Darf etwas (bewußt) schockieren???

  • Zitat

    Lieber Paul,ich kann einfach nicht nachvollziehen, warum Kleidung und historisches Bühnenbild so ungeheure Bedeutung haben sollen. Es geht doch um die Geschichte und deren Botschaft selbst und nciht um das Ambiente, in der sie spielt. Ich würde gerne endlcih mal verstehen, warum das für die Gegner der Regietheater- Inszenierung eine so überragende Bedeutung hat.


    FQ "zwang" mich vor Monaten mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Zwei Krankenhausaufnahmen und eine schleppende Rekonvaleszenz führten dazu, daß die Antwort warten ließ.
    Also: Warum werden Menschen enttäuscht, wenn sie eine Vorstellung (Oper/Operette/Theater) besuchen? Oder sind sie nicht enttäuscht, sondern sogar begeistert?


    Es gibt, denke ich, mehrere Gründe. Ich kann nur für mich sprechen.


    Erstens will ich, wenn ich jene Vorstellung besuche, mich amüsieren; mich entspannen. Und will ich nicht gezwungen sein mich zu zwingen etwas zu folgen. Es sei, ich besuche eine derartige Vorstellung absichtlich, und weiß, was mich da erwartet.


    Zweitens bin ich mehr als ein absoluter Laie, wenn es geht um Geschichte. Ich habe z.B. eine Ahnung wie die Menschen im 14, 15, usw. Jahrhundert gekleidet waren.
    Ich habe auch interessiert viel Bücher über Geschichte gelesen, und bin deshalb auch darin bewandert.


    Drittens, und vielleicht ist dies der "crux", meine ich, daß man ein Werk Gewalt antut, wenn es in der heutigen Zeit versetzt wird.
    Ich habe schon öfter gesagt, daß es für mich nur zwei mögliche Inszenierungen gibt. Eine, die das Werk sich läßt abspielen in der Epoche, wo sie geplant war. Und die Menschen davon eine Ahnung gibt (und auch nicht mehr).
    Die andere, wenn die Inszenierung ist, als ob gespielt wird im Zeitalter, daß das Werk geschaffen wurde. Und die Menschen davon eine Ahnung gibt (und wieder auch nicht mehr).
    Alles andere ist für mich Geschichtefälschung.


    Viertens weigere ich zu akzeptieren, daß bewußt Analogien benützt werden, die nur schockieren. Vide das Land des Lächelns, wo Hitler, Stalin, Mao, Napoleon und mehr solcher Greuelherren herbeigeführt wurden.
    Wenn das geschieht, hat für mich die Ausführung bereits alle Legitimität verloren.
    Noch immer gibt es viel Menschen, die sofort eine schmerzliche Verbindung mit WK II fühlen.
    Nur wenn es ins Libretto steht (Zar Ivan z.B.) darf und muß das.


    LG, Paul

  • Lieber Paul,


    so gerne ich gerade Dir da zustimmen würde, ich glaube dass Du die Frage falsch stellst, denn natürölich wäre es unsinnig partout so zu inszenieren, dass etwas schockiert, egal bei welchem Werk, und niemand, außer ein paar profilsüchtigen Möchtegern-Regisseuren wird einer solchen Forderung zustimmen.


    Ich denke die Frage sollte eher lauten "Darf etwas schockieren?" Da sage ich grundsätzlich JA, auch dann wenn es sich um einen unerwarteten Zusammenhang handelt, wie Folterszenen in DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL oder eine Diktatorengalerie im LAND DES LÄCHELNS. Damit will ich nicht der in jedem Sinn des Wortes grausamen Berliner Inszenierung der ENTFÜHRUNG das Wort reden, wohl aber einer Lizenz dafür, das tatsächlich Dargestellte auch aufzuzeigen. Wie soll jemand einem Helden ernsthaft Furcht abnehmen, wenn er sich in einem Serail aus der Puppenstube bewegt? Und ist es nicht wichtiger, die Emotionen der Geschichte über die Rampe zu bringen als darauf eine historisierende Modenschau abzuhalten?


    Grundsätzlicher aber möchte ich zwei weitere Fragen stellen, die m. E. auch in diesen Thread gehören:


    Warum soll es nicht möglich sein, zum Denken angeregt und gleichzeitig unterhalten zu werden - womöglich sogar deswegen und nicht dennoch?


    Ist es wirklich die vordringliche, geschweige denn einzig legitime Aufgabe eines Opernregisseurs, Geschichtsunterricht zu geben und ansonsten darauf zu achten, dass die Sänger nicht immer nur mit den Armen wedelnd an der Rampe stehen und trotzdem nicht beim Singen behindert werden?


    Eine solche Berufsauffassung würde wirklich nur die schlechtesten Verkehrspolizisten zu diesem Beruf treiben, der eigentlich auch eine Berufung sein und nicht nur solide Kenntnisse historischer Kostümer und Bauwerke verlangen sollte.


    Dir weiter gute Besserung. Es ist sehr schön zu sehen, dass Du Dich wieder aktiver einmischen kannst.


    :hello: Rideamus


    PS: wer Hitler & Co auf die Bühne bringt, hat eine besondere Verantwortung, die Du zu Recht ansprichst, aber wer einleuchtend einen der Schöße darstellt, aus denen dieses Ungeziefer gekrochen ist, muss auch die Brut selbst zeigen dürfen.

  • Lieber Rideamus,


    Ich werde die Frage ändern. Das gibt vermutlich eine fruchtbarer Diskussion.
    Dennoch habe ich ein Problem mit nur "Darf etwas schockieren". Darum füge ich "bewußt" hinzu.


