Franz SCHUBERT - Die Sinfonien - Musik mit "Wienerischer Note" (?)

  • Der Titel enthält, wie viele meiner Threadtitel (ganz bewußt) eine Provokation.


    Die Behauptung, Schuberts Sinfonien (und nicht nur die) hätten eine spezielle "Wienerische Note" die man nach Möglichkeit auch bei der Interpretation betonen sollte, wird sicher auch auf Widerstand stoßen.


    Zu den Vertretern dier Gruppe die diese Behauptung jedoch unterstützt gehöre unter anderem ich selbst, ohne daß ich das näher definieren könnte.
    Schubert ist IMO übrigens der EINZIGE Wiener Klassiker, von dessen Werken ich das behaupten wollte. Manche nennen dieses Charakteristikum auch "typisch Schubert" - soll sein, in meinen Augen bleibt es dasselbe.


    Es gibt aber auch Interpretationen, welche diese Eigenart (bewußt ?) unterdrücken, und die das "Schroffe" betonen, während das (zweifellos vorhandene) "Biedermeierliche" unterschlagen wird.


    Mich würde nun interessieren, wer von Euch den "Wiener Ton" aus Schuberts Sinfonien heraushört, und wie er sich Eurer Meinung nach manifestiert, bzw ob ihr ihn den Werken überhaupt zugesteht..........


    Dann könnte man - so Interesse besteht - auch noch analysieren welche Dirigenten (bzw Aufnahmen) diese Eigenart hörbar machen - und welche sie unterdrücken....



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    um darauf eingehen zu können, müsstest Du, der Du diese Behauptung in den Raum stellst, uns Austria-Amateuren, Donau-Dilettanten, Wien-Wähnern und Prater-Prolos erst einmal erklären, was Du denn unter speziell wienerisch verstehst.
    Die typischen Klischees?
    Viel Herz, reichlich Schmäh, Klangsinnlichkeit mit Schlagobers oben drauf, Fiaker-Feeling, Dreivierteltakt trotz Viervierteltakts, leichtsinnige Leichtigkeit, liebenswürdige Dramatik?
    Mit Biedermeier unterm Stephansdom kann's doch nicht getan sein. Vielleicht doch das Haas-Hoos gegenüber?


    Oder ist die "Wienerische Note" einfach ein Viertel h beim Heurigen?


    Es besteht Klärungsbedarf.


    LG in die Hauptstadt,



    audiamus



    .

  • Hallo,


    ich weiß nur eins: seit ich Harnoncourt gehört habe, nehme ich bei Schubert keinen anderen mehr: nie habe ich so viel Leben in seinen Sinfonien gehört. Ob da jetzt eine Wienerische Note dabei ist, kann ich nicht sagen.. ich war noch nie in Wien ;)
    Meinst du auch, dass Einspielungen mit den Wiener Philharmonikern dann grundsätzlich einen Bonus besitzen?

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Zitat

    Original von rappy
    Meinst du auch, dass Einspielungen mit den Wiener Philharmonikern dann grundsätzlich einen Bonus besitzen?



    Probe aufs Exempel - der Anfang des zweiten Satzes der "Unvollendeten":



    Einmal mit den Wiener Philharmonikern unter Riccardo Muti (bitte Disk 1, Track 10 anklicken):





    Einmal mit der Wiener Akademie unter Martin Haselböck (bitte Disk 1, Track 6 anklicken):





    Einmal mit den Wiener Symphonikern unter Nikolaus Harnoncourt (bitte Track 2 anklicken):






    Irgendwie scheinen sich die Wiener über die spezifisch "wienerische Note" nicht ganz einig zu sein... :D



    (Und jetzt sage keiner, dass Harnoncourt und Muti keine richtigen Wiener seien - das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, dass Haselböck die wienerische Note am besten trifft...da sei Alfred vor... :D)



    Viele Grüße


    Bernd

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Also ich kann das auf einer ganz subjektiven emotionalen Ebene problemlos nachvollziehen, was das "Wienerische" and Schubert ist ..... Erklären kann ich das allerdings auch nicht.

  • Die Frage: Was ist wienerisch ?
    Hat ja schon "Obsi" so treffend beschrieben......


    Aber im Ernst - ich kann es selbst nur schwer definieren.
    Es kommt ferner auch nicht darauf an, ob "das Wienerische" tatsächlich vorhanden ist - sondern ob es so "empfunden" wird.


    Ja, ich würde schon sagen, die Wiener Philharmoniker hätten einen Bonus, es kann aber auch ein anderes Wiener Orchester sein....


