Und Haydn sprach: Es werde Musik!
Ist Die Schöpfung von Joseph Haydn, gemeinhin gerne und zu Recht als "Papa Haydn", "Vater des Streichquartetts" oder "Vater der Sinfonie" bezeichnet, ein selbstverherrlichendes Machwerk? Setzte Haydn, der einer glaubhaften Anekdote zur Folge nach einer Aufführung 1808 mit V-förmig ausgetreckten Armen den Jubel des Volks empfing, seinem eigenen Schaffen die "Krone der Schöpfung" auf? Musikalisch sicherlich nicht. Bei aller Achtung vor der widersinniger Weise als göttlich zu bezeichnenden Musik: Meine blumenverzierten Angriffe gegen dieses Machwerk - ich meine das sowohl im negativen als auch im rein objektiv beschreibenden Wortsinn - im entsprechenden Thread wurden ja bisher nicht beachtet. Das soll sich mit diesem neuen Thread ändern.
Eine [gewollte?] Gleichstellung des Schöpfers der Schöpfung zu unserem Schöpfer liegt offensichtlich auf der Hand... Der V-Haydn muß ungefähr so ausgesehen haben:
[Ich weiß sehr wohl, daß der Gezeigte hier weder Haydn noch dieser andere Vater ist...]
Für mich ist das Werk kein Oratorium, nicht das, was ich unter einem Oratorium verstehe: Die paar eingestreuten Chorfugati sollen die Gattungsbezeichnung rechtfertigen? Der zugrundegelegte Text etwa? An anderer Stelle wurde von unserem sophokleischen und meistenteils moderaten Pius beklagt, Haydns "Il Ritorno di Tobia" entspräche nicht dem, was er unter einem Oratorium versteht. Nachvollziehbar ist dies, denn der zugrundegelegte Oratorien-Stil ist ein der Zeit der Entstehung eigener und er unterscheidet sich zu jenen festen Mauern eines Händelschen Messias sehr, kein Zweifel. Haydn aber lehnte gerade die Schöpfung betreffend an die großartige Anlage des Messias an [er lernte das Werk wohl in London kennen und schätzen]. Natürlich ist auch der Stil der Schöpfung weitestgehend an dem Stil ihrer Zeit ausgerichtet. Die Schöpfung weist daher ebensolche Parallelen zum Opernstil auf, wie seinerzeit "Il Ritorno": Nur zwei Beispiele: Chor und Terzett "In holder Anmut stehn" lehnen melodisch sehr deutlich an Mozarts "Laci darem la mano" an, die Arie "Nun scheint in vollem Glanze der Himmel" könnte ebensogut aus der Märchenoper "Die Zauberinsel" bzw. "Der Stein der Weisen" [Bezug: Sonnenarie] stammen.
Insgesamt macht das Werk auf mich absolut keinen geistlichen Eindruck, mal abgesehen vom vertonten Text. Die Musik ist herrlich, keine Frage - aber eben doch sehr plakativ und unverbindlich, wenn ich mit Haydns späten Messen oder seinen "Sieben letzten Worten" [mit oder ohne deroselben] vergleiche. Die beschreibende Umsetzung des Textes in Musik ist eindrucksvoll gemacht, es erinnert mich Phasenweise [Ouvertüre u.a. Stellen] durchaus an Gustav Mahlers Tonmalerei, schiebt aber den privaten Charakter eines geistlichen Werkes definitiv zugunsten einer theatralischen Wirkung beiseite. Und diese war von Haydn durchaus beabsichtigt.
Die auferlegte Einfachheit des ländlichen Stils war die Bedingung, die es ermöglichte, Themen von solcher Grenzenlosigkeit aufzugreifen: ohne die Vorspiegelung von Naivität im tiefsten Sinne spontaner und ungekünstelter Antwort auf den Kinderblick auf die Welt könnten diese Arbeiten nicht existieren.
[Charles Rosen: Der klassische Stil]
Die Schöpfung war von vorneherein als "Opium fürs Volk" mit großer Erfolgserwartung konzipiert - diese Erwartung ist auch voll eingetroffen. Rosen schildert hier die "Einfachheit des ländlichen Stils", der ebenso in der Zauberflöte von Mozart - da allerdings ganz unvorhergesehen - zum [stets] steigenden Erfolg beitrug. Bereits mein erster Höreindruck nach langer Schöpfungsabstinenz [mich hatte das Werk beim Kennenlernen vor ~ 20 Jahren überhauptnicht angesprochen], war mein erster Gedanke jener an eine gewisse Revolutionsmusik, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch üblich war. In diesem Gedanken fühle ich mich durch die Beleuchtung der Hintergründe zum Werk durchaus bestärkt.
Man halte Haydn zugute, was Vicky P. E. Dia erklärt:
Haydn fand sein Thema inspirativ, und seiner eigenen Aussage nach war die Komposition für ihn eine grundlegende religiöse Erfahrung. Er arbeitete an dem Projekt bis zur Erschöpfung, und tatsächlich erkrankte er nach der Uraufführung für längere Zeit.
Aber aus Erschöpfung wird noch lange kein Oratorium.
:]
Ulli