    Ich fürchte, daß Regisseure uns, Zuschauer, für dumm halten. Denn wir haben m.E. ein Libretto gelesen. Und versucht uns in die damalige Zeit zu versetzen. Und plötzlich muß umgeschaltet werden nach heute.


    Und weiter habe ich bis jetzt nicht verstanden warum im Berlin diese Verbrecher antreten müßten.


    LG, Paul

  • Lieber Musicophil


    Die Realität IST schockierend.
    Die Frage ist, ob das Musiktheater die Realität abbilden will/soll.


    Als Anhänger des Regiethaters erwarte ich erstens die Adaption der Stoffe in die Gegenwart und zweitens die kreative Auseinandersetzung mit dem literarischen Stoff.


    Solange die Provokationen die Menschenwürde respektieren (und hier liegt aufgrund der Künstlichkeit der Situation ein gefährlicher Ermessensspielraum) befürworte ich schockierende Elemente, als Oeffnung des Denk-Horizontes, nicht aber um ihrer selbst Willen.


    Schön, dass Du wieder vermehrt forumieren kannst. Deine Menschlichkeit ist hier wichtig.
    Weiterhin gute Besserung wünscht aus Bern


    Walter


  • Wobei es, und da sind wir zwei uns ohnehin einig, ja völlig absurd ist, von einer Oper historische Erkenntnisse zu erwarten. Keinem Librettisten vor 1900 ging es darum, geschichtliche Wahrheiten zu transportieren, Geschichte war doch immer nur der bunte/exotische Prospekt, vor dem sich menschliche Leidenschaften gut in Szene setzen ließen. Kein Mensch glaubt (hoffentlich), dass Aida" auch nur annähernd etwas mit dem Alten Ägypten zu tun hat, deshalb schmerzt es mich als leidenschaftliche Hobbyägyptolgin viel mehr, wenn ein Regisseur ein absurdes Pseudoägypten auf die Bühne bringt, wo nichts zusammenpasst, als wenn er die Handlung in die Gegenwart verlegt. Sieht man von etlichen Opern des 20. Jhdts. ab, hat man es doch überall nur mit "historischen Fantasien" zu tun, denn selbst wenn die Kulissen/Kostüme detailgenau stimmen würden, die Figuren sind Kinder ihrer (Entstehungs)zeit, atmen den Geist ihres Librettisten und nicht den der hehren Geschichte. Oder um es mit Altmeister Goethe zu sagen: "Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln!" Wer also etwas über die authentische Elisabeth I erfahren will, ist schlecht beraten, sich bei Donizetti (oder Schiller) zu informieren, also ist die Forderung, ein Regisseur darf nichts "verfälschen" , für mich von vornherein absurd. (Wie "falsch" ist die Fälschung einer Fälschung??? :D )
    lg Severina :hello:

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  • Zitat

    Original von severina
    Kein Mensch glaubt (hoffentlich), dass Aida" auch nur annähernd etwas mit dem Alten Ägypten zu tun hat, deshalb schmerzt es mich als leidenschaftliche Hobbyägyptolgin viel mehr, wenn ein Regisseur ein absurdes Pseudoägypten auf die Bühne bringt, wo nichts zusammenpasst, als wenn er die Handlung in die Gegenwart verlegt.


    Mich schmerzt es genauso, wenn der Regisseur ein absurdes Pseudoägypten auf der Bühne bringt.
    Entweder historisch (ziemlich) verantwortet. Ziemlich, denn man muß immer Kompromisse akzeptieren.
    Oder versetzt in Verdis Zeiten.


    Das bedeutet, daß ich von einem Regisseur viel fordere. Vielleicht kann Knuspi uns mehr zu sagen über eine mögliche und unmögliche Inszenierung.
    Übrigens nähern wir dann einen anderen Thread. Und das beabsichtigte ich nicht.
    Ich dachte eigentlich an Begründungen.


    LG, Paul

  • Zitat

    Ist es wirklich die vordringliche, geschweige denn einzig legitime Aufgabe eines Opernregisseurs, Geschichtsunterricht zu geben und ansonsten darauf zu achten, dass die Sänger nicht immer nur mit den Armen wedelnd an der Rampe stehen und trotzdem nicht beim Singen behindert werden?


    In erster Linie schon.
    Regie ist dann gut, wenn man gar nicht bemerkt, daß es sie gibt.
    Man soll - selbst bei Fiktionen - stets den Eindruck bekommen: So und nicht anders muß es gewesen sein - eine Suggestivwirkung soll erreicht werden, der Zuschauer soll in eine andere Zeit versetzt werden - und hypnotiosiert werden von all der Pracht.


    Dabei ist es besonders reizvoll (als Beispiel) einen Renaissancepalast zu sehen, der in Wirklichkeit nicht von einem Architekten des 16. Jqhrhunderts sondern von einem heutigen Bühnenbildner entworfen wurde- sozusagen ein Renaissance-Kunstwerk des 21. Jahrhunderts......


    Besonders in Zeiten des Historismus war sowas beliebt - und eigentlich bis Ende des 20. Jahrhunderts.


    Im Theater/ind der Oper will man der Realität ja BEWUSST entfliehen.
    Wenn ich die verfluchte EU nun (als Beispiel) mit ihren IMO diktatorischen Strukturen auch noch in der Oper ansehen muß, oder Anspielungen auf den zweiten Weltkrieg , dann hat das für mich nicht nur keinen Reiz - es widert mich geradezu an - Und wenn ich angewidert sein will, dann brauche ich nur eine Zeitung aufschlagen, Fernsehnachrichten zu sehen oder einfach in der U-Bahn zu fahren.
    Wenn ich ins Restaurant gehe, dann möchte ich auch nicht auf der Speiskarte lesen: "Für Ihr Hauptgericht mußte eine herzensgute Henne ihr Leben lassen, die gerne noch gelebt hätte"........


    Oper hatte ihren Höhepunkt unter Zeffirelli , Hampe, Pagano, Schenk. Alles spätere war ein Abstieg.


    Ich weiß, daß dieser Thread indirekt eine Nauauflage des Themas "Regietheater" ist.


    Daß dieses Thema immer wieder von verschiedener Seite aufgegriffen wird. ist IMO ein Zeichen, wie sehr diese Verballhornung von vielen Opernliebhabern gehasst wird - nebst deren Gallionsfiguren.


    Ich lasse es daher stets zu - nicht zuletzt, da ich in dieser Frage durchaus parteiisch bin - und EINE der Ursachen eine eigene mediale Plattform zu schaffen, es war, Regietheatergegnern , die ansonst in den Medien totgeschwiegen oder mundtot gemacht werden, sei es durch Lächerlichkeit oder andere Methoden, hier Gelegenheit zu geben ihrem Ärger Luft zu machen.........


    mfg aus Wien


    Alfred




    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    original Alfred


    Regie ist dann gut, wenn man gar nicht bemerkt, daß es sie gibt.Man soll - selbst bei Fiktionen - stets den Eindruck bekommen: So und nicht anders muß es gewesen sein - eine Suggestivwirkung soll erreicht werden, der Zuschauer soll in eine andere Zeit versetzt werden - und hypnotiosiert werden von all der Pracht.


    Das denke ich auch. Als relativer Opernanfänger, haben mir bisher einige Aufführungen gefallen. Darunter sind auch "moderne". Diese sind aber m.E. nach so fantastisch gemacht, dass Alfreds Beschreibung haargenau passt.


    Sicher kann man nicht alle Regieeinfälle von vornherein ablehnen, aber ob diese nun auf biegen und brechen schockieren müssen, bezweifle ich. Die von Paul angesprochene Inszenierung von LdL wurde hier ja schon lang und breit diskutiert und ich mag sie nach wie vor absolut nicht. Im Gegensatz dazu seht Euch die überaus gelungene Trisha Brown Inszenierung des L'Orfeo an. Ästhetischer geht es m.E. kaum noch. Wenn man so will ein positiver ästhetischer Schock.



    LG


    Maggie

  • wie schon mehrfach geschrieben - historisch korrekte Aufführungen gab es nie.


    Auch damals hat man sich immer eine etwas idealisierte Welt geschaffen.


    Aber in unserer Zeit, gab bisher nur ganz wenige Aufführungen die wirklich versucht haben z.B. Barockopern so zu zeigen, wie man das damals getan hat.
    Aber das scheitert ja meist schon an der Bühnentechnik und den Kosten.


    Was es meist gibt, ist ein unseeliger Kostümplunder.


    Das was seit den 70ern immer wieder aufgeriffen wird, ist die Möglichkeit die Oper in die Zeit der Entstehung des Werkes zu verlegen.



    Zum Schock Effekt.
    Das ist durch mein Kunststudium natürlich immer wieder ein Thema.
    Aber ich kann Dir soviel sagen.
    Von den meisten werden Schock Effekte gemieden, weil es einfach das billigste Mittel ist um Aufsehen zu erregen - da versuchen die meisten Leute doch mehr Niveau in ihrer Arbeit zu haben.



    Ich würde mir einfach eine gute Mischung wünschen.
    Es soll Aufführungen geben die eben diese konservative Erwartungen erfüllen, dann Aufführungen die versuchen die Oper so zu zeigen, wie sie von den damaligen Künstlern kozipiert war und eben das Regietheater.
    Es sollte einfach alles möglich sein und akzeptiert werden.


    :hello:


    P.S. ich glaube eine Barockoper so aufzuführen wie man das damals getan hatte würde vielleicht mehr schockieren, als rumgespritze von Blut und Hitler auf der Bühne.....

  • Zitat

    Original von severina


    Kein Mensch glaubt (hoffentlich), dass Aida" auch nur annähernd etwas mit dem Alten Ägypten zu tun hat, deshalb schmerzt es mich als leidenschaftliche Hobbyägyptolgin viel mehr, wenn ein Regisseur ein absurdes Pseudoägypten auf die Bühne bringt, wo nichts zusammenpasst, als wenn er die Handlung in die Gegenwart verlegt.


    Jetzt könnte man wieder fragen, was Aida mit der Gegenwart zu tun hat und ob man nicht lieber ganz von einer historischen Verortung absehen sollte (dafür würde ich plädieren). Aber das führt wieder zu weit vom sehr interessanten Threadthema weg.


    Zitat

    Sieht man von etlichen Opern des 20. Jhdts. ab, hat man es doch überall nur mit "historischen Fantasien" zu tun, denn selbst wenn die Kulissen/Kostüme detailgenau stimmen würden, die Figuren sind Kinder ihrer (Entstehungs)zeit, atmen den Geist ihres Librettisten und nicht den der hehren Geschichte. Oder um es mit Altmeister Goethe zu sagen: "Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln!" Wer also etwas über die authentische Elisabeth I erfahren will, ist schlecht beraten, sich bei Donizetti (oder Schiller) zu informieren, also ist die Forderung, ein Regisseur darf nichts "verfälschen" , für mich von vornherein absurd. (Wie "falsch" ist die Fälschung einer Fälschung???


    Aber der eine ist der Autor, der andere lediglich der Regisseur und somit eher ein Vermittler als ein Schöpfer (so zumindest meine Auffassung dieses Berufs; dass andere es gewissen Regisseuren durchaus zugestehen wollen, in pseudokreativen Regiekonzepten die zu inszenierenden Werke zu Karikaturen verkommen zu lassen, ist mir bekannt). Auch nach diversen Regietheater-Diskussionen bin ich nicht der Ansicht, dass die Stücke des (musik-)dramatische Repertoires dazu da sind, zu Vehikeln für den Klamauk und die Fetische einiger Regisseure degradiert zu werden. Es ist durchaus richtig, dass Schillers Dramen die Konflikte der Gegenwart Schillers eher transportieren als die der Tudor-Dynastie oder der Zeit Philipps II. von Spanien. Aber Schiller hat die Dramen nun mal geschrieben und konnte sich das herausnehmen, wenn jemand das in eine neue Richtung umbiegen will, soll er doch selber ein Drama, ein Opernlibretto usw. schreiben! Wenn die Stücke dermaßen als "aktualisierungsbedürftig" empfunden werden, warum werden sie dann überhaupt aufgeführt, warum nicht neue schreiben (nicht, dass mir die Antwort nicht klar wäre...)? Die Konsequenz daraus muss m. E. sein, dass dann schockiert wird, wenn die Vorlage das hergibt, und das findet sich in der Literatur durchaus. Z. B. finde ich die Art, wie D. Hilsdorf die Gewalt des Regimes im Don Carlo vermittelt hat (einige hier dürften die Inszenierung kennen), durchaus berechtigt, da sie die zentralen Konflikte des Dramas noch stärker hervortreten lässt.


    Der nötige Respekt vor den Stücken verbietet es in meinen Augen, eine Operette zum Blutbad oder einen tragischen Stoff zum Klamauk umzufunktionieren. Aber wenn Gewalt, Sexualität usw. eindeutig im Libretto angelegt sind, dann sehe ich es als berechtigt an, diese drastischer hervortreten zu lassen, als dies in der Aufführungspraxis der Entstehungszeit üblich war, da es dann der Vermittlung der inhaltlichen Grundlinien dient.

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

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  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Im Theater/ind der Oper will man der Realität ja BEWUSST entfliehen.


    Hiermit bin ich völlig einverstanden. Das gilt nicht nur für mich, sondern für viele meiner Bekannten.


    LG, Paul


  • Na, dann must du aber noch kräftig Werbung machen, denn selbst hier bei Tamino sind die absoluten Regietheatergegner in der Minderheit ;)
    Und bitte keine Verallgemeinerungen: Nicht "man" will in der Oper der Realität entfliehen, sondern nur ein Teil der Opernbsucher! Der andere Teil will genau das Gegenteil: Nämlich aufgerüttelt, zum Nachdenken angeregt werden, und beuide Teile sollen auf ihre Kosten kommen, deshalb spricht mir der Lulilst mit seinem letzten Absatz aus der Seele. Ich fühle mich, je nach Stimmung, beiden Fraktionen zugehörig, wobei ich allerdings mit Hampe wirklich nicht mehr als öde Langeweile verbinde. Ich kann mich an keine einzige Inszenierung vom ihm erinnern, die mich wirklich überzeugt hätte, und ich habe (leider) viele gesehen......
    lg Severina :hello:

  • Zitat

    original Draugur


    Der nötige Respekt vor den Stücken verbietet es in meinen Augen, eine Operette zum Blutbad oder einen tragischen Stoff zum Klamauk umzufunktionieren.



    d'accord



    Zitat

    Aber wenn Gewalt, Sexualität usw. eindeutig im Libretto angelegt sind, dann sehe ich es als berechtigt an, diese drastischer hervortreten zu lassen, als dies in der Aufführungspraxis der Entstehungszeit üblich war, da es dann der Vermittlung der inhaltlichen Grundlinien dient.



    Hier stellt sich jetzt die Frage, wo sind die Grenzen des guten bzw. schlechten Geschmacks. Oder besser: Wie weit darf eine drastische Inszenierung gehen, bevor sie schockiert, ab stößt und mit Kunst nicht mehr im Mindesten etwas zu tun hat.



    LG


    Maggie

  • Zitat

    Original von Draugur
    Es ist durchaus richtig, dass Schillers Dramen die Konflikte der Gegenwart Schillers eher transportieren als die der Tudor-Dynastie oder der Zeit Philipps II. von Spanien. Aber Schiller hat die Dramen nun mal geschrieben und konnte sich das herausnehmen, wenn jemand das in eine neue Richtung umbiegen will, soll er doch selber ein Drama, ein Opernlibretto usw. schreiben...


    Lieber Draugur,


    Gerade Deine Bemerkung erklärt, warum ich absolut nicht dagegen bin, wenn die Inszenierung sich abspielt im Zeitalter des Komponisten (bzw des Schauspielschreibers). Denn das ist für mich genauso verantwortet.
    Wir sind doch nicht soo dumm, daß wir nicht Analogien, Adaptionen usw, misverstehen. Muß für Verständnis nun wirklich ausgewichen werden nach unserer Zeit?


    Ich denke nicht, daß beispielsweise eine "Versetzung" von Don Carlos nach Schillers Zeit Ablehnung findet.


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von Maggie
    Hier stellt sich jetzt die Frage, wo sind die Grenzen des guten bzw. schlechten Geschmacks. Oder besser: Wie weit darf eine drastische Inszenierung gehen, bevor sie schockiert, ab stößt und mit Kunst nicht mehr im Mindesten etwas zu tun hat.


