Interpretation - Triumph der Unzulänglichkeit

  • Eigentlich war ja alles ganz anders geplant gewesen:
    Der Komponist notiert die Noten der Werkes - und die Orchester spielen das dann halt.


    Ein immer gleicher Vorgang - immer das gleiche Ergebnis -
    auf der ganzen Welt
    in jedem Zeitalter.


    Denkste.


    Anfangs war das ja auch oft wirklich so, weil der Dirigent und der Komponist sehr oft die gleiche Person waren. Oder aber ein Schüler des Komponisten wurde nach eingehender Instruktion mit der Aufführung betraut.


    Aber schon in der Vergangenheit gab es Unterschiede, weil beispielsweise manch kleinere Orchester nicht über die gewünschte Besetzung verfügten -
    Es wurde oft improvisiert, uminstrumentiert und angepasst.


    Im Laufe der Zeit gingen jedoch gewisse Traditionen verloren, ja sogar die Instrumente wandelten sich (Cembalo - Hammerklavier - Konzertflügel) und machten Kunstkniffe erforderlich um die gewünschte Balance zu wahren.


    Das Metronom hatte sich irgendwie nicht durchgesetzt und so entstanden Zeitunterschiede in der Wiedergabe, Dynamiksprünge, Beschleunigungen, Temposprünge. Manche Interpreten glaubt das entsprechende Werk verbessern zu müssen - und änderten gewisse Stellen.


    All diese Eignmächtiglkeiten führten dazu, daß die Interpretationen ein und desselben Werkes oft Lichtjahre voneinander entfernt schienen, das Temperament und der persönliche Geschmack flossen in die Aufführungen ein.
    Manch Werk wurde erst durch eine "Fehlinterpretation" beliebt.


    Ich wundere mich beispielsweise immer wieder, wie sehr die Aufnahmen - und es sind unzählige die ich besitze - der Beethoven Sinfonien (etc etc) voneinander abweichen können - und daß selbst heute noch die heutige Generation von Interpreten ihnen (bewusst oder unbewusst) ihren ganz persönlichen Stempel aufprägen können.


    Welch ein Glück.


    Weniger liebe ich es, wenn ein Werk experimentell "vergewaltigt" wird - als Beispiel seien hier Glenn Gould und Olli Mustonen genannt.
    Dennoch haben auch solche Interpreten ihre Anhänger und das respektiere ich.........


    Schon lange wurde der Wunsch nach der standardisierten Wiedergabe aufgegeben - Ich glaube eine solche wäre eher ein Schreckgespenst aller Musikliebhaber



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • welches Werk soll Gould vergewaltigt haben?


    Ich habe z.B. hier die Gould´sche Einspielung der Lizst´schen Klavierfassung der 5. Sinfonie von Beethoven - kann ich z.B. keine Vergewaltigung entdecken. Ist zwar vom Klang her gewöhnungsbedürftig, aber unzweifelhaft 5. Sinfonie.

  • Hallo Alfred,


    wo ist die Grenze zu ziehen zwischen "persönlichem Stempel" und "Vergewaltigung" des Werkes?


    Anhand der von von Dir genannten Pianisten kann ich dies bei Mustonen - die Diabelli-Variationen vor meinem inneren Ohr - gut nachvollziehen.
    Bei Glenn Gould, obwohl ich wahrlich kein Anhänger seiner Interpretationen bin, nicht so nachvollziehen, v.a. nicht bei Bach. Goulds Beethoven wird häufig kritisiert, aber "vergewaltigt" oder sagen wir abgemildert "veruntreut", ich schrecke vor so einer Formulierung zurück.
    Zeigt sie nicht vielmehr die Vorlieben und innere Disposition desjenigen, der sie gebraucht??
    Ich gehe allerdings konform, daß es Interpretationen in der Musik gibt, die mich peinlich berühren können und die ich als Undienst am Werk empfinde.


    Und wenn ich die Karikaturen des Herrn Richter Ernst nehmen würde, so wäre der größte Vergewaltiger dein Liebling Karl Böhm - mit einem heißen Bügeleisen unerbittlich den armen Mozart glattbügeln....pure Folter!! :D


    :hello:
    Wulf

  • Zitat

    wo ist die Grenze zu ziehen zwischen "persönlichem Stempel" und "Vergewaltigung" des Werkes?