    Überbewerten sollte man das allerdings nicht.


    Vielleicht tut man sich in Deutschland leichter, wenn ich "wienerisch" in diesem Zusammenhang durch "biedermeierlich" ersetze.......?


    Schubert war nun mal kein Deutscher wie Beethoven oder Brahms und ich glaube das kann man auch durchaus hören. Man kann allerdings auch dagegen ankämpfen, indem man Schubert BEWUSST spröde spielt...


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Dass es in Schuberts Musik wienerische Elemente gibt, wird wohl niemand bestreiten.


    Teilweise kann man die doch auch musikalisch ganz konkret benennen: etwa bei den Ländlern, überhaupt den ganzen Tanzsätzen, die unverkennbar einem regionalen Idiom entstammen (was sich ja später bei Bruckner und gelegentlich auch bei Mahler fortsetzt - dort aber vielleicht eher "österreichisch" als "wienerisch" zu nennen wäre).


    Ich meine mich auch zu erinnern, bei Gülke gelesen zu haben, dass die Vorliebe Schuberts für harmonische Rückungen, "Beleuchtungswechsel" usw. ebenfalls einer spezifisch österreichischen musikalischen Tradition entspringe.


    Dem Schlussatz des Forellenquintetts z.B. ist doch oft Nähe zur Kaffeehausmusik nachgesagt worden - wobei ich keine Ahnung habe, wie die Kaffeehausmusik des biedermeierlichen Wiens geklungen hat. Das weiß hier doch bestimmt irgendjemand.


    Es gibt (u.a. auch bei Gülke) Versuche, Spezifika der Schubert'schen Musik aus den teils bedrückenden politischen Verhältnissen der Metternich-Zeit zu erklären. Da lässt sich wohl auch einiges mit Quellen belegen.


    Man kann außerdem auf einer (tendenziell fragwürdigen) Ebene einer Geschichte regionaler Mentalitäten argumentieren: Das Neben- und Ineinander von Weltschmerz und Ausgelassenheit wurde dem "Wiener an sich" ja öfter nachgesagt. Inwiefern man dieses "Lebensgefühl", das meist wohl eher mit dem Fin de siècle verbunden wird, auf die Schubertzeit projizieren darf, bleibt zu diskutieren (wobei sich ja auch Verbindungen zum letztgenannten Punkt ergeben).


    Welche Schlussfolgerungen daraus für eine spezifisch wienerische Interpretation abzuleiten wären, bleibt mir unklar. Möglicherweise ist in meinem o.g. Beispiel Haselböck doch viel näher am musikalischen Tonfall der Schubertzeit als Muti oder Böhm (was jetzt allerdings nicht zur 143. HIP-Kontroverse beitragen soll :evil: ).



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht


    Dem Schlussatz des Forellenquintetts z.B. ist doch oft Nähe zur Kaffeehausmusik nachgesagt worden - wobei ich keine Ahnung habe, wie die Kaffeehausmusik des biedermeierlichen Wien geklungen hat. Das weiß hier doch bestimmt irgendjemand.


    Lieber Bernd,


    ich glaube nicht, dass Johannes Heesters ein Tamino ist, aber selbst der würde es nicht wirklich schaffen. Zitat Wikipedia:
    "Als Biedermeier wird die Zeitspanne von 1815 (Wiener Kongress) bis 1848 (Beginn der bürgerlichen Revolution) in den Ländern des Deutschen Bundes und des Kaisertums Österreich bezeichnet..."


    Das fiele immerhin noch in etwa mit dem letzten Lebensjahrzehnt Schuberts zusammen. Ich fürchte, Du überforderst da selbst Leute wie mich, ganz zu schweigen vom Durchschnitt der Taminos, deren Jugendlchkeit doch gerade erst hier irgendwo von jemandem gelobt wurde. Einspielungen gab's damals leider auch noch nicht, denn sonst wäre uns vielleicht manche HIP - Diskussion erspart geblieben.


    Tut mir Leid, aber dieses OT konnte ich mir nicht verkneifen.


    :hello: Rideamus

  • Zitat

    Original von Rideamus
    Einspielungen gab's damals leider auch noch nicht, denn sonst wäre uns vielleicht manche Spät-HIP - Diskussion erspart geblieben.



    Lieber Rideamus,


    ich dachte ja eher an notenschriftliche Überlieferung ;) - sowas gibt's ja durchaus auch bei "populären" Musikformen. Intuitiv bin ich mir fast sicher, dass in irgendeinem Wiener Kaffeehaus bereits jetzt hippe Kaffeehausmusik aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gespielt wird :D.
    Persönlich kenne ich nur das gelegentliche Gefiedel im Bräunerhof und den Klavierspieler im Diglas... :untertauch:


    Hier könnte vielleicht Monsieur l’Observateur weiterhelfen...



