Nr. 102 ist eine der bemerkenswertesten unter Haydns Londoner Sinfonien. Sie führt durchaus kein Schattendasein, ist aber sicherlich unbekannter als die anderen Londoner mit dreistelliger Ordungsziffer. H.C. Robbins Landon bezeichnete sie sinngemäß als Haydns lauteste und aggressivste Sinfonie – und meinte damit wohl vor allem den außergewöhnlichen ersten Satz des Werks, der durch seine Wildheit und seinen stellenweise rabiaten Gestus sowie aufgrund der selbst für Haydn ungewöhnlich intensiven thematischen Arbeit verblüfft. Aber auch die drei folgenden Sätze stehen dem nicht nach.
Die B-dur-Sinfonie wurde wohl Ende 1794 in London komponiert und am 2. Februar 1795 dortselbst uraufgeführt, einen Monat vor Nr. 103 und drei Monate vor Nr. 104. Es war die erste Sinfonie, die nicht mehr unter Salomons Verantwortung aufgeführt wurde, sondern in den von Giovanni Battista Viotti initiierten „Opera Concerts“.
Der erste Satz beginnt mit einer gewichtigen Largo-Einleitung: Zwischen zwei portalartige Tutti-Unisono-B’s (Takt 1 und 6) plaziert Haydn eine ätherische Melodie in Geigen und Bratschen (T. 2-5), deren erste Phrase dann farbig instrumentiert durch die ziemlich verschatteten Harmonien schweift (T. 10-22). Der Vivace-Hauptsatz stellt sein erstes, energisches Thema ungewöhnlicherweise in Forte-Dynamik vor und wiederholt es dann im Piano (T. 22-37). Sofort schließt sich, was für diesen Satz charakteristisch ist, eine Quasi-Durchführung des Themas an. Es folgt ein ebenfalls sehr energisches, auftaktiges, kurzes Überleitungsthema (T. 56ff.), das schon beim ersten Erscheinen gleichzeitig (!) in seiner abwärtsgerichteten Grundgestalt (Bässe) und seiner aufwärtsgerichteten Umkehrung (erste Violinen) erscheint und unter dem in den zweiten Violinen durchlaufenden Achtelimpuls des ersten Themas mehrfach wiederholt wird. In Takt 80 kommt die durchweg energiegeladene Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss. Es folgt das möglicherweise ungewöhnlichste Seitenthema, das Haydn je komponiert hat: eingerahmt von zwei ganztaktigen Fortissimo-Akkorden und zwei ebenfalls ganztaktigen Pausen erklingt im Piano der Streicher ein eher unscheinbares, aber „harmonisch abwegiges“ Motiv (Walter). Die ungewöhnliche Struktur wiederholt aber im Grunde nur die ersten sechs Takte der Largo-Einleitung – soviel zum thematischen Zusammenhang zwischen Einleitung und Hauptsatz bei Haydn! Nachdem das Seitenthema einmal wiederholt worden ist, kehrt die Musik bereits in Takt 92 umstandslos zunächst zum Überleitungsthema und dann zum ersten Thema zurück, mit dessen Material die Exposition im Piano beschlossen wird.
Nach der Wiederholung der Expo folgt die im Verhältnis zu den anderen Satzabschnitten längste (127 Takte) und wohl auch konzentrierteste Durchführung, die Haydn je geschrieben hat. Zunächst: ganztaktige Pause – Fortissimo-Akkord – ganztaktige Pause – Seitenthema (T. 111-117). Dann eine Durchführung des ersten Themas, bei der die ostinat stampfenden Achtelketten dominieren (T. 117-131). Das zweite Thema taucht wieder auf, mit seinen „abgespalteten“ letzten beiden Vierteln wird gespielt, das Thema erfährt kontrapunktische Verdichtung und u.a. durch eine Oboenstimme harmonische Aufladung und mündet in einen Temperamentsausbruch, den man diesem schüchternen Gebilde nie zugetraut hätte (T. 132-160). Jetzt ist das Überleitungsthema in höchstmöglicher Verdichtung dran: in einem dreifachen Oktavkanon (T. 160-184) wird es durch den Wolf gedreht. Dabei übersät Haydn (wie auch an anderen Stellen der Durchführung) die Partitur mit fz- und sf-Dynamikangaben, wie auch Beethoven sie in der Durchführung der Eroica nicht häufiger hingeschrieben hat. Eine kurze Zäsur in Takt 184, dann erscheint in den Flöten das erste Thema. Der schon genug durchgerüttelte Hörer wähnt sich aufatmend in der Reprise, aber ach, sie ist nur Schein: In Takt 192 setzt noch einmal eine wilde Durchführung des ersten Themas ein, bei der die ostinaten Achtel unter dröhnenden Bläserakkorden immer weiter nach oben sequenziert werden, was schließlich fast in einer Art Apotheose des Themas endet (T. 192-222). Schließlich ein ungeheuer effektvoller, kurzer Übergang zur Reprise – Geigen, Oboen und Flöten werfen sich über einem explosiv crescendierenden Paukenwirbel den Kopf des ersten Themas zu (T. 222-227). Die Reprise ist verkürzt und teilweise gegenüber der Expo zugespitzt, die Coda hält Haydn kurz: sie arbeitet auschließlich mit dem ersten Thema, das sich gewissermaßen verrennt, dann aber – nach einer Fermatenpause – triumphal zum Abschluss geführt wird.
Der zweite Satz, ein Adagio im Dreivierteltakt, steht in F-dur und ist (mit einigen Abweichungen) eine Übertragung des langsamen Satzes von Haydns Klaviertrio Hob.XV: 26 ins Medium der Orchestermusik. (Man hat lange diskutiert, ob Sinfonie-Adagio oder Klaviertrio-Adagio zuerst da war, aber die Frage scheint entschieden zu sein – u.a. weil eine Transposition von Fis nach F wahrscheinlicher ist als das Gegenteil.) Dabei hat Haydn den Satz aber „sinfonisch“ erweitert – aus der A-A’-A’’-Form des Kammermusikwerks wurde eine A-A1-A’-A’’-Form (A1 ist keine Variation von A, sondern eine in Instrumentation und Dynamik leicht veränderte Reprise). Vor allem gewinnt der Satz an Klangfarbe, es ist überhaupt einer der am apartesten instrumentierten Sinfoniesätze Haydns – mit obligatem Solocello sowie gedämpften Pauken und Trompeten. Eine zwischen galanter Attitüde und empfindsamer Expressivität changierende, langgezogene Melodie prägt das Geschehen der ersten Hälfte des A-Teils, in der zweiten Hälfte dominiert eine nach Moll gewendete Sechzehnteltriolen-Bewegung, die vorher schon im Solocello angedeutet worden war. Die dreimalige mehr oder weniger variierte Wiederholung dieses Formkomplexes gestaltet Haydn äußerst fantasievoll, die Balance zwischen entspannter Kantabilität und expressiver Verdichtung ist großartig.
Das Menuett, Allegro, nimmt wieder den „unwirschen“ Gestus des ersten Satzes auf, wenn auch nicht ganz so stark. Der auftaktige Beginn wiederholt aber außerdem, auch wenn man es kaum glaubt, fast exakt den Kopf des Hauptthemas des zweiten Satzes! Den ruppigen Charakter unterstreicht Haydn gelegentlich noch, wenn er selbst den Auftakt im fz notiert (T. 8 ). Typisch für diesen Satz sind die permanenten Betonungen auf dem dritten Taktteil, die kaum noch etwas vom ursprünglichen Charakter eines Menuetts durchscheinen lassen. Entspannter und kantabler dagegen das Trio, in dem es zu einer oktavierten Parallelführung von Oboe und Fagott kommt.
Schließlich das Finale, Presto im Zweivierteltakt. Die Formgebung ist nicht ganz leicht zu durchschauen, es ist eine der vielen Variationen eines „Sonatenrondos“, die Haydn auf Lager hatte. Der Tonfall ist (traditionell) deutlich entspannter als im Kopfsatz, aber die Heterogenität der Elemente verblüfft gleichwohl: ein tänzerisches Hauptthema, aus dem sich ein klopfendes Motiv in den Bläsern abspaltet, ein temperamentvolles Thema mit großen Intervallsprüngen im Fortissimo (T. 38ff.), ein leicht „ungarisch“ klingendes Motiv mit chromatisch geschärften Achtelketten (T. 78ff.), „fast absurde, kreisende Sechzehntelfiguren“ (Walter). Dazwischen unablässige Verwandlungen des Hauptthemas, bei dem ständig mit dem Auftakt Ball gespielt wird, das aber auch zu plötzlichen Ausflügen in eine seriöse Sphäre kontrapunktischer Verarbeitung fähig ist (T. 187ff.). Am Schluss das bewährte, aber immer wieder überraschende Spiel mit der Musik, die nicht weiß, wie sie zum Ende kommen soll. Großartiger Abschluss einer Sinfonie, die für mich zu den liebsten des gesamten Repertoires gehört.
Morgen folgen noch ein paar Bemerkungen zu einigen Einspielungen.
Viele Grüße
Bernd