    Es wäre sicher nicht allzu schwer eine Definition hierfür zu finden -schwer wäre es indessen sie als allgemein anerkannt durchzusetzen.
    Daher will ich mich damit begnügen festzustellen, daß die Grenze individuell verschieden ist.


    Es lag mir auch keineswegs daran einen "Glenn-Gould-Thread ins Leben zu rufen. Ich habe ihn lediglich als Maßstab herangezogen, um zu Zeigen wo mein persönlicher Spielraum für Interpretationen allesrpätestens endet.


    Wir sollten nicht so zimperlich sein mit der Wortwahl, wenn wir Interpreten beurteilen - vor allem wenn es sich um solche handelt, die ja bewusst provozieren möchten - aber wir sollten auch nicht jedes Wort auf die Goldwage legen.


    Dennjoch möchte ich auf eine gestelllte Frage antworten:


    Zitat

    welches Werk soll Gould vergewaltigt haben?


    Beispielsweise Mozarts Klaviersonaten , wo schon die Tempobezeichnungen fast ausnahmslos ignoriert werden.


    Ein besonders dankbares Beispiel ist derletzte Satz Der Sonate Nr 11 KV 331, wo Gould das Werk total gegen den Strich bürstet, dort abmildert wo andere auftrumpfen und umgekehrt. Es ist nicht zu leugnen, daß das Ergebnis in gewisser Weise "interessant" ist - vor allem dann, wenn man sich am Werk abgehört hat....


    Alfred Brendel lässt in einem seiner letzten Interviews dennoch kein gutes Haar an Gould und stellt ihn - bedingungsloser als ich es tue - als abschreckendes Beispiel dar...


    Zitat

    Und wenn ich die Karikaturen des Herrn Richter Ernst nehmen würde, so wäre der größte Vergewaltiger dein Liebling Karl Böhm - mit einem heißen Bügeleisen unerbittlich den armen Mozart glattbügeln....pure Folter!!


    Auch das kann ich natürlich nicht unwidersprochen so stehen lassen.
    Ich habe sehr über die Karikatur gelacht - aber SACHLICH entspricht diese Aussage keineswegs der Realität.


    Karl Böhm hat Mozart nicht "glattgebügelt" - fast würde ich schreiben "im Gegenteil"
    Böhm war ein akribischer Interpret der sich sehr darum bemühte, notengetreu zu interpretieren. Was er in der Tat NICHT machte, war Mozart KÜNSTLICH zum "Revolutionär" (der er nicht war) hochzustilisieren.
    Böhms Mozartinterpretationen waren zu Lebzeiten DER Maßstab schlechthin, allenfalls noch von Bruno Walter und Joseph Krips erreicht - kaum jedoch von Karajan - und von Harnoncopurt ert recht nicht.


    Böhm vermochte einen hellen strahlenden Mozart zu vermitteln - ohn daß er jedoch "leichtgewichtig" wurde.
    Bei Böhm hatte man imm das Gefühl: So und nicht anders muß Mozart klingen" - und zwar unabhängig wie das reale Tempo der Wiedergabe tatsächlich war. Böhms Aufnahmen waren in dieser Hinsicht sehr verschieden.


    Jede Zeit hat sich "ihren" Mozart gezimmert, vom lieblich verzärtelten, fiiligranen, zum "männlichen", "dunkleren" Mozart, vom "eleganten" über den "tänzerischen" zum "aufbegehrenden " rauhen.......


    womit wir beim Thema wären...


    LG


    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Es wäre sicher nicht allzu schwer eine Definition hierfür zu finden -schwer wäre es indessen sie als allgemein anerkannt durchzusetzen. Daher will ich mich damit begnügen festzustellen, daß die Grenze individuell verschieden ist.


