Musiktheorie auf alt

  • Sowohl von Ben als auch von Edwin habe ich Äußerungen im Gedächtnis, dass man alter Musik besser mit alter Theorie zu Leibe rücken solle. Soweit ich mich erinnere, sind die Bezeichnungen "Hauptsatz", "Nebensatz" etc. erst lange(?) nach Haydn und Mozart geprägt worden, zu Haydns Zeiten wäre eher von "Ideen" die Rede gewesen.


    Bislang glaubte ich, es hätte bis 1722 herum nur Kontrapunkt-Lehrbücher gegeben, die zwar der Übung dienten, deren Regeln aber keineswegs von den Komponisten in den ernst gemeinten Werken berücksichtigt wurden. Wenn das stimmen sollte, kann man aber wohl das Konzept, altes Vokabular und alte Analysemethoden zu verwenden, eher vergessen, oder?


    Soweit so unklar. Welche Komponierlehrbücher vor - sagen wir mal - 1850 gibt es? Bringen die etwas zum Verständnis alter Werke?
    :hello:

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Welche Komponierlehrbücher vor - sagen wir mal - 1850 gibt es? Bringen die etwas zum Verständnis alter Werke?


    Ach du liebe Güte! Hunderte, wahrscheinlich eher tausende, wenn nicht gar dutzende. :wacky:


    Allein die ganzen Generalbasslehren, die nichts anderes sind als Kompositionsanweisungen, füllen mehrere Bibliotheken.


    Wir wärs mit Rameaus Harmonielehre?
    Oder willst Du bei Christoph Bernhard anfangen?

  • Pardauz!
    Habe jetzt Rameau erfolglos in die Datenbank der lieferbaren Bücher eingegeben.
    Dann ins ZVAB.
    Da gibt es das französische Original um 700 €.
    :hahahaha:
    Für so ein altes Buch ohnehin billig, zugegebenermaßen ...
    :wacky:



  • Ich weise ja immer gerne auf die segensreiche Erfindung der öffentlichen Bibliothek hin, die auch schon das ein oder andere Jahrtausend zurückliegt... :D :untertauch:


    In den bayerischen Bibliotheken gibt's Rameaus Traktat dutzendfach im französischen Original oder der englischen Übersetzung. Im Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek finde ich auch diverse Ausgaben des französischen Originals.


    (Eine deutsche Übersetzung hat's anscheinend nie gegeben, was auf die Geschichte der Rameau-Rezeption im deutschsprachigenm Raum ein bezeichnendes Licht wirft.)



    Eine englische Fassung ist sogar online verfügbar. Ich kann jetzt allerdings nicht überprüfen, ob das nur für meinen Netzzugang gilt oder ob es sich um eine allgemein zugängliche Ressource handelt:


    "http://gale.cengage.com/EighteenthCentury/sample_searches.htm"


    ("rameau AND treatise" in das Suchfeld eingeben)



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    In den bayerischen Bibliotheken gibt's Rameaus Traktat dutzendfach im französischen Original oder der englischen Übersetzung. Im Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek finde ich auch diverse Ausgaben des französischen Originals.


    (Eine deutsche Übersetzung hat's anscheinend nie gegeben, was auf die Geschichte der Rameau-Rezeption im deutschsprachigenm Raum ein bezeichnendes Licht wirft.)


    Na servas.
    :D
    Aus der Nationalbibliothek darf man die Bücher ja nichtmal nach Hause entführen.
    Und mein Französisch ist auch nicht mehr das frischeste.
    :rolleyes:

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  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Eine deutsche Übersetzung hat's anscheinend nie gegeben, was auf die Geschichte der Rameau-Rezeption im deutschsprachigenm Raum ein bezeichnendes Licht wirft.


    Immerhin war Bach ein Gegner der Rameauschen Lehre, wie CPE nachdrücklich versichert. Dass Bach besonders flüssig Englisch beherrscht haben soll, kann ich mir aber kaum vorstellen. Immerhin war Französisch damals weiter verbreitet als heute. Ob man nicht vielleicht von daher das Fehlen einer Übersetzung ins Deutsche erklären kann?

