Liebe Bachfreunde,
um über das Thema „Cembalo ja oder nein“ bei Bachs Kantaten zu diskutieren, steht bereit ein Thread zur Verfügung.
Die Frage, ob man besser eine große Kirchenorgel oder eine Truhenorgel bzw. ein kleines Orgelpositiv verwendet, könnte eventuell genug Diskussionsstoff für einen eigenen Thread beinhalten.
Ohne Umschweife möchte ich hierzu meine Meinung in den Ring werfen:
Die relativ scharf formulierte Kritik eines unserer Forumsteilnehmer gegen die Truhenorgeln kann ich nicht wirklich nachvollziehen, jedenfalls dann nicht, wenn es um das Thema Continuo und nicht den solistischen Einsatz geht, denn hierfür könnten ggf. einige Register fehlen, die zugleich durchsetzungsfähig und angenehm klingen.
Beim Eingangschor von BWV 73 plädiere ich z.B. für den Einsatz von zwei Orgeln, eine Truhenorgel für das normale Orchestercontinuo und eine Kirchenorgel für die instrumentalen "Herr wie du willt" -Einwürfe.
Für mich sind dies allerdings Ausnahmen.
Wenn es aber nur ums normale Continuo geht, sehe ich bei den kleinen Orgeln drei große, wichtige Vorteile:
Zunächst ist die Gefahr, die anderen Continuoinstrumente zu übertönen, naturgemäß kleiner.
Ich möchte ja unbedingt hören, was für Ideen ein Cellist oder Fagottist für seine Continuobässe hat ( auch Vibrato oder Non-Vibrato…) und mich am holzigen Klang eines Barockcellos oder eines Barockfagotts erfreuen.
Dann können diese Orgeln mitten im Orchester, oder (wie im Falle des von dort aus leitenden Koopmans) vor dem Orchester hingestellt werden.
Die räumliche Nähe zu den anderen Musikern, vor allem jenen der Continuogruppe, ist auf jeden Fall für ein gutes Zusammenspiel förderlich.
Und nicht zuletzt kann man die Orgeln transportieren, was ein einheitlich-gewohntes Klangbild mit sich bringt, und auch für Proben oder Aufführungen in Konzertsälen vorteilhaft ist.
Bei den großen Kirchenorgeln sehe ich es genau umgekehrt:
Nicht von der Hand zu weisen ist hierbei die Gefahr, die Mitspieler zu übertönen und aus dem Continuospiel ein Orgelkonzert zu machen.
Das für die Continuogruppe so wichtige Zusammenspiel ist aufgrund der größeren räumlichen Distanzen m.E. nur in seltenen Fällen derart einfach zu realisieren, wie es immer bei Truhenorgeln oder kleinen Orgelpositiven ( bei Gardiner hört man z.B. eine Orgelpositiv von Robin Jennings) möglich ist.
Ich bin ehrlich gesagt froh, dass die Zeiten, in denen Hedwig Bilgram unter der Leitung von Karl Richter zu Bachs originalen Bässen mehr oder weniger kleine „Orgelkonzerte“ erfand, vorbei sind, auch wenn ich ihre Phantasie und Improvisationskunst durchaus bewundere.
Bestimmte Orgelimprovisationen Bilgrams hatten sich bei mir schon so eingeprägt, dass ich damals noch dachte, diese wären von Bach so notiert worden...
In den 70ern erlebte ich durch die ersten HIP-Aufnahmen dann auch einen riesigen Aha-Effekt.
Auf einmal konnte ich die Schönheit der individuell gestalteten, originalen Basslinien besser heraushören.
Das wurde auch dadurch erreicht, dass z.B. nur ein ausdrucksstark spielendes Cello/Fagott und eine kleine Truhenorgel für die Begleitung einer Arie zuständig waren.
Als sehr positiv empfand ich es damals auch, dass Continuospieler wie Leonhard, Tachezi oder van Asperen nicht irgendwelche kontrapunktischen Fleißaufgaben erledigten, sondern ein zwar zurückhaltendes, aber dennoch wichtiges harmonisch/rhythmisches Fundament für die Musik lieferten.
Das konnte und kann mich bis heute überzeugen.
Bei Richter hat man in gewissen Fällen hat zur dramatischen Steigerung zusätzlich zu den x-fach besetzten Kontrabässen auch noch das Orgelpedal eingesetzt (siehe auch Matthäus-Passion: „…und die Erde erbebete“)
Bedaure, aber so etwas kann ich heute nur noch furchtbar finden, und der Siegeszug der kleinen Orgeln zeigt doch auch, dass es viele andere Musiker und wohl auch Hörer auf dieser Welt gibt, die es ganz genau so empfinden, die aufrechten HIP-Gegner jetzt einmal ausgenommen.
Da Bachs Musik zum Glück nicht mehr ausschließlich in Leipziger oder Weimarer Kirchen zu hören ist, kann die Wiederherstellung einer speziellen, lokal-historischen Situation wohl kaum ein erstrebenswertes Ziel sein.
Es muss m.E. vielmehr darum gehen, die Musik in unserer Zeit so gut wie möglich aufzuführen.
Oft sind die historischen Mittel dabei die besten.
Es mag aber auch gewisse historisch dokumentierte Situationen gegeben haben, die faktisch eine Unpässlichkeiten darstellten. Diese sollte man, wie ich finde, nicht wiederherstellen, was auch für Fragen der Besetzung des Continuos gilt.
Viel wichtiger wäre es m.E. , Bachs Idealvorstellungen herauszufinden und diese dann in die heutige Aufführungspraxis einzubringen bzw. zu überprüfen, ob damit überzeugende Resultate erzielt werden können.
J.E. Gardiner hat z.B. einmal die interessante Frage gestellt, ob die Leipziger Kantatenaufführungen wirklich nach Bachs (oder auch nach unseren) Vorstellungen gelungen waren.
Es müsse doch enorm schwierig gewesen sein, jeden Sonntag die entsprechenden Sänger und Musiker zu organisieren.
Wie oft wurde eigentlich geprobt?
Konnte überhaupt immer geprobt werden?
War nicht angesichts der technisch-musikalischen Schwierigkeiten dieser Werke ein Fiasko mehr oder weniger vorprogrammiert?
Oder waren die Sänger/Instrumentalisten stilistisch derart versiert und aufeinander eingespielt, dass es glanzvolle Aufführungen gab?
Nikolaus Harnoncourt nimmt an, dass man an den Partituren mit ihren unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden erkennen könne, ob dem Kantor an einem bestimmten Sonntag z.B. ein fähiger Altsänger, oder ein besonders virtuoser Flötist zur Verfügung stand. Diese habe er dann bis an ihre Grenzen gefordert.
Wahrscheinlich stimmt beides, und leider (oder zum Glück?) sind Zeitreisen bis heute technisch unmöglich, sonst könnte man sich ein eigenes Bild machen.
Gardiner meinte dann auch noch, dass es bestimmt niemanden gäbe, der heute ernsthaft daran interessiert sein wird, etwaige damalige Unpässlichkeiten, oder gar ein mittleres Aufführungs-Fiasko möglichst originalgetreu nachbilden zu wollen, denn Bachs Musik habe es schließlich verdient, dass wir uns um ein möglichst hohes handwerkliches und künstlerisches Niveau bemühten.
Wer wollte ihm da widersprechen?
Ist dies denn nicht auch einer der Gründe, weswegen man heutzutage kaum noch auf Knabenstimmen für Bachs geistliche Werke zurückgreift?
Eben mit dem Argument, dass wir heute aufgefordert sind, es so gut wie möglich zu gestalten, halte ich am bevorzugten Einsatz von Truhenorgeln oder Kleinpositiven für das Continuo bei Bachs geistlichen Werken fest, siehe auch die oben genannten Gründe zur Klangbalance und zum Zusammenspiel.
Natürlich ist es immer die Streitfrage, ob eine historische Unzulänglichkeit wirklich nur eine solche darstellte, oder ob es sich bei dieser gerade um einen Vorteil gehandelt habe.
Doch Vorsicht:
Mit solchen Argumentationsketten wurden noch in den 60ern die Massenchöre und dergleichen legitimiert...
Immer wieder neu müssen solche Fragen abgewogen, diskutiert und vor allem in der Praxis erprobt werden.
Bei der solistischen Besetzung des Chores etwa haben es ja Rifkin, Parrot und Kuijken schon sehr überzeugt ausprobiert. Wirklich überzeugend finde ich ihre Resultate jedoch nicht.
(Für mich klingt eine Besetzung von ca. vier Stimmen je Chorstimme am besten, was nach meiner Auffassung auch am ehesten dem Bachschen „Entwurff“ , der ja seine Idealvorstellung formuliert, entspricht. )
Sicher kann man heute nur noch über die Frage mutmaßen, ob der Einsatz der großen Kirchenorgel oder eines kleinen Orgelpositivs für das Continuo den Idealvorstellungen Bachs entsprach oder nicht.
Meiner Ansicht nach hätte er ein kleines Orgelpositiv oder eine kleine Truhenorgel besser gefunden.
Es steht ja jedem frei, solche Dinge von Fall zu Fall je nach örtlicher Situation auszuprobieren
Den Ausdruck „Piepsorgeln“ oder dergleichen zu verwenden, halte ich im übrigen für polemisch, jedoch nicht für angemessen, denn mit solchen Bezeichnungen bringt man diese Instrumente assoziativ in den Bereich von billigem Spielzeug ( siehe auch Plastikblockflöten =Blödflocke), was den Realitäten weder klanglich noch preislich entspricht.
Ich habe mich einmal bei Herrn Dr. h.c. Jürgen Ahrend nach dem Preis einer solchen kleinen Truhenorgel erkundigt und war schon ziemlich überrascht.
Den damaligen Preis möchte ich hier nicht nennen, aber der Normalbürger man muss schon dafür sparen, ähnlich wie vielleicht für einen großen Konzertflügel. Selbstverständlich kommen diese Preise nicht ohne Grund zustande.
Die Kleinorgeln sind für mich also ein großer Gewinn für die Aufführungspraxis der geistlichen Werke Bachs.
Natürlich schwingen hier noch andere Fragen mit, wie etwa der Einsatz des Cembalos (ich bin meistens dagegen!) oder die grundsätzliche Frage, wie denn ein Tastenspieler überhaupt den Generalbass ausführen sollte.
Vielleicht eröffnet ja irgendjemand hierzu noch einen neuen Thread.
In Erwartung einer angeregt sachlichen Diskussion grüsst
herzlichst
Glockenton