    Die Frage, wo die Grenze zu ziehen ist zwischen Interpretation und - ich nenne es mal neutraler - "Bearbeitung", finde ich spannend, denn ich finde es gar nicht so leicht, das zu sagen. Klar, ich denke auch manchmal beim Hören, ja, genau so muß das sein oder :no: soo nicht! Und das ist sicher sehr individuell geschmacksabhängig.
    Aber ohne jemandem etwas vorschreiben zu wollen - geht ja sowieso nicht - kann man ja über plausible Argumente diskutieren, wie zu unterscheiden ist, wo über diese und jene kleinere Fragwürdigkeit hinaus so etwas, wie ein "Werkcharakter", eine "Idee" eines Werks verletzt oder völlig verändert wird. Man kommt dann aber schnell zu der Schwierigkeit, dass gerade die "großen" Werke mehrfach codiert sind und so unterschiedliche Interpretationen erlauben, ja erzwingen, denn alles, was "in ihnen steckt", kann keine Interpretation alles abdecken. Der Interpret steht vor dem Zwang, sich entscheiden zu müssen, welchen Möglichkeiten des Materials er nachgeht. Ein Musikwerk ist also wie jedes Kunstwerk offen. Die "Unzulänglichkeit" jeder Interpretation gegenüber dem wirklich großen Werk sichert dessen Triumpf! :D
    Dennoch meine auch ich, das es Grenzen der Interpretation gibt, wo Bearbeitungen das musikalische Material eines Werkes so umbauen, das ein ganz anderes Werk entsteht. Auch das kann interessant sein, selbst von Olli Mustonen habe ich schon "Bearbeitungen" mit Freude gehört, aber das gelingt mir besser, wenn ich mich darauf eingestellt habe, jetzt höre ich Olli Mustonen und nicht Hindemith. Oder, um beim anderen Beispiel zu bleiben, Alfred Brendel ignoriert bei Beethoven selbsterklärtermaßen die Metronomangaben, trotzdem wahrt er m.E. mit seiner Interpretation, die natürlich nur eine von vielen möglichen ist, den Werkcharakter. Gould hat einen besonders ausgeprägten Personalstil. Aber die Frage wäre dann, klingt das jetzt wie Beethoven gespielt von Gould, Mozart gespielt von Gould usw., in einer Weise, dass man sofort erkennt, hier ist es Gould, der Beethoven, Mozart usw spielt, oder klingt das alles: Hier spielt Gould! immer nur Gould, egal, wer ihm das Notenmaterial liefern durfte. Bitte das nur als Beispiel verstehen und Alfreds Warnung beachten, dass dies kein Gould-Thread werden soll!
    Persönlich neige ich bei Gould übrigens eher zum ersteren, ein ausgeprägter Personalstil im Übergang zur Bearbeitung, die Grenzen der Interpretation nur gelegentlich überschreitend. Mustonen dagegen spielt immer nur Mustonen.
    Wenn Gould Beethoven, Bach oder Schönberg spielt, glaube ich zu hören, dass er jedenfalls überwiegend in sehr extremer und einseitiger Weise Möglichkeiten des Werks realisiert. Bei Goulds Mozart würde ich Alfred völlig recht geben.


    Aber, ihr werdet gemerkt haben, wirklich klar auf den Begriff bringen, kann ich die Unterscheidung noch nicht

    Zitat

    zwischen "persönlichem Stempel" und "Vergewaltigung" des Werkes?


    Deswegen finde ich die Frage spannend.


    Ich würde meinen, dass man diese Unterscheidung zwar vielleicht nicht ganz unabhängig vom persöhnlichen Geschmack treffen, aber denoch in Distanz zu diesem diskutieren kann.
    Sonst kann eine solche Diskussion keinen Sinn ergeben. Und ohne danach zu suchen, tendenziell verallgemeinerbare plausible Argumente zu finden, erscheint sie mir auch wenig sinnvoll. Dann sind wir aber auch wieder beim Problem der Objektivierbarkeit von Aussagen über den "Werkcharakter".


    Aber hatten wir nicht schon einmal eine ähnliche Diskussion?


    Zitat

    Jede Zeit hat sich "ihren" Mozart gezimmert, vom lieblich verzärtelten, fiiligranen, zum "männlichen", "dunkleren" Mozart, vom "eleganten" über den "tänzerischen" zum "aufbegehrenden " rauhen.......


