaufnahme bei der 102. ausgesprochen habe:



    Ich kenne auch Previns Wiener Aufnahme, ja, die ist wirklich gut, überzeugt mich aber nicht so wie die von Rattle.

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  • Danke, Agon, für den nochmaligen Hinweis auf Sir Simon.


    Rattle kann auch heute ab und an noch sehr gut sein, leider eher die Ausnahme mittlerweile. Er spielte vor ein paar Jahren mal Haydns selten aufgeführte 91. mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Die Radioübertragung hat mir sehr gefallen. Manchmal meine ich fast, sobald er vor einem anderen Orchester steht, ist er eher wieder "ganz der Alte". So dirigierte er auch die Königliche Kapelle in Kopenhagen (das älteste Orchester der Welt) mit Nielsens 4. - und das war wirklich bedeutend interessanter als die fade Darbietung mit seinen Berlinern.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Danke, Agon, für den nochmaligen Hinweis auf Sir Simon.


    Rattle kann auch heute ab und an noch sehr gut sein, leider eher die Ausnahme mittlerweile. Er spielte vor ein paar Jahren mal Haydns selten aufgeführte 91. mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Die Radioübertragung hat mir sehr gefallen. Manchmal meine ich fast, sobald er vor einem anderen Orchester steht, ist er eher wieder "ganz der Alte". So dirigierte er auch die Königliche Kapelle in Kopenhagen (das älteste Orchester der Welt) mit Nielsens 4. - und das war wirklich bedeutend interessanter als die fade Darbietung mit seinen Berlinern.

    Tja, das ist eine interessante Beobachtung. Eigentlich interessiert mich Rattle mittlerweile auch gar nicht mehr, aber ich habe die leise Hoffnung, daß sein Engagement beim London Symphony Orchestra da so eine Art "Wende" einleitet bzw. eben eine Rückkehr zu alten Tugenden. Es wäre interessant, Ihn jetzt mal mit seinem ehemaligen CBSO zu hören (ich weiß nicht, ob er da noch auftritt). Aber vermutlich ist er auch einfach nicht mehr "der Alte", sondern hat sich eben verändert und ist routinierter geworden.
    Interessant war, als ich Ihn vor ein paar Jahren mit der Staatskapelle Berlin mit Janaceks "Aus einem Totenhaus" im Schillertheater hörte - das war von umwerfender Extase, Kraft und Inspiration. Er kann also auch noch anders.

  • Ich möchte hier auch gerne Marc Minkowskis Aufnahme mit den Musiciens du Louvre Grenoble erwähnen. Mir gefällt hier, dass er als einer der wenigen HIPisten, die Londoner Sinfonien (besonders die zweite 6er Gruppe) mit einem angemessenen großen Orchester spielen lässt. Haydn schrieb schließlich für ein Orchester von etwa 60 Musikern. Der erste Satz bekommt dadurch die Wucht die er braucht. Auch der zweite Satz ist wunderschön musiziert, entspannt und nicht gehetzt, wie man es oft bei HIP Aufführungen hört. Auch Menuett und Finale haben einen guten "Drive".


    Minkowskis Londoner sind leider etwas durchwachsen. So gut ihm die Nr. 102 gelingt, so daneben dirigiert er dann die Nr. 103. Andererseits bin ich noch nie der perfekten GA der Londoner Sinfonien begegnet. Am ehesten kommt Eugen Jochum hin.