  • Zitat

    Original von Hildebrandt


    Immerhin war Bach ein Gegner der Rameauschen Lehre, wie CPE nachdrücklich versichert. Dass Bach besonders flüssig Englisch beherrscht haben soll, kann ich mir aber kaum vorstellen. Immerhin war Französisch damals weiter verbreitet als heute. Ob man nicht vielleicht von daher das Fehlen einer Übersetzung ins Deutsche erklären kann?



    Ja, natürlich war damals (und bis mindestens in die 20er Jahre des 20. Jh.) das Französische die lingua franca. Ich wunderte mich eher über das Fehlen einer modernen deutschen Übersetzung - zumindest eine von den englischen scheint ja auch erst in den letzten Jahrzehnten entstanden zu sein. Das ist doch vielleicht kein Zufall. Man muss dafür nicht unbedingt den langen, bis in die Gegenwart reichenden Arm JSB's verantwortlich machen - es gibt doch auch im Musikbetrieb Parallelen: Wenn z.B. in jeder Saison an deutschen Opernhäusern Hunderte von Händel-Aufführungen stattfinden, aber es in den letzten Jahren so gut wie keine Produktion einer Rameau-Oper gegeben hat.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    es gibt doch auch im Musikbetrieb Parallelen: Wenn z.B. in jeder Saison an deutschen Opernhäusern Hunderte von Händel-Aufführungen stattfinden, aber es in den letzten Jahren so gut wie keine Produktion einer Rameau-Oper gegeben hat.


    Jetzt, wo Du's sagst. :D
    Stimmt auffallend: An allen Ecken und Enden Händel-Opern, aber weit und breit kein Rameau. Soll man jetzt die Händel-Renaissance feiern oder die Rameau-Ignoranz betrauern? ?(


    @ KSM
    Mattheson? Oder doch Bernhard?
    Wie alt darf's denn sein?
    Sieh doch vielleicht auch mal bei baerenreiter.com nach; da gibt es u. a. Heinichens Generalbaßlehre.

  • Michael Walter nimmt in seinem Buch "Haydns Sinfonien" Bezug auf


    Heinrich Christoph Koch (1749-1816)
    Versuch einer Anleitung zur Composition


    Koch habe als der "wichtigste deutschsprachige Musiktheoretiker" im Zusammenhang mit der Sinfonik der Haydn-Zeit eine "Handwerkslehre des Komponierens" liefern wollen (Walter, Michael: Haydns Sinfonien. München: Beck 2007, S. 17).


    Das Werk Kochs kam 2007 bei Sieber neu heraus und ist auf zvab.com für EUR 27 zu erstehen.


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

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  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Sowohl von Ben als auch von Edwin habe ich Äußerungen im Gedächtnis, dass man alter Musik besser mit alter Theorie zu Leibe rücken solle. Soweit ich mich erinnere, sind die Bezeichnungen "Hauptsatz", "Nebensatz" etc. erst lange(?) nach Haydn und Mozart geprägt worden, zu Haydns Zeiten wäre eher von "Ideen" die Rede gewesen.


    Die Begriffe Haupt->Satz<, Seiten->Satz< sagen es schon: Hier liegt eine Analogie zur Sprache vor: Die Musiktheorie ist - das ist ein historisches Faktum - von der Rhetorik geprägt worden, die Form eines Musikstücks wird analog der einer Rede verstanden. Der Seitensatz heißt Seitensatz und nicht Gegensatz, weil in der Rede eine These aufgestellt wird, die zwar in Zweifel gezogen, aber dessen Setzung nicht angegriffen wird. Der Redner will ja für seine Behauptung Überzeugung gewinnen, sie soll durch die anzweifelnden Gegenargumente letztlich nicht umgestürzt, sondern bekräftigt werden! Übrigens noch Czerny vergleicht den Aufbau des Sonatensatzes seines Lehrers Beethoven mit einer solchen rhetorischen >dispositio<. Und dem folgen die Kompositionslehren, die solche Analysen im Sinne einer Regelpoetik durchaus normativ vorschreiben. Wie man Sätze richtig oder falsch verbinden kann, wenn man sich korrekt oder inkorrekt an die Grammatik hält, die man als ein Regelwerk kennen muß, so gilt das auch für die Musik!