    Natürlich sind Interpretationen zeitabhängig, aber: - kulturoptimistischer Modus eingestellt - die Werke triumpfieren, die immer wieder, auch in ganz unterschiedlichen Zeiten zu neuen Interpretationen anregen, - kulturpessimistischer Modus eingeschaltet: - jedenfalls solange genügend Menschen die nötige Muße, den freien Kopf und die offenen Ohren aufbringen, um sich ernsthaft mit Musik zu beschäftigen und sich dabei auch noch sehr gut und lustvoll zu unterhalten und solange sie gesellschaftliche Bedingungen vorfinden, in denen sie die nötigen Fähigkeiten dafür entwickeln, die nötige Zeit und Kraft dafür aufbringen können, statt nur noch zu leichter Unterhaltung fähig zu sein.


    :hello: Matthias

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  • Die Kombination Mozart-Gould kenne ich nicht, da kann ich also nicht mitreden - der Vorwurf, Gould spiele immer nur Gould, egal, wer ihm das Notenmaterial liefere, ist aber sicherlich überzogen.


    Man muß bei verschiedenen Bach-Partiten schon genau hinhören, um festzustellen, ob es nun Gould ist oder Dubravka Tomsic (mal abgesehen vom Brummen).


    Und etliche Stücke des WTK I werden von Koriolov ähnlich interpretiert.


    Es wäre schon schwerer, Gould mit Stadtfeld (Französische Suiten) oder Gavrilov (Goldberg) zu verwechseln, die sicherlich ebenfalls ihren eigenen Stil haben.


    Generell zum Thema wäre zu sagen, daß ich die Interpretation für fast genauso wichtig halte wie das Werk selbst, sie ist ein eigenständiger künstlerischer Beitrag, wobei Abweichungen von vorgeschriebenen Tempi und sogar auch dem Notenmaterial anscheinend gang und gäbe waren.


    Es gbt etliche Stücke, die mir nur in einer einzigen Interpretation gefallen. Beispielhaft sei hier das Echo aus BWV 831 angeführt, das Weissenberg in Vollendung spielt und das ALLE anderen (habe mich durch sämtliche verfügbaren jpc-Aufnahmen durchgehört) anders spielen - und zwar "falsch", zumindest für meine Ohren. Was dabei im Originalnotenmaterial steht, ist mir ziemlich schnuppe, ich kann es eh nicht lesen.


    Bei vielen anderen Werken finde ich unterschiedliche Interpretationen wiederum alle ganz interessant, weil sie Eigenschaften der Interpreten (technische Fähigkeiten) oder bestimmte Aspekte des Werks schlaglichtartig beleuchten, z.B. bei der Arie der Königin der Nacht.


    Fazit: Ich finde es gut, daß unterschiedliche Interpreten unterschiedlich interpretieren, eine Tendenz zur gleichartigen Interpretation käme einer Versteppung der Musiklandschaft gleich.

  • Zitat

    Original von m-mueller
    Die Kombination Mozart-Gould kenne ich nicht, da kann ich also nicht mitreden - der Vorwurf, Gould spiele immer nur Gould, egal, wer ihm das Notenmaterial liefere, ist aber sicherlich überzogen.


    Ich finde das gar nicht mal so überzogen. Es läßt sich auch auf viele andere (S. Richter, Klemperer z.B.) anwenden. Nur gibt meistens eine Vorentscheidung, ob man den Zugang mag oder nicht, den Aussschlag, ob es als "unverkennbarer Originalstil" oder als "x spielt/dirigiert immer nur x", "drängt sich vor den Komponisten" usw. gedeutet wird. ;)


    Zitat


    Man muß bei verschiedenen Bach-Partiten schon genau hinhören, um festzustellen, ob es nun Gould ist oder Dubravka Tomsic (mal abgesehen vom Brummen).


    Und etliche Stücke des WTK I werden von Koriolov ähnlich interpretiert.


    Man muß natürlich auch bedenken, daß Gould in den letzten 40 Jahren, was das Bach-Spiel auf dem Klavier betrifft, durchaus stilprägend wirkte. Das kann manche Ähnlichkeiten erklären. Mustonen ist Gould m.E. ziemlich deutlich verpflichtet, versucht nur eben noch einen an Exzentrizität draufzusetzen, was gewollt wirkt, während man Gould die Authentizität kaum absprechen kann.