    Viele Grüße


    Bernd

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  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Dass es in Schuberts Musik wienerische Elemente gibt, wird wohl niemand bestreiten.


    Teilweise kann man die doch auch musikalisch ganz konkret benennen: etwa bei den Ländlern, überhaupt den ganzen Tanzsätzen, die unverkennbar einem regionalen Idiom entstammen (was sich ja später bei Bruckner und gelegentlich auch bei Mahler fortsetzt - dort aber vielleicht eher "österreichisch" als "wienerisch" zu nennen wäre).


    Und auch schon bei Mozart und besonders Haydn auftaucht. Aber Alfred hat sicher recht, dass man es bei Schubert eher merkt. (Brahms kann das Idiom m.E. aber sehr gut emulieren, wenn er will, gleich im H-dur-Trio oder im ersten Sextett und noch in einem ländlerartigen Mittelsatz der f-moll-Klarinettensonate!)


    Zitat


    Dem Schlussatz des Forellenquintetts z.B. ist doch oft Nähe zur Kaffeehausmusik nachgesagt worden - wobei ich keine Ahnung habe, wie die Kaffeehausmusik des biedermeierlichen Wiens geklungen hat. Das weiß hier doch bestimmt irgendjemand.


    Wie Schubert halt... ;) Das Finale des Forellenquintetts scheint mir fast schon zu hektisch dafür zu sein. Wie Du sagst, dass es diese Elemente gibt, ist kaum zu bestreiten. Gerade in den Sinfonien scheinen sie mir aber eher selten zu sein (Seitenthema von 8,i, Trio der 9. und noch ein paar Trios oder langsame Sätze), jedenfalls nicht so dominierend. Die dritte Sinfonie vielleicht etwas mehr als die anderen.
    Natürlich in der vierhändigen Klaviermusik, Tanzsätzen und Seitenthemen auch der Klaviersonaten.


    Schubert ist insofern wohl zu Recht hervorzuheben, als dass er der letzte bedeutende Komponist sein dürfte, der diese volkstümlichen und tanzmusiknahen Elemente verwenden kann, ohne dass es wie bewußtes Zitieren wirkt. (Auch wenn Schumann und Brahms dem stellenweise nahe kommen, so ist deren "Volkston" immer einer aus zweiter Hand.) Es gibt bei Rosen ja einen ganzen Abschnitt zum "volkstümlichen Stil" in der Wiener Klassik und er versucht, plausibel zu machen, warum diese Elemente damals mehr oder minder bruchlos eingefügt werden können. (Es gibt angeblich bspw. wo Haydn eine traditionelle Melodie "volkstümlicher" machte, als sie überliefert war, durch Einfügen von "Zigeunerintervallen" u.ä.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Alfreds "Provokation" zielte auf Wien, nicht auf Folkloristik im Allgemeinen.
    Wo ist der Unterschied, selbst wenn wir uns nur auf KuK-Terrain bewegen, zu, sagen wir, Linzer Takt, Grazer Herz oder Salzburger Charme? :D
    Was ist die Wienerische Note?




    audiamus

  • Zitat

    Original von Zwielicht


    Intuitiv bin ich mir fast sicher, dass in irgendeinem Wiener Kaffeehaus bereits jetzt hippe Kaffeehausmusik aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gespielt wird :D.
    Persönlich kenne ich nur das gelegentliche Gefiedel im Bräunerhof und den Klavierspieler im Diglas... :untertauch:


    Hier könnte vielleicht Monsieur l’Observateur weiterhelfen...


    vielen dank für die ehrenvolle zumutung :wacky:


    aber: keine zeit zur zeit.
    ich befinde mich in den phorfasen des anfluges auf innsbruck, um mir am wochenende die liveaufführung nebst proben von schoonderwoerds tamino hit cd zu genehmigen.


    vielleicht nächste woche...

  • Hallo!