    Beste Grüße
    Holger


  • Walter schließt sich sogar in der Terminologie Koch an (was ich etwas affig finde). Der Koch wäre sicher interessant und für Haydn gewiß eher relevant als Mattheson oder Rameau. Ich kann das zwar gerade nicht nachsehen, aber ich würde (und diese Bücher sollten in Wiener (Uni)Bibliotheken problemlos zu finden sein, in Ch. Rosens "Sonata forms" und Dahlhaus' Buch über Beethoven reinschauen. Dahlhaus berücksichtigt jedenfalls ausführlich einige allgemein-ästhetische Schriften des späten 18. Jhds. und beide müßten wenigstens auf ein paar der zentralen musiktheoretischen Quellenwerke ab Mitte des 18. Jhds. hinweisen oder sogar einiges daraus referieren.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich sehe schon, dass ich mich bald um eine Beteiligung an den 100en neuen Haydn-Threads nicht mehr herumdrücken werde können ...
    :D
    Vielen Dank für die vielen Hinweise, ein paar Ausreden weniger.
    :jubel:

  • Passend zum Thema kopiere ich folgendes Fundstück aus der bei zeno.org im Volltext verfügbaren Haydn-Biographie von Pohl und Botstiber ein:


    Theoretisch völlig uninteressiert kann Haydn demnach nicht gewesen sein...


    "Lehrbücher aus Jos. Haydn's Nachlass.
    [389⇒] 1. Gradus ad Parnassum, sive Manuductio ad compositionem Musicae regularem; methodo nova, ac certa, nondum ante tam exacto ordine in lucem edita. Elaborata a. Joanne Josepho Fux. Viennae Austriae Typis Joannis Petri Van Ghelen. 1725.


    2. Der vollkommene Kapellmeister, das ist gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können und vollkommen inne haben muß, der einer Kapelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will. Zum Versuch entworfen von Johann Mattheson. Hamburg, 1739.


    3. Kern melodischer Wissenschaft, bestehend in den auserlesensten Haupt- und Grund-Lehren der musikalischen Setz-Kunst oder Composition, als ein Vorläufer des vollkommenen Kapellmeisters. Ausgearbeitet von Joh. Mattheson. Hamburg, 1737.


    4. Joh. Mattheson's große General-Baß-Schule oder exemplarische Organisten-Probe. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. Hamburg, 1731. (Die erste Auflage erschien unter dem Titel: Exemplarische Organisten-Probe im Artikel vom General-Baß etc. Hamburg, 1719.)


    5. Friedrich Erhardt Niedtens musikalische Handleitung zur Variation des Generalbasses etc. Zweite Auflage. Verbessert, vermehret etc. durch Joh. Mattheson. Hamburg, 1721. (Die erste Auflage unter dem Titel: Handleitung zur Variation etc. erschien 1706.) [⇐389]


    [390⇒] 6. Kritische Einleitung in die Geschichte und Lehrsätze der alten und neuen Musik. Von Friedrich Wilhelm Marpurg. Berlin, 1759.


    7. Handbuch bei dem Generalbasse und der Composition etc. von Fr. Wilh Marpurg. Berlin 1755.


    8. Anfangsgründe der Theoretischen Musik. Von Fr. Wilh. Marpurg. Leipzig, 1757.


    9. Die Kunst, das Clavier zu spielen. Durch den Verfasser des Kritischen Musikus an der Spree. [Fr. Wilh. Marpurg.] Zweite Auflage. Berlin, 1751. (Die erste Auflage erschien 1750.)


    10. Anleitung zum Clavierspielen etc. von Fr. Wilh. Marpurg. Zweit verbesserte Auflage. Berlin 1765. (Die erste Auflage erschien 1755.)


    11. Treulicher Unterricht im General-Baß etc. von D.K. [David Kellner.] Hamburg 1732. Dasselbe Werk in vierter Auflage, (Verfasser genannt), Hamburg 1767. 5. Auflage mit einer Vorrede des Hrn. Daniel Solanders, Prof. Jur. Patr. et Rom. Upsal. ebendaselbst 1773 etc.


