ADAM, Adolphe: GISELLE

  • Adolphe ADAM
    GISELLE



    (oder die Willis), Ballett in 2 Akten


    Giselle ist ein romantisches Ballett nach einer Geschichte von Theophile Gautier zur Musik von Adolphe Adam und wurde an der Pariser Oper am 28. Juni 1841 in einer Choreographie von Jean Coralli und Jules Perrot uraufgeführt. Es ist bis heute eines der beliebtesten und meistgespielten Ballette. Viele berühmte Ballerinen haben in dieser Rolle brilliert.


    Hier die Handlung (erzählt in Märchenform)


    1. Akt
    Jede Nacht geistern durch den Wald Gestalten, leicht wie Luft, unscheinbar wie Nebel. Ihre Körper sind weiß wie Schnee, einzig ihre dunklen Augen stechen aus ihren bleichen Gesich¬tern. Von einer Sekunde auf die nächste sind sie nicht mehr dort, wo sie noch eben waren. Sie sind überall und gleichzeitig nirgends. Sie heißen Wilis und sie sind alle junge Frauen, die vor ihrer Hochzeit starben, weil ihr Herz gebrochen wurde. Und wenn nun in der Nacht ein Mann in den Wald kommt, dann erscheinen die Wilis sofort mit ihrer Königin Myrtha und zwingen ihn zu tanzen, zu tanzen bis zum Tode.
    Vor langer Zeit lebte in einem kleinen Dorf ganz in der Nähe des Waldes die wunderschöne Giselle mit ihrer Mutter. Giselle war ein sehr liebes Mädchen, das jeder mochte und liebte. Sie hatte im ganzen Dorf viele Freunde, nicht nur weil sie so wundervoll tanzen konnte, sondern vor allem wegen ihres guten Herzens. Gleich zwei Männer warben um sie, sie zu heiraten, was ihre Mutter gar nicht gerne sah. Schon zu viele Mädchen waren zu Wilis geworden.
    Der eine war Hilarion, ein junger Jäger. Wenn er zwei Fasane gejagt hatte, dann schaute er, welcher der größere war und legte ihn Giselle als Geschenk vor die Tür. Für sich selbst nahm er den kleineren und damit schlechteren Fasan. Täglich brachte er ihr einen wunderschönen Strauß Blumen.
    Der andere Mann war neu im kleinen Dorf. Keiner wusste woher er kam und wer er genau war, aber da er die Kleidung eines Bauern trug, glaubte jeder, dass er auch einer sei. Niemand wusste, dass er in Wahrheit Prinz Albrecht war und eigentlich mit einer reichen Prinzessin ver¬lobt war. Aber als er Giselle durch das Fenster ihres Hauses sah, vergaß er seine Verlobte au¬genblicklich. Giselle war so viel liebreizender als die Prinzessin und viel mehr Wert geliebt zu werden.
    Er lockte sie aus dem Haus, in dem er anklopfte und sich hinter einem Zaun versteckte. Neugie¬rig wie Giselle von Natur aus war, kam sie sofort munter heraus gestürmt. aber niemand stand vor der Tür. Sie sah sich um, horchte, ob sie etwas hören würde. Wer mochte da wohl an die Tür geklopft haben?
    Albrecht betrachtete das schöne Mädchen, sie war wahrlich etwas ganz besonderes, wie sie über den Platz eilte und mal hier und mal da hin schaute und immer wieder inne hielt um zu lauschen. Schließlich lief er auf sie zu, aber sie sah ihn nicht, da sie ihm den Rücken zukehrte. Sie machte einen Schritt zurück und stieß gegen ihn. Etwas schüchtern sah sie ihn an, lächelte zaghaft. Dann tanzte sie ein paar Schritte vor ihm und zu ihrer Freude, tanzte er mit.
    Giselle war ein kluges Mädchen und so ließ sie sich nicht sofort mit ihm ein. Aber er war so lieb zu ihr und tanzte so wundervoll mit ihr und schließlich pflückte sie ein Blümchen um ihm Blatt für Blatt abzureißen und dabei abzuzählen: "Er liebt mich, er liebt mich nicht,.." Sie war zu un¬geduldig und so zählte sie die verbliebenen Blätter ab. Zu ihrer Trübsal musste sie erkennen, dass die Blume ihr sagte, er liebe sie nicht. Enttäuscht ließ sie sie fallen, wollte zurück in ihr Häuschen gehen. Doch Albrecht nutzte den Augenblick in dem sie ihm den Rücken zukehrte, riss ein Blatt der Blume ab, hielt dann die Pflanze vor Giselles Augen und riss vor ihr die Blätter ab. Da nun eines fehlte kam nun ein ganz anderes Ergebnis. Er würde sie lieben, sagte die Blume nun. Giselle war glücklich über ihren vermeintlichen Irrtum und glaubte nun, dass er es ehrlich gut mit ihr meinte und nahm seine Hand an. Sie meinte sogar nun mit ihm verlobt zu sein. Wie konnte sie ahnen, dass er sie belog?
    Als die übrigen Bauern mit der Weinernte kamen, setzte er ihr sogar eine Krone aus Weinlaub auf den Kopf und gab ihr ein Zepter aus Weinranken in die Hand und wie eine Königin thronte sie so auf dem Holzwagen. Nur Giselles Mutter schimpfte, als sie das Treiben sah. „Giselle!“, rief sie aus. „Du weißt, um deine schwache Gesundheit. Sei vorsichtig Kind. Denk an die Wilis, die nachts aus ihren Gräbern steigen. Denk an ihre bleichen toten Gesichter und wie sie grau¬sam jeden Mann töten, der sich ihnen nähert. Ich möchte nicht, dass du ihr Schicksal teilen musst.“ Doch Giselle war zu verliebt als das sie glauben konnte, dass Albrecht ihr das Herz brechen könnte. Selig kehrte sie zurück in ihr Haus und er in ein anderes. Sie merkte nicht, dass durch den Wald eine ganz besondere Reitertruppe kam, es waren Hofleute mit König, Kö¬nigin und der Prinzessin, der eigentlichen Verlobten von Albrecht.
    Giselles Mutter rief ihre Tochter aus dem Haus und staunend betrachtete das Mädchen all die Pracht der reichen Leute. Obwohl es sich eigentlich nicht gehörte strich sie der Prinzessin über ihr feines Kleid, als diese gerade nicht hin sah und von den Trauben aß, die ihr die anderen Bauern gegeben hatten. Es war Giselle sehr unangenehm, als die Prinzessin sie dann doch bemerkte. Aber schließlich verlor sie ihre Scheu und sie erzählte wie wundervoll sie doch die Stoffe fände und dass sie, wenn sie auch solchen hätte, sich ein Brautkleid daraus schneidern würde, weil sie verlobt sei und bald heiraten wolle.
    In Gedanken an ihren lieben Verlobten Albrecht begann sie zu tanzen, bis sie ihre Mutter dabei unterbrach. Es gehörte sich nicht, vor den Königsleuten so zu agieren. Aber die Prinzessin hatte Giselles Tanz und die Ehrlichkeit des Mädchens gemocht und so schenkte sie ihr eine wunderschöne goldene Kette, die sie ihr auch gleich um den Hals legte. Sie zeigte ihr einen wundervollen ring an ihrem Finger. „Sieh nur, Kleine“, sagte die Prinzessin. „Auch ich bin ver¬lobt.“ Ungläubig betrachtete Giselle die wunderschöne glitzernder Kette, zeigte sie freudig allen Dorfbewohnern und fing gleich wieder an zu tanzen. Sie würde wunderschön an ihrem Hals an ihrer Hochzeit aussehen. Dankbar winkend sagte sie den Hofleuten bei ihrem Abschied auf Wiedersehen.
    Sie strahlte vor Glück, als ihr Albrecht nur kurz nach dem verschwinden der Königsfamilie wie¬der auftauchte. Doch der Jäger Hilarion erschien gleich nach ihm und ein erneuter Streit zwi¬schen den Männern drohte.
    Hilarion hatte in dem Haus in dem Albrecht verschwunden war dessen Schwert und Horn ge¬funden und zeigte es nun Giselle. "Sieh", wollte er sagen. "Er ist nicht der, der er vorgibt zu sein. Er betrügt dich." Aber Giselle glaubte Hilarion kein Wort. Er wolle sie schließlich auch hei¬raten und ihr sicher nur Albrecht ausreden. Aber ein bisschen verstörte sie das Schwert dann doch. Sie warf ihre Gedanken jedoch gleich wieder fort, sie waren zu albern. Albrecht ärgerte sich sehr über Hilarion, riss ihm das Schwert aus der Hand und vor Wut stieß er es ihm fast in den Bauch. Gerade so konnte er seinen Ärger noch zügeln. Hilarion aber blies in das Horn und schon bald ertönten wieder die Huftritte der königlichen Pferde und die Hofleute kamen zurück.
    Die Prinzessin war äußerst erstaunt Albrecht in der Bauernkleidung zu sehen, wo waren seine schönen Prinzenkleider? Giselle hüpfte strahlend zu den beiden, erzählte der Prinzessin. "Dies ist mein Verlobter." Die Prinzessin schüttelte den Kopf. "Aber nein, dies ist mein Verlobter." Giselle war zu tiefst erschüttert, sie bat Albrecht um eine Erklärung, doch was sollte er sagen? Es war doch wahr. Und auch wenn ihm Giselle viel mehr bedeutete als diese Prinzessin, so war er doch eigentlich mit der anderen verlobt und da er ein Prinz war, würde er sie auch heiraten müssen. Ein Bauernmädchen kam für ihn nicht in Frage. So nahm er die Hand der Prinzessin und begrüßte sie mit der Entschuldigung er wäre jagen gewesen und hätte dabei die Zeit ver¬gessen. Giselle musste erkennen, dass sie getäuscht worden war.
    Sie schrie auf und taumelte und fiel schließlich zum Boden. Entsetzt sahen die Leute sie an, aber sie war nicht tot, sie stand wieder auf, tat, als pflückte sie eine Blume und würde ihr die Blätter ausreißen. "Er liebt mich, er liebt mich nicht..." Ihr Herz tat so schrecklich weh. Er liebte sie nicht, das hatte die Blume ihr gesagt. Aufschreiend und taumelnd purzelte sie zwischen den Leuten umher, versuchte ein paar Schritte zu tanzen, aber ihr gelang es nicht mehr. Es war mehr ein Fallen als ein tanzen oder Gehen. Irr geworden stolperte sie umher, brach mehrmals zusammen um nur noch irrer und verzweifelter sich wieder aufzurappeln. Die Dorfbewohner sa¬hen sie entsetzt an, das so kluge schöne muntere Mädchen war so plötzlich verrückt geworden. Schließlich brach sie endgültig zusammen und starb, weil ihr Herz gebrochen war.


    2. Akt
    Albrecht war verzweifelt, seine einzige große Liebe war durch seine Schuld gestorben. Sie wurde im Wald beerdigt, im Wald in dem jede Nacht die Wilis umhergeisterten. Trotz dieser nächtlichen Gefahr begab sich Hilarion nachts an das Grab von Giselle. Er überging die War¬nungen der anderen Männer, dass die Wilis in der Nähe seien. Und als er so an Giselles Grab saß, sah er zwischen den Bäumen wie Nebel weiße Gestalten. Doch sie waren noch fern und so geisterhaft, nahm er sie nicht ernst. Myrtha schwebte leicht wie eine Feder an den Bäumen vorbei. Ihr Gesicht und das der anderen Wilis war von einem Schleier wie ein Hochzeitsschleier verdeckt, der jedoch wie von Zauberhand mit einem Mal verschwand und ihre bleichen Ge¬sichter freigab. Sie waren vollständig weiß, ihre weiten Kleider, ihre Arme und Hände und ihr Gesicht. Nur ihre Augen blickten dunkel hervor. Ein weiterer Nebel bildete sich vor Myrtha und den Wilis und nach und nach formte sich aus diesem Nebel eine neue Wili, es war Giselle, die nun auch zu ihnen gehörte.