    Also was an Schuberts Sinfonien jetzt speziell "Wienerisch" sein soll, ist mir nicht ganz klar!? Wie der Zufall es will, habe ich heute im Auto folgende Schubertsinfonien gehört - und dabei nicht einmal an Wien gedacht, obschon ich das allweil sehr gerne tue:



    Franz Schubert [1797-1828]


    Sinfonie Nr. 4 c-moll
    Sinfonie Nr. 2 B-Dur
    Sinfonie Nr. 6 C-Dur
    Sinfonie Nr. 7 h-moll


    Anima Eterna
    Jos van Immerseel


    Durch diese Kombination wurde mir folgendes Bewusst: Die 2te ist mir weitaus dramatischer als die "Tragische" [Anm. für Werkbeinamenignoranten: gemeint ist die 4te]. Zudem erschien mir gerade die 2te kompositorisch weitaus wagemutiger als die ihr folgenden einschließlich der 5ten inkl. der vorangegangenen, was aber nicht weiter tragisch ist und jeder Dramatik entbehrt. Die 6te ist schon ein deutlicher Hinweis auf die "Große" [Anm. für Werkbeinamenignoranten: 8te, oder nach alter Phantomzählung: 9te] und trägt daher mit Blickwinkel auf ebenjene den Werkbeinamen "Kleine" - mir ist nun klar - auch, wenn ich es nach dem Genuß der "Unvollendeten" [Anm. für Werkbeinamenignoranten: 7te, oder nach Phantomzählung: 8te] nicht verstehe - was Schubert sinfonisch erreichen wollte. Darum ließ er wohl leider die "Unvollendete" links liegen und unvollendet.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo, Ulli!


    Zitat

    Original von Ulli
    Durch diese Kombination wurde mir folgendes Bewusst: Die 2te ist mir weitaus dramatischer als die "Tragische" [Anm. für Werkbeinamenignoranten: gemeint ist die 4te].


    Die Vierte halte ich ebenfalls für relativ untragisch (daher mag ich den Beinamen hier gar nicht) - oder vielleicht so, wie sich ein Teenager (Schubert war 19) Tragik vorstellen mag...
    Aber Schubert hat ja später eine wirklich tragische Symphonie (wenn auch nur zur Hälfte) komponiert...
    Gegen die Beinamen "Unvollendete" und "Große" habe ich übrigens nichts einzuwenden und verwende sie auch selbst, denn sie passen ja auch bestens zu den Werken.
    Die Symphonien Nr. 1,2 und 3 sind mir übrigens recht egal. Das mag auch (aber nicht nur) daran liegen, daß ich sie nur in der Goodman-Box besitze, die ich (bis auf die "Große") nicht mag.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Original von Pius
    Die Symphonien Nr. 1,2 und 3 sind mir übrigens recht egal. Das mag auch (aber nicht nur) daran liegen, daß ich sie nur in der Goodman-Box besitze, die ich (bis auf die "Große") nicht mag.


    Hallo Pius!


    Egal ist 88... Du bist aufgefordert, Immerseel zu verkosten! Klingt zwar auch nicht "wienerisch" - dafür aber wie närrisch...


    Davon abgesehen ist die "Große" bei Immerseel um ein paar Scherzotakte länger, die versehentlich mal von irgendeinem Dummkopf ausradiert wurden.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Es gibt aber auch Interpretationen, welche diese Eigenart (bewußt ?) unterdrücken, und die das "Schroffe" betonen, während das (zweifellos vorhandene) "Biedermeierliche" unterschlagen wird.
    ...
    Man kann allerding auch dagegen ankämpfen, indem man Schubert BEWUSST spröde spielt...


    Das hast Du, lieber Alfred, wie ich finde, sehr schön gesagt und damit zugleich des Pudels Kern getroffen.


    Als ich gestern in dem vor sich hin dümpelnden und zur Wiederaufnahme anstehenden Fred zur 6. Sinfonie blätterte, fragte ich mich sehr ernsthaft, wie es denn kommen könne, dass diese ganz wundervolle Sinfonie seit Jahren kaum Interessenten findet. Und legte mir dazu die Aufnahme mit The Classical Band unter Bruno Weil (1991 bei Sony) auf ... und wieder einmal war ich hingerissen von Schubert und von seiner Sechsten.


    Tja, ist schon seltsam, dass "die Kleine" eine nur so kleckernde Resonanz erfährt in unserem Kreis. Wie kommt's? Ist sie womöglich doch zu klein??? :stumm: Oder sagt uns Schubert heute nichts mehr? Ist seine Musik schlicht zu langweilig, um noch gehört zu werden??? :stumm: Wissend, dass mein eigener Rezeptionsverlauf mehr über mich selbst als über die konkrete Musik oder die mit ihr im Einzelfall verbundene Interpretation aussagt, habe ich mir dann doch angeschaut, wie ich zu Schubert und von ihm weg und wieder zu ihm zurück gekommen bin.