    Es ist halt auch immer so, daß manche, durchaus erhebliche Abweichungen, von der Tradition sanktioniert sind, andere als "Vergewaltigung" zählen. Wenn Furtwängler das Adagio aus Beethovens 9. im halben Tempo dirigiert, ist das erhaben, wenn Gould dasselbe mit dem Kopfsatz der Appassionata macht, Blasphemie. Nicht mal zu unrecht. Ein viel zu langsames adagio ist immer noch ein adagio. Aber ein allegro assai als andante moderato ist was anderes, irgendwann schlägt Quantität in Qualität um. Den Punkt zu bestimmen ist freilich nicht ganz einfach.


    Und gerade bei Gould ist die Willkür oft deutlich, so daß entsprechende Vorurteile auch dort wirksam werden, wo er vielleicht näher an Text oder Charakter als die Tradition ist. Der "allegretto" bezeichnete türkische Marsch in KV 331 wird m.E. traditionell eher viel zu schnell, in Richtung Presto gespielt. Goulds Lesart ist sicher verfremdet, aber das bloße Tempo vielleicht gar nicht so verkehrt. Seinen eher noch ungewohnteren Zugriff auf den Variationensatz der Sonate finde ich ziemlich faszinierend. Er hat sich auch schriftlich dazu geäußert, spielt die Variationen sozusagen "umgedreht", durch ein zunächst sehr langsames, unflexibles tempo, fern jeglichen Rokoko-Charmes wirkt der Satz nicht, als ob ein vorgegebenes Thema variiert würde, sondern als ob sich die Musik erst im Verlauf zusammenfügte und mit dem abschließende schnelleren Teil ihre eigentliche Gestalt gewönne. Das ist mindestens ebenso "Konstruktion" wie "Dekonstruktion" und deckt überraschende Züge dieses von Abnutzung und Verniedlichung in besonderem Maße betroffenen Satzes auf.


    Nicht zuletzt muß man sich immer vor Augen halten, daß bis weit ins 19. Jhd. Interpreten sehr frei mit ihren Vorlagen umgegangen sind, oft in heute kaum vorstellbarer Weise. Wenn man Maßstäbe der "Werktreue", die erst zu Beginn des 20. Jhds. sich langsam herausbildeten, auf die Interpretation älterer Musik anwendet, sollte man sich darüber im klaren sein, daß Mozart diese Idee eher fremd gewesen sein dürfte.

    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von m-mueller
    welches Werk soll Gould vergewaltigt haben?


    Die Goldbergvariationen von J.S. Bach z.B.


    Die Goldbergvariationen von Glenn Gould heißen ja nicht umsonst auch "Gouldberg-Variationen". Die haben nichts mit dem Notentext zu tun. Sowohl in der frühen, wie auch in seinen späteren Aufnahmen ignoriert er die Angaben Bachs zu den Wiederholungen konsequent. Und seine Interpretation finde ich schlicht langweilig. :pfeif:


    Zu Gute zu halten ist ihm, dass seine frühen Aufnahmen Bach einem breiteren aussereuropäischen Publikum nahegebracht haben.


    Ich finde aber den Ausgnagspunkt von Alfreds Thread schon falsch. es ist eben nicht so, dass die Komponisten alles vorgegeben haben, was vom Interpreten zu spielen ist. Gerade Bach ist ein gutes Gegenbeispiel, hält er sich doch mit näheren Angaben zu Tempi, ja selbst zu den zu spielenden Instrumenten sehr zurück. Das eröffnet einen ungleich größeren Interpretationsspielraum, als etwa bei Beethoven oder den Komponisten der Romantik, die versucht haben, ihre Vorstellungen den Künstlern durch präzise Anweisungen vorzugegben. Erstaunlich ist, wie unterschiedlich selbst dann noch die Einspielungen klingen.


    Viele Grüße,


    Bernd

  • Zitat

    Ich finde aber den Ausgnagspunkt von Alfreds Thread schon falsch. es ist eben nicht so, dass die Komponisten alles vorgegeben haben, was vom Interpreten zu spielen ist. Gerade Bach ist ein gutes Gegenbeispiel, hält er sich doch mit näheren Angaben zu Tempi, ja selbst zu den zu spielenden Instrumenten sehr zurück


    Das geschah deshalb, weil Bach von der (zu seiner Zeit richtigen) Annahme ausging, die Spielr wüssten was sie zu tun haben. Es gag "ungeschrieben Regeln" die im Laufer der Zeit verloren gagangen sind.
    In meiner Jugend stand am den Barockkomponisten m it verhaltener Ehrfurcht gegenüber und versuchte möglichst nicht falsch zu machen, nichts allzu subkektives einzubringen. Einer der ersten, der sich das getraute war Karl Richter...


    Heute ist man da weniger zinoperlich, und es muß gesagt werden, daß die Resulate gelegentlich sehr überzeugend wirken..


    mfg


    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zurück zur Überschrift:


    Bei mir hieße es: Interpretation: Triumph der Entwicklung des künstlerischen Werkes


    Ein großes künstlerisches Werk reicht doch immer weit über die Persönlichkeit des jeweiligen Künstlers und seinen Vorstellungen hinaus. Wenn der Interpret eines musikalischen Werkes immer nur reproduziert, wird er zum reinen Handwerker. Es geht doch aber immer darum, die " Seele " des Werkes zu finden, neu zu entdecken und Facetten aufzublättern, die vieleicht so vorher nicht zu entdecken waren.
    Und natürlich braucht es dabei auch immer wieder Provokationen, Mozart oder Beethoven waren doch selber auch solch "Provokateure". :yes:


    Und wenn es jemand, wie Gould gelingt, die 68 er Intelektuellengeneration für Bach oder Gardiner und Harnoncourt die danach folgenden für Bach,Haydn oder Mozart zu begeistern, die sie als zu verstaubt aus den Aufnahmen ihrer Eltern von Richter, Böhm ( :untertauch:), Karajan u.a. verdrängt hatten, zu begeistern, sieht man, warum eigene Interpretaionen, die auch immer die Grenzbereiche ausloten, so wichtig sind. Nur dann bleibt es spannend.


    Nur ensthaft muss die Auseinandersetzung sein.


    Mir geht es im Moment auch so. Durch dieses Forum auf die Aufnahme von Östman "Die Zauberflöte" gestoßen, die ich jetzt wieder ganz neu entdeckt habe und mich begeistert.


    Also, wie oben gesagt: Die Interpretation und die immer neue Lesart entwickelt ein Werk weiter und lässt es so zeitlos triumphieren.


    :hello:Gruß Wenzeslaus

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  • @Wenzeslaud, bzgl "Überschrift":


    Zitat

    Bei mir hieße es: Interpretation: Triumph der Entwicklung des künstlerischen Werkes


    Die Überschrift nimmt Bezug darauf, daß sich "Interpretation" eigentlich nur durch den Mangel, ein Werk zu 100% fixieren zu können (was angestrebt war) entwickeln konnte, und wir diesem Mangel viel verdanken.


    ES gab aber immer schon Komponisten, die über diesen Umstand unglücklich waren.


    Wer war es denn, der da sagte; "Meine Werke braucht man nicht zu interpreteieren - es genügt, wenn man sie spielt, wie ich sie aufgeschrieben habe" (??)


    Ich erinnere mich nicht - und konnte den Komponisten auch nicht ergoogeln.
    Aber der Satz wurde gesagt (uder geschrieben)


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Die Erkenntnis der Unzulänglichkeit ihrer eigenen Arbeit wissen flexible Komponisten für sich auszunutzen, indem sie die Freiheiten des Interpreten eben gerade erweitern. Da ist zum Beispiel an die Entwicklungen eigener Notenschriften Mitte des 20. Jahrhunderts zu denken, die statt exakter Tonhöhen Tonbandbreiten oder ungefähre Höheneinschätzungen zur Auswahl stellten, nur mehr Andeutungen von Tonlängenverhältnissen machten und ähnliche Freizügigkeiten bewusst zum Kompositionsgegenstand machten.


    Das für mich jüngste Beispiel in diese Richtung konnte ich dieser Tage im Konzertsaal mit der Uraufführung von Leif Segerstams 2008 komponierter 195. Sinfonie erleben. Der Komponist wirkte mit, aber nicht am Dirigentenpult, sondern an einem der beiden Klaviere. Das Dirigentenpult blieb leer, und so war tatsächlich Segerstams Intention: Dem Orchester lagen die von ihm geschriebenen Noten vor mit exakter Fixierung von Nuancen, Akzenten, dynamischen Vorschriften, Ausdrucksangaben zwischen Furiosissimo Fantastico bis Adagissimo con visione. Aber die Bestimmung, zu welchem Zeitpunkt die einzelnen den Stimmen zugewiesenen Module ausgeführt werden sollten, hatte der Komponist nur in lockeren Rahmen angedeutet. Die Verantwortung, ihre Haufen beisammen zu halten, oblag hier den Stimmführern. Musik fand als vitales Wechselspiel von Aktion und Reaktion in einem den Einzelstimmen zugewiesenen Freiraum statt. Zur Orientierung stand dann gelegentlich der eine oder andere Stimmführer auf, um dem Rest des Orchesters anzuzeigen, dass eine bestimmte definierte Schlüsselstelle erreicht war.


    „Frei-pulsativ“ nennt Segerstam diesen Vorgang, und meint damit wohl, dass der musikalische Fluss als aleatorisches Element ohne Dirigenten innerhalb definierter Freizonen sich selbst befördert, indem er die Synchronisation der Module weitgehend den Ausführenden überlässt.


    Interpretation wird hier zum integralen Bestandteil des Kompositionsvorgangs. Das Entstehen des Werks ist nicht abgeschlossen, wenn die Noten vom Kopisten kommen, sondern erst in dem Augenblick seiner Aufführung. Und auch dann findet es keine endgültige Gestalt. Vielmehr wird es bei seiner nächsten Aufführung wieder eine ganz andere Gestalt haben.


    Neu ist der Grundgedanke eigentlich ja nicht, denn dass die Notenschrift eine Annäherung an eine Vision von Exaktheit erreichen müsste, war doch wohl erst eine romantische Vorstellung – und selbst dann war die Solistenkadenz stets einer der Höhepunkte des virtuosen Konzerts, nicht wahr? Dass die Ausführung der in den Noten oft nur angedeuteten Melodielinien, Harmonien, Ausführungsanweisungen vom Komponisten im Barock und bis in die Klassik hinein geradezu erwartet wurden, dass Verzierung, Aussetzung des Generalbasses etc. zum selbstverständlichen Handwerk jedes Ausführenden gehörten – darauf haben Alfred und Bernd ja schon hingewiesen.


    Ulrich

  • Zitat

    Original von zatopek


    Die Goldbergvariationen von J.S. Bach z.B.


    Die Goldbergvariationen von Glenn Gould heißen ja nicht umsonst auch "Gouldberg-Variationen". Die haben nichts mit dem Notentext zu tun. Sowohl in der frühen, wie auch in seinen späteren Aufnahmen ignoriert er die Angaben Bachs zu den Wiederholungen konsequent. Und seine Interpretation finde ich schlicht langweilig. :pfeif:


    Dem stimme ich total zu: nicht notengetreu und langweilig, vor allem wenn ich Murray Perahia dagegen halte.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)


  • Dann hätt er liebe Werke für Drehorgel oder "Rollenklaviere", das sind die wo eine Rolle mit Löchern eingespannt wird und die Tasten dann nach Lochdichte automatisch gedrückt werden.
    Ein Werk fängt doch erst durch die Interpretation zu leben, ein Bild in den Augen der Betrachter, eine Skulptur in dem Raum in dem sie steht. Ein Kunstwerk muss sich doch vom Künstler emanzipieren und ein eigenes Ich entwickeln. Das geht doch nur über Interpretationen und der Suche nach neuen Zugängen. Deshalb wird es auch von Künstlern dargeboten und nicht von Maschinen. :no:
    Welche Möglichkeite gäbe es dabei dann heute mit der Digitaltechnik.
    Nein erst die Interpretaion führ das Werk zum Vollkommenen.
    Güße aus Hannover :hello:
    Wenzeslaus