    Auch Hilarion hatte Giselles Grab besuchen wollen. Mit einem Mal war umringt von Wilis. Sie kreisten um ihn und trieben ihn fort von Giselles Grab, näher zum Waldsee. Mit einem Mal sah er in das Gesicht von Myrtha, die ihn streng ansah. "Du musst sterben", sagte sie. Er tanzte ihr vor, so gut er konnte und bat um Gnade. Aber sie sagte: "Du musst sterben." Er tanzte und tanzte und bat und bat, aber wieder und wieder gab sie ein und dieselbe Antwort. Er bat die an¬deren Wilis um Gnade und jede Wili löste sich für einen Moment aus ihrer steifen Haltung um nur ein Zeichen zu geben: „Tod“.
    Und so tanzte und tanzte und tanzte er, mehr und mehr strengte er sich an und schließlich drehte er eine Pirouette an der anderen. Er drehte und drehte und drehte sich, solange bis er Tod zusammen brach.
    Auch Albrecht interessierte es nicht, dass es Nacht war und die Wilis im Wald umher schweb¬ten, er brachte dennoch einen Strauß Blumen zu Giselles Grab. Giselle sah ihn dort sitzen und um sie weinen. Sie erinnerte sich, wie er ihren toten Körper vom Boden aufgehoben hatte und wieder und wieder ihr geschworen hatte, dass er wirklich nur sie und nicht die Prinzessin geliebt hatte. Und wie sie ihn so an ihrem Grab weinen sah und daran zurück dachte, da wusste sie, dass es die Wahrheit gewesen war.
    Sie schwebte zwischen den Bäumen hervor, aber er sah sie nicht gleich. Er spürte aber, dass sie bei ihm war und schließlich konnte er sie auch sehen. Seine Giselle, ein Wili geworden, der Nacht für Nacht durch den Wald würde schweben müssen. Aber sie war ihm nicht mehr böse und tanzte mit ihm. Und mit einem mal war sie verschwunden. Stattdessen kamen Myrtha und die Wilis und umringten Albrecht. "Du musst sterben", sagte Myrtha. Und er tanzte für sie. Aber sie gestattete keine Gnade. "Du musst sterben", wiederholte sie.
    Sie stieß ihn von sich zu Giselles Grab und wollte sich schon auf ihn stürzen, da eilte Giselle herbei und stellte sich schützend vor Albrecht. Sie fing an mit ihm zu tanzen, aber Myrtha er¬teilte keine Gnade. Albrecht musste wieder und wieder vor ihr tanzen und sie erteilte doch nie Gnade. Erschöpft brach er zusammen, war fast am Sterben. Aber Giselle beugte sich über sei¬nen schwachen Körper und hauchte wieder Leben in ihn. Und so tanzte er weiter und weiter.
    Myrtha konnte nicht nachgeben. Zu oft hatten Männer jungen Frauen das Herz gebrochen und zu viele waren daran schon gestorben und deshalb mussten alle Männer sterben, wenn sie nachts den Wald betraten. Daran führte kein Weg vorbei. Albrecht war so erschöpft, aber Gis¬elle versuchte ihn zu beschützen so gut sie es nur irgend konnte.
    Der Morgen dämmerte und ein Wili nach dem anderen verschwand in den Tiefen des Waldes. Und Albrecht tanzte noch immer, bis er schließlich erneut wie tot zusammen brach. Giselle spürte, wie sie sich langsam in Luft auflöste, da der Morgen anbrach, aber sie sah auch, dass Myrtha nun verschwand. Ein letztes Mal beugte sich Giselle über den Prinzen, zärtlich hauchte sie Leben in ihn ein. Schwindend sah sie, wie er sich wieder aufrichtete. Er spürte wie eine Hand, zart wie ein Nebelhauch über sein Gesicht strich, sah Giselle wie sie im Wald ent¬schwand. Er war allein, die Wilis waren fort und Giselle, die er zur Wili gemacht hatte, hatte ihm das Leben gerettet.