    12. General-Baß in drei Accorden, gegründet in den Regeln der alt- und neuen Autoren etc. von Joh. Friedrich Daube. Leipzig, 1756.


    13. Gäntzlich erschöpfte mathematische Abtheilungen des diatonisch-chromatischen, temperirten Canonis Monochordi etc. von Joh. Georg Neidhardt. Königsberg, 1732.


    14. Fundamenta Partiturae in compendio data, das ist: Kurtzer und gründlicher Unterricht, den General-Baß, oder Partitur, nach denen Regeln recht und wohl schlagen zu lernen. In den Druck gegeben von Matthaeo Gugl, Hoch-fürstl.-Salzburgischen Dom- und Stifft-Organisten. Augspurg und Insprugg, 1757. (Die erste Auflage erschien in Salzburg 1719.)


    15. Primae lineae musicae vocalis, das ist: kurtze, leichte, gründliche und verbesserte Anweisung in Frag und Antwort über Singkunst etc. von M. Joh. Samuel Beyern, Cantore und Chori musici Directore zu Freyberg. Dresden u. Freyberg, 1730. (Die erste Auflage erschien 1703.)


    16. Scala Jacob ascendendo, et descendendo, Das ist: Kürtzlich, doch wohlgegründete Anleitung, und vollkommener Unterricht, die edle Choral-Music denen Regeln gemäß recht aus dem Fundament zu erlernen. Von Jos. Joachim Benedicto Münster, J.C. Not. Publ. und Regente Chori in der kayserl. Gränitz-Stadt Reichenhall in Ober- Bayern. Zweite Auflage, Augspurg 1756. (Die erste Auflage erschien 1743.)


    17. Kurtze Anführung zum General-Baß etc. Allen Anfängern des Clavieres zu nützlichem Gebrauch zusammengesetzet. 2. Edition. Leipzig 1733.


    18. Johann Beerens weiland hochfürstl. sächsisch-Weisenfelsischen Concert-Meisters und Cammer-Musici »Musicalische Discurse« durch die Principia der Philosophie deducirt und in gewisse Kapitel eingetheilt etc. – [⇐390][391⇒] Nebst einem Anhang von eben diesem Autore, genannt: Der musikalische Krieg zwischen der Composition und der Harmonie. Nürnberg, 1719.


    19. Der General-Baß in der Composition, von Joh. David Heinichen. Dresden, 1728. (Dieser zweiten, vermehrten u. verbesserten Auflage lag ein früheres Werk zu Grunde: Neu erfundene und gründliche Anweisung etc. Hamburg, 1711.)


    20. Athanash Kircher's Neue Hall- und Tonkunst, deutsch von Agatho Carione. Nördlingen, 1684. (Die Originalschrift erschien 1673 unter dem Titel: Phonurgia nova.


    21. Vermehrter, und nun zum drittenmal in Druck befördeter »Kurtzer jedoch gründlicher Wegweiser, vermittelst welches man nicht nur allein aus dem Grund die Kunst die Orgel recht zu schlagen, sondern auch weiland Hrn. Giacomo Carissimi Singkunst und leichte Grund-Regeln etc. zu finden seyn.« Mit in Kupfer gestochenen Praeambulis etc. (Aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt.) Augspurg, 1696. – Dasselbe Werk unter dem Titel: Herrn Giacomo Carissimi leichte Grundregeln zur Sing-Kunst, sammt einer nöthigen Anweisung die Orgel recht zu schlagen, besonders was den General-Baß betrifft. Zum sechstenmal herausgegeben. Augspurg, 1753. [⇐391]


    Quelle: Pohl, Carl Ferdinand / Botstiber, Hugo: Joseph Haydn. Band 1, Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1878, S. 389-391.
    Permalink: zeno.org/Musik/M/Pohl,+Carl+Ferdinand/Joseph+Haydn/1.+Band/Beilagen/4.+Lehrb%C3%BCcher+aus+Jos.+Haydn%27s+Nachlass
    Lizenz: Gemeinfrei"


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)