    Das ist eine Frage, die jeder unterschiedlich beantworten wird. Jeder hat seine persönlichen Tabus. Meine liegen wie gesagt eher dort, wo ich den Eindruck habe, dass ein Werk nicht ernstgenommen oder als bloßes Vehikel für irgendwas benutzt wird, was dem Regisseur gerade unter den Nägeln brennt. Wenn Gewalt, Erotik usw. sich plausibel aus dem Text ergeben, liegt meine Toleranzschwelle - schätze ich - vergleichsweise hoch.

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

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  • Ich glaube, man kann ein Werk auch verfälschen, indem man es für ein Publikum des 21. Jahrhunderts so spielt, wie es für ein Publikum des 18. Jahrhunderts gespielt worden wäre. Denn ist nicht die Rezeption vor allem vom Publikum abhängig? Und gesellschaftliche Konventionen, ja ganze Lebenseinstellungen haben sich in den letzten Jahrhunderten sehr geändert. Darf man Sachverhalte, die zur Uraufführungszeit schockiert haben, dies heute aber nicht mehr tun, überhaupt librettogemäß inszenieren, oder ist das nicht bewusste Verfälschung und Verniedlichung des Werkes? Wie soll man heute einen Tanz der sieben Schleier inszenieren? Was macht man aus Carmen, wo doch mittlerweile Personen jeder Schicht und jedes Standes Hauptfiguren von Tragödien sein dürfen?
    (Ich bin mir bewusst, dass ich mit diesen Fragen in Teufels Küche komme, zumal ich kein unbedingter Verfechter des Regietheaters bin und nicht um des Schockierens willen schockiert werden möchte.)
    Wäre nicht der einzig "korrekte" (und vermutlich unmögliche) Weg, die Emotionen zu untersuchen, die die damalige Aufführung auf das damalige Publikum ausgeübt hat, und zu versuchen, im heutigen Publikum durch eine entsprechende Regie die selben Emotionen auszulösen? (Aber welche Auswirkungen hätte das? Es gibt leider das Phänomen der kollektiven Abstumpfung, sodass immer Schockierenderes gefunden werden müsste...)
    Oder kann man vom Publikum verlangen, sich vorzustellen, dass man das Uraufführungspublikum sei und dementsprechend zu fühlen und sich zu verhalten?
    Oder -


    Liebe Grüße,
    Martin

  • Ganz richtig, ein Otto Schenk, mit dem ich durch meinen verst. Bruder befreundet bin, hat immer in der Zeit in der diie Oper, das Theaterstück, spielt inszeniert.


    Der Wiener "Nabocco" im Holocaust ist falsch inszeniert, auch die Fotos von Menschen die in KZs leider umgebracht wurden, gehören nicht dahin, auch nicht dann beim Orchester abgelegt, wie es im Gefangenchor geschieht.


    Die babyl. Gefangenschaft wird in der Tora und im Alten Testament geschildert, nicht weil ich Theologie studiere sage ich das, und es kann doch niemals der Holocaust, die Shoa, gemeint sein.


    Ich denke immer, wenn in Opernregien die Sänger in modernen Anzügen auftreten, dann soll die Oper konzertant aufgeführt werden.


    Hitler- oder Stalinbilder haben weder in der Entführung was verloren, noch gehören sie hin, eher in Einems "Prozess", da kann man darüber nachdenken, aber auch Kafka meinte eigentlich den autoritären Staat im Allgemeinen.


    Ich lehne jede falsche Inszenierung ab, und wenn auch die Butterfly in Nagasaki spielt, muss nicht gleich eine Atombombe dabei sein, nur weil bedauerlicherweise diese Stadt damit auch zugrunde ging.

  • Zitat

    Original von Philhellene
    Ich glaube, man kann ein Werk auch verfälschen, indem man es für ein Publikum des 21. Jahrhunderts so spielt, wie es für ein Publikum des 18. Jahrhunderts gespielt worden wäre. Denn ist nicht die Rezeption vor allem vom Publikum abhängig?


    Lieber Martin,


    Wenn, und ich betone wenn, einer eine Oper besucht, hat er doch meistens mehr als nur eine Ahnung worum es sich handelt.
    Und die Mehrheit weiß vermutlich auch, warum das Werk geschrieben wurde. Warum gab es damals doch Zensur?


    Ich nehme als Beispiel "La muette di Portici" von Auber. Die Aufführung davon in Brüssel (1830) verursachte eine Revolution.
    Natürlich könnte man es nach unserer Zeit versetzen. Revolutionen gab's genügend. Aber im 19. Jhdt. gab es sie auch. Und das ist doch ziemlich bekannt, wenn ich mich nicht irre.


    Eine Revolution kann auf der Bühne dargestellt werden durch Menschen, die Fahnen mit Phrasen mitführen. Aber auch weil Menschen erschossen werden.
    Ich ziehe die Fahne vor. Schockiert nicht und vermittelt genauso gut.


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von oper337
    Hitler- oder Stalinbilder haben weder in der Entführung was verloren, noch gehören sie hin, eher in Einems "Prozess", da kann man darüber nachdenken, aber auch Kafka meinte eigentlich den autoritären Staat im Allgemeinen.


    Wie aber soll man den bildhaft auf der Bühne darstellen wenn nicht anhand konkreter Erfahrungsmuster? Zur sachlichen Korrektur: Die Hitler- und Stalin - Bilder, auf die Du Dich beziehst, gab es m. W. in keiner einzigen Inszenierung der ENTFÜHRUNG (warum auch?), sondern in der im parallel laufenden Thread besprochenen Konwitschny-Inszenierung von LAND DES LÄCHELNS. Und da gabe es auch keine Bilder von ihnen, sondern sie traten neben einer Reihe früherer Diktatoren von Caesar bis Napoleon leibhaftig auf.
    Man kann und darf ruhig fragen, was die da zu suchen haben, und abstrakt hätte ich das auch getan, aber im Zusammenhang der Inszenierung machte es überraschenderweise Sinn. Was mich da viel mehr störte, waren ausgerechnet ein paar kalauernde Reverenzen an die konservative Operette.


    Aber auch hier, wie schon wiederholt anderswo gesagt: suum quique.
    Hauptsache, es macht Sinn und regt nicht nur auf, sondern vor allem an.
    :hello: Rideamus

  • Zitat

    Na, dann must du aber noch kräftig Werbung machen, denn selbst hier bei Tamino sind die absoluten Regietheatergegner in der Minderheit


    GENAU DAS habe ich mit meinem Statement ja beabsichtigt.
    Zudem hat die regietheaterfeindliche Fraktion Zuwachs erhalten.....


    Eines steht aber fest: Die "Experimentierer" werden immer die "Lauteren " sein, das liegt in der Natur der Sache. Das ist übrigens auch der Grund warum ich sie im Forum überhaupt zugelassen habe: Sie sind dynamischer.
    Jemand der Tabus anerkennt ist automatisch auch dezenter oder introvertierter und schweigt oft zähneknirschend - für ein Forum nicht von Vorteil.


    Meien Wunsch wäre allerdings, daß die Gegner des Regietheaters sich formieren und dieses letztlich zu Fall bringen. Sei es durch Einfrieren von Sponsorgeldern an die Theater, durch politischen Einfluß, durch Boykott der Aufführungen. Nicht zerschlagen - AUSHUNGERN !!!


    Der Nationalsozialismus und der Kommunismus haben auf unseren Bühnen nichts zu suchen - es sei denn in Stücken die explizit dieses Thema aufgreifen - zeitgenössische Stücke also. Und -speziell im Bereich Oper - würden solche Werke vom Publikum mehrheitlich gemieden - deshalb versteckt man sich feige hinter den Klassikern die man (bewußt ???!!!) demoliert - und mit ihnen das bürgerliche Theater- und Opernwesen.


    UND WENN modern inszeniert, dann sollte ein Warnschild angebracht werden:


    ACHTUNG: Diese Inszenierung nimmt Verfremdungen an Zeit und Ort, an Inhalt und Geisteshaltung dieses Werkes vor und darf als sehr freie Deutung verstanden werden. Anweisungen des Libretto betrachten wir nicht mehr als verbindlich


    Diese Warnung sollte vom Gesetzgeber VERBINDLICH vorgeschrieben werden.


    (Dann würden ca 30% der Noch-Besucher ausfallen)


    Zitat

    Und gesellschaftliche Konventionen, ja ganze Lebenseinstellungen haben sich in den letzten Jahrhunderten sehr geändert.


    Dem würde ich nur sehr bedingt zustimmen.
    Ich sehe es eher so, daß etliche Prolos sich über Konventionen hinwegsetzen und es stillschweigend geduldet wird, weil man sie ohnedies verachtet.
    Das halte ich jedoch für eine gefährliche Haltung, weil auf diese Weise irgendwann mal der Schwanz mit dem Hund wedeln wird.
    Es darf nicht sein, daß wir uns so ausdrücken, daß wir unsere Sprache und Lebensweisen den Dummen anpassen - nur damit diese auch mitreden können.
    Im Mittelalter hat man sogar Latein miteinander gesprochen um diese Leute fernzuhalten - und nur in Ausnahmefällen (bei angestrebter geistlicher Karriere) das Lesen und Schreiben beigebracht. !!


    Und man hat gewusst WARUM


    Heute ist es bald so, daß man einem vorschreibt, so simpel wie möglich zu formulieren - damit es "ALLE" verstehen.


    Und hier macht man sogar vor dem elitären Medium "OPER" nicht hat.
    (Und wenn alle kopfstehen wegen dieser Aussage:
    Oper IST ein elitäres Medium - und sie sollte einer gebildeten Schicht vorbehalten bleiben. Wer aber zu dieser Schicht gehört (man muß daß nicht finanziell sondern intellektuell sehen) der hat auch das Hintergrundwissen über historische Zusammenhänge - der braucht kein "Musiktheater für Grenzdebile"


    Wen die Oper in der korrekten Form (ich vermeide bewusst das Wort "konservativ") aber langweilt, der soll sich in der Disco oder in "experimentellen Opernprojekten" unterhalten - von "klassischer Oper" jedoch Abstand nehmen. - die gehört nämlich UNS.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Zitat

    Original von Walter Heggendorn
    Die Realität IST schockierend.
    Die Frage ist, ob das Musiktheater die Realität abbilden will/soll.


    Als Anhänger des Regiethaters erwarte ich erstens die Adaption der Stoffe in die Gegenwart...


    Lieber Walter,


    Hier hast Du gerade gesagt, warum Die Aussage von Rudyard Kipling gilt "...and never the twain shall meet".
    Denn für mich ist das ein falsches Ausgangspünkt.


    Du hast aber nicht gesagt, warum Du das erwartest. Warum du Anhänger des Regietheaters bist. Oder eine "getreuere" Ausführung ablehnst.
    Es geht mir ja um Begründungen. Und die fehlen.


    LG, Paul


  • Lieber Alfred, also bei aller Liebe, aber es ist doch genau umgekehrt:
    "Oper für Dumme", so es so etwas überhaupt gibt, machen doch dein verehrter Otto Schenk & Co! Oder willst du mir im Ernst einreden, dass es besonderer intellektueller Fähigkeiten bedarf, um unsere "Traviata", "L'Elisir" etc. zu verstehen????? Bei einer Inszenierung von Konwitschny, Kusej, Decker etc. hingegen ist MITDENKEN gefragt, um den berühmten roten Faden zu erkennen, um Metapher zu verstehen usw. Und je öfter man eine solche Inszenierung sieht, umso interessanter, spannender wird es, weil man immer tiefer eindringt, immer mehr Bezüge entdeckt, Anspielungen versteht. Otto Schenks "L'Elisir", den ich im übrigen sehr mag, hat mir in den letzten 30 Jahren keine neuen Erkenntnisse oder Entdeckungen beschert. Muss er auch nicht, denn diese Oper erfüllt für mich den Zweck der reinen Unterhaltung. Aber insgesamt wirken Schenk-Inszenierungen auf mich einschläfernd, ich ergebe mich der Musik und ignoriere tunlichst, was sich auf der Bühne tut oder vielmehr nicht tut, während ich bei einer Konwitschny-INszenierung hellwach bin und ALLE meine Sinne Nahrung finden.
    Deine Gleichsetzung "Regietheater ist nur was für Dumme" ist reichlich absurd.
    Und im übrigen halte ich DICH für intelligent genug um zu wissen, dass Intelligenz nichts mit Herkunft und Stand zu tun hat und daher dein Vergleich mit der mittelalterlichen Lateinelite ziemlich hinkt.
    lg Severina :hello:

  • Zitat

    original Alfred


    Heute ist es bald so, daß man einem vorschreibt, so simpel wie möglich zu formulieren - damit es "ALLE" verstehen.



    Es wäre gar nicht verkehrt, wenn alle verstünden um was es geht. (Nicht nur im Bereich der klassischen Musik.)
    Nicht jeder spricht, italienisch, französisch oder Latein und ist dennoch kein Dummkopf.


    Allerdings sind Opernbesucher, zum größten Teil, sicher in der Lage einer Oper zu folgen, egal in welcher Sprache diese gesungen wird.


    Das Geschehen einer Oper in einen anderen Zeitrahmen zu presse, halte auch ich für falsch. Ich denke, dass die Oper dadurch an Glaubhaftigkeit verlieren könnte.


    Es gibt wie ich schon schrieb Inszenierungen, die eine Art Spagat zwischen moderner und konservativer Inszenierung schaffen. Den Zuschauer zu fesseln und ihm zu vermitteln, so und nicht anders hat sich diese Geschichte zugetragen, sollte das Anliegen sein. Obwohl ich mich auch mehr zum Staubilager zählen würde, glaube ich nicht, dass es in jedem Fall unbedingt von Nöten ist, dass die Damen und Herren mit Rauschkleidern und Lockenperücken auf der Bühne stehen müssen.



    LG


    Maggie

  • Ich finde es problematisch, so generell entscheiden zu wollen, in welche Zeit ein Regisseur die Handlung legt, ob in die dargestellte Epoche, in die der Lebenszeit des Komponisten/Librettisten, in unsere oder in irgendeine andere. Die Diskussion neigt ein wenig zum Dogmatismus, wie ich finde.


    Ein Beispiel: Vor Jahren erlebte ich in Stuttgart eine Neuenfels-Inszenierung der "Meistersinger". Der 1. Akt zeigte Deutschland in Trümmern und spielte kurz nach Kriegsende 1945. Der 2. Akt präsentierte Deutschland in den 60er-Jahren. Im 3. Akt wurde das Volksfest in den Jubel der Deutschen 1989 gestellt, mit Bildern vom Brandenburger Tor nach Öffnung der Mauer.


    Auf den ersten Blick: absurde Gags eines Regisseurs, der seine eigenen Phantasien dem Werk aufzwingt. Mir dagegen hat es eingeleuchtet: Wenn man weiß, wie die "Meistersinger" in der Nazizeit in die herrschende Ideologie eingebaut wurden ("Ehrt eure deutschen Meister... was echt und deutsch, wüßt' keiner mehr", gegen "welsche" Kunst usw.) - auch bereits "Regietheater", wenn man so will, wenn auch in historisch-korrekter Kostümierung - wenn man das also bedenkt, war Neuenfels' Hineinstellen der "Meistersinger" in die deutsche Geschichte zwischen 1945 und 1990 eine Rettungstat, sicherlich gewagt und bestreitbar, aber den Inhalt des Werks ernstnehmend - als Versuch, die nationalen Botschaften der "Meistersinger" mit der demokratischen Gegenwart auszusöhnen.


    Das empfand ich damals als einen sehr heilsamen Schock!

  • Ich finde das weniger schockierend, sondern sehe da eher das typische deutsche Oberlehrertheater, das sich bei den Meistersingern besonders gerne austobt. Ich finde es auch ein bisschen schwach, beim Sachs-Schlussmonolog immer gleich an den Nationalsozialismus zu denken, das zeigt im Grunde nur ein eingeschränktes Geschichtsbild. Wie wäre es denn mal mit einer Inszenierung, die den tatsächlichen historischen Bezug zur bevorstehenden Reichsgründung zeigt. Vermutlich wäre das nicht politisch korrekt, damit könnte man doch mal "schockieren".