    Es sei fern von mir, welcher/m HimmelpfortgrunderIn oder sonstigen WienerIn auch immer auf den Schlips oder die Füße zu treten, aber Tatsache ist: Ich habe Schubert kennengelernt in den Aufnahmen unter Böhm, und das wars dann auch für Jahrzehnte. Ich habe einen Riesenbogen geschlagen um alle Schubert-Sinfonik. Schubert mit Böhm ist wie Mozart mit Böhm. Sweety, bieder bis zum abwinken, langweilig und die Leute - pardon, ich meine natürlich: mich - vergraulend. Verkleinert und reduziert auf den niedlichen Aspekt, alle Zähne gezogen, aller Lebenskonflikte und -schmerzen beraubt, die Schuberts Leben doch genauso ausgemacht haben. - Beschwerden über diese Darstellung bitte nicht an mich, sondern ;) schriftlich mit Durchschrift für dieses Forum an Herrn Dr. iur. utr. Karl Böhm sel., Postlagernd Hauptpostamt Wien, Österreich zur nimmermaligen Abholung ;) -. Ich habe dem nie etwas positives abgewinnen können, für mich einfach nur zum Weglaufen. Die Unvollendete, was für ein Schmalz, die Große, was für Bandwurm, von wegen himmlisch ...


    Zur Klarstellung: Ich schildere hier aus subjektiver Erfahrungssicht den Ablauf ausschließlich meiner eigenen Schubert-Rezeption; das Vorkommen von Namen natürlicher Personen oder von Städtenamen ist rein zufällig und ausschließlich dem Gegenstand geschuldet. Insbesondere beabsichtige ich in keinster Weise, jedwede Person oder Ansicht zu diskreditieren oder in sonstiger Art und Weise "böse" zu sein. Fakt ist: es ist wie's ist. Auch mein Verhältnis zu Böhm - in seiner Eigenschaft als Musiker (!) - ist längst im Reinen, seit ich seine Einspielungen von Strauss' Elektra und Salome kennen- und schätzen lernte.


    Ein Kritiker hat mir dann Gutes getan, indem er mich auf MacKerras' erste Einspielung der Großen mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment hinweis. Das Wagnis ging ich ein, und plötzlich war Schubert für mich nicht mehr Persona non grata: Was für eine spannende, großartige Musik. Da steckte in dieser Partitur offenbar eine ganze Welt, die bis dahin vor mir versteckt gehalten worden war. Dann hörte ich MacKerras in seiner zweiten Einspielung der Großen mit dem Scottish Chamber Orchestra, diesmal mit modernen Instrumenten, aber noch pointierter, klarer herausgearbeitet, und ebenso die Unvollendete spielend: die schien ich erstmals ein wenig zu verstehen, und ich mochte sie sofort. Später lernet ich die Gesamteinspielung mit Anima Eterna unter Jos van Immerseel kennen, und dies ist der Schubert meiner Wahl geblieben. Da entfaltet sich Schuberts Musik vor mir mit all ihren Schönheiten und fließenden Melodien, ihrer Anmut, ihrem Tänzerischen, diese Musiker verbergen aber auch nicht die Ecken und Kanten dieser Partituren vor mir. Diese Vollständigkeit der Interpretation ist eine Frage der Glaubwürdigkeit.


    Trotz der Ecken und Kanten des Lebens und dieser Partituren ist das nun gar keine Musik von Traurigkeit =) . Es ist ja kein Zufall, dass keine der Sinfonien Schuberts einen langsamen Satz hat: Andante und Andante con moto sind die zweiten Sätze jeweils überschrieben, in der dritten Sinfonie sogar Allegretto. Lediglich die Einleitungen zu den ersten Sätzen sind langsam: 1. Adagio, 2. Largo, 3. Adagio maestoso, 6. Adagio. Bei der Großen ist das Andante, bei der 4. Andante molto. Das ist Musik, die ihren Abstand zu Weltschmerz und Traurigkeit zelebriert - jedenfall in den ersten sechsen, bei Großer und Unvollendeter mag man das differenziert betrachten, was aber nichts daran ändert, dass diese Sinfonien immer wieder eine heilende Wirkung auf meine verwundete Seele haben: sie sind eben selbst recht heil. Hierin sind sie für mich den Sinfonien Mozarts recht nahe, da zeigt für mich auch wieder, dass Schubert der Wiener Klassik viel näher ist, als Beethoven es je war - und zugleich fern der Romantik (bitte auch hier wieder unter allem Vorbehalt gegenüber der Großen und der Unvollendeten, die wiederum teilweise ganz anders gesehen werden können).


    Die Sechste ist vielleicht die biedermeