Hallo allerseits
Wenn es eine breit klaffende Lücke im Themenspektrum von Tamino gibt, dann ist es das Musical. Immer wieder wird es zwar hier kurz angesprochen und meist verächtlch abgetan - am ausführlichsten in diesem Thread: Operette und Musical - - - ist das noch klassische Musik ??? - aber leider mit immer denselben Vorurteilen, die auf erschreckend viel Unkenntnis beruhen. Gerade der eben genannte Thread strotzt vor Uninformiertheit und Desinformation, was deren Verbreiter aber nicht hindert, ein eindeutiges Urteil zu fällen, das - wen wundert's da noch? - negativ ausfällt.
Wer aber auf der Basis einer solchen Information Urteile fällt, verhält sich ähnlich wie derjenige, der eine komplette Verurteilung der Oper als anspruchsvolle Musik auf die Basis eines einmaligen Erlebnisses von, sagen wir, THE PHANTOM OF THE OPERA und BLACK RIDER stützt, weil er nicht nur von Monteverdi nie etwas gehlört hat, sondern nicht einmal von Verdi. Ich hoffe, man wird mir auf der Basis meiner bisherigen Beiträge hier abnehmen, dass ich mch ein wenig mit klassischer Musik, Oper und Operette auskenne und diese auch sehr zu schätzen weiß. Ich spreche also nicht als jemand, dem klassische Musik zu hoch ist, sondern als ein Mensch, der sich für informiert und urteilsfähig genug hält, zu den meisten der hier angesprochenen Themen etwas Relevantes beitragen zu können.
Es scheint mir einfach höchste Zeit, eine Lanze für diese - zumindest hier - völlig verkannte Gattung des Musiktheaters zu brechen. Da ein Großteil der gegenwärtig erkennbaren Meinungen ersichtlich auf Unkenntnis beruht, fange ich mit ein paar grundlegenden Thesen und Informationen an.
1. Das Musical ist keine fünfzig Jahre jünger als die Operette und ereichte seine erste Blüte, als der Niedergang der Operette begann. Man kann es also ohne Weiteres als deren legitimen Erben bezeichnen.
2. Das Musical hat mindestens so viele große Komponisten, Werke und Glanznummern hervor gebracht wie die Operette, und das sage ich als jemand, der die Operette ziemllich gut kennt und schätzt.
3. Das Musical ist heute die lebendigste Form des Musiktheaters.
4. Zu allen Zeiten gab es erfolgreiche Werke, für die die Nachwelt bestenfalls ein mildes Lächeln übrig hat, weil sie außer der einen oder anderen eingängigen Melodie nichts Besonderes beinhalten. Die Mehrzahl der neueren Musicals, auf die sich das Negativurteil vieler Taminos stützt, gehört in diese Gattung.
5. Das Musical steht nicht zuletzt deshalb bei uns in Misskredit, weil die meisten deutschen Theater und ihre Ensembles den besonderen Anforderungen der Gattung nicht gewachsen sind, während die Spezialtheater sich auf ein Repertoire stützen, das mit Musicals wenig, aber alles mit Show zu tun hat.
Ich werde diese Thesen im weiteren Verlauf des Threads noch eingehend begründen, fange aber hier zunächst einmal mit der Nr. 1 an. Zugleich eröffne ich einen zweiten Thread zur Informationssammlung, in dem Ihr Eure eigenen Lieblinge und liebsten Hassobjekte der Gattung Musical mitteilen könnt, nämlich diesen:
http:Cats-enjammer - Welche Musicals kennt und mögt Ihr (nicht)
Jetzt also zu Nr. 1: wie alt ist das Musical eigentlich und wie entstand es?
Das Musical, eine Kurzform des ursprünglichen Begriffs „Musical Comedy“, d. h. musikalische Komödie, entstand um die letzte Jahrhundertwende als Protest gegen die Dominanz der europäischen Operette auf den renommierten Theaterbühnen Amerikas. Diese waren nämlich den Schlagerfabrikanten der sogenannten Tin Pan Alley, von der aus die Musikverleger New Yorks die Stars der Unterhaltungswelt belieferten, verschlossen geblieben. Angeführt von dem geschäftstüchtigen George M. Cohan, forderten sie deshalb spezifisch amerikanische Themen und Kompositionen. Das Resultat waren zahlreiche patriotische Revuen in eigens entlang dem New Yorker Broadway dafür geschaffenen Häusern. In dezidiertem Gegensatz zu den weiterhin beliebten Operetten, ersetzten sie oft die Handlung durch Conférenciers und Nummerngirls, präsentierten aber um so mehr aktuelle Schlager.
Nur allmählich erkannten die Produzenten dieser Revuen den Wert guter Autoren, die sie in Ermangelung erfahrener Librettisten aus England importierten. Da diese ihr Metier im Umfeld der Operetten von Gilbert und Sullivan gelernt hatten, wurden ihre Stücke den zeitgenössischen Operetten immer ähnlicher, bis sich ihre "Musicals" fast nur noch in ihrer amerikanischen Thematik von diesen unterschieden. Während musiktechnisch ausgebildete Komponisten früher Musicals wie etwa Jerome Kern im wesentlichen der Operette treu blieben, entwickelten einstige Schlagerkomponisten wie George Gershwin, Irving Berlin, Cole Porter und Harold Arlen eine eigene Musiksprache, die auf populäre Entertainer zugeschnitten wurde, welche die zunehmend ambitionierten Texte und Tanzelemente des Musicals über die Rampe bringen konnten.
So kennzeichnet es den Unterschied zwischen Operette und Musical, dass Letzteres am besten von sängerisch begabten Schauspielern und Tänzern dargeboten werden kann, während die Operette ausgebildete Stimmen verlangt, die auch in komplexeren musikalischen Ensembles bestehen können. Nicht zuletzt deshalb misslingen viele Aufführungen von Musicals mit Opernsängern, da diese den spezifischen Spielcharakter des Musicals oft mit einer unidiomatischen, primär der Produktion glanzvoller Töne verpflichteten Interpretation verfälschen und in der Regel nur in Musicals bestehen können, die eigentlich Operetten sind, wie etwa MY FAIR LADY, CANDIDE oder THE PHANTOM OF THE OPERA.
In diesen und nicht wenig anderen sogenannten Musicals, die nur deshalb so genannt werden, weil sie aus Amerika kommen oder in Musicaltheatern aufgeführt werden, hat sich die Operette als Spielart des Musicals erhalten und ist keineswegs so tot, wie man gerne unterstellt.
Zur Unterscheidung zwischen Operette und Muscal, womöglich sogar zu der zwischen neuem Musical und der Oper wird es aber einen eigenen Thread geben müssen, der vielleicht der in diesem Zusammenhang interessanteste wird.
Interessiert es Euch, wie es weitergehen könnte?
Dann schreibt doch bitte etwas dazu, was Ihr von diesem Thread und Thema haltet.
Rideamus