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

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    Original von Draugur
    Wie wäre es denn mal mit einer Inszenierung, die den tatsächlichen historischen Bezug zur bevorstehenden Reichsgründung zeigt.


    Hans Sachs als Bismarck, mit preußischer Pickelhaube, warum nicht? Aber ich fürchte, so etwas gab es schon irgendwo...?

  • Bitte nicht ganz so platt ;)

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

  • Die im Titel gestellte Frage lässt sich für mich ganz leicht beantworten: Aber ja, selbstverständlich. Die Stoffe, die im Musiktheater Verwendung finden, sind oft reichlich schockierend: immer wieder gibt es Folteropfer, reichlich wird gemordet, der eine oder andere Kopf fällt, weil da ein Mädchen selbigen "zur eigenen Lust" haben möchte, viele Opern spielen im Krieg, sexuelle Gewalt findet statt, bei mancher Familientragödie stiefeln die Personen nicht nur im übertragenen Sinn im Blut, die Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen.


    Es passt hier ganz gut hin, dehalb möchte ich es erzählen: "Forza del destino", ein Kriegsstück, eine konventionelle Inszenierung - operettenhaft-bunte Kostüme, beim "Rataplan" sieht die Preziosilla in ihrem farbenfrohen Gewand wie eine Art Varieté-Zigeunerin aus, alle fallen beim "Piff-Paff-Puff" lustig hin und stehen sofort wieder auf um sich wieder spielerisch beschiessen zu lassen und wieder hinzufallen, alle Lachen und sind gutgelaunt - peinlich.


    "Trovatore", auch ein Kriegsstück: in Hannover hat Calixto Bieito ein Kriegsszenario auf die Bühne gebracht, das dem Zuschauer nichts erspart, die Grausamkeiten sind unglaublich - es ist genau jene Grausamkeit, die uns umgibt, die Teil unserer Welt ist. Mich hat das in seiner Drastik tief berührt und es bildet genau das ab, was das Stück beinhaltet - mit den Mitteln des heutigen Theaters für ein heutiges Publikum.


    Bezüge zur Nazi-Zeit sind problematisch - aber Rideamus hat recht: wenn das jemand macht, muss er es gut begründen können - und ich kenne mehr gelungene, als misslungene Beispiele.

  • Zitat

    Original von Draugur
    Bitte nicht ganz so platt ;)


    Einverstanden, also dann ernsthaft: Wie könnte eine "Meistersinger"-Inszenierung denn die Reichsgründung 1871 thematisieren? Und wie wäre der Bezug zu unserer Zeit? Das wären dramaturgische Fragen, die sich mir spontan stellen würden.


    Zu einer gelungenen Inszenierung, nicht nur der "Meistersinger", gehört für mich, daß sie die Fäden aufnimmt, die das Werk selbst enthält (nicht solche, die lediglich dem Hirn des Regisseurs entspringen, das interessiert mich weniger) - zum Werk gehört für mich auch seine Rezeptionsgeschichte - gerade bei Wagner ein wichtiges Thema.


    Wenn eine solche Aufführung, so wie ich es kurz skizziert habe, "schockiert" - umso besser. Wenn die Schocks dagegen lediglich unmotivierte Tabuverletzungen (z. B. sexueller Art) darstellen, die dem Werk mehr oder weniger aufgestülpt werden - das finde ich nicht schockierend, sondern letztlich genauso langweilig und belanglos wie eine konservative 1:1-Umsetzung des Librettos.


    Gerade die Stuttgarter Oper hat in der jüngeren Vergangenheit hier Wunderbares geboten!


    Alviano: Morgen (heute) werde ich in Frankfurt Paul Dukas' "Ariane et Barbe-Bleue" erleben, wozu Du ja schon dankenswerterweise Ausführliches und Informatives vorgelegt hast. "Schockierendes" habe ich dort demnach nicht zu erwarten. Eigentlich:ein wenig schade. :rolleyes:

  • EinTheater, das seine Zuschauer nicht mehr schockieren und damit aufrütteln und zum Nachdenken über sich selbst und die Welt animieren darf oder will, hat für mich keinen Sinn mehr.


    Wenn ich Friede, Freude und Harmonie erleben will, ist das legitim und meine eigene Entscheidung, aber dann schaue ich mir leichtverdauliche Happy-End-Stûcke mit Operettencharakter an und nciht einen Trovatore , eine Forza, einen Don Carlo, eine Iphigenie etc etc etc.
    Ich schilesse mich Alvianos Statement an: wo das Abscheuliche und Verstörende im Libretto thematisiert wird, muss es auch in der Inszenierung vermittelt werden.
    Mit welchen Mitteln das geschieht, ist Handwerk des Regisseurs und ich als Zuschauer will berührt und bewegt werden-ob altmodisch oder modern ist mir da total egal. Nur überzeugend und künstlerisch schlüssig zählt, sonst nichts.
    Wer die Brutalität von Verdis Libretti oder die Katastrophen in veristischen Opern nicht ertragen kann oder will , hat mein Verständnis, aber es gibt genug andere Komponisten, gerade im Bereich der komischen Oper, die unblutige Libretti vertont haben. Auch jemand , der sich in erster Linie in der Musik wohl und geborgen fühlen möchte kommt in Oper und Operette auf seine Kosten.
    Ein Zukleistern und Verniedlichen von grausamen Operninhalten finde ich künstlerisch vollkommen illegitim und unglaubwürdig.
    Und da muss ein Regisseur im Jahr 2008 natürlich andere Mittel einsetzen als einer von vor 200 Jahren. Siehe Philhellenes Argumentation.


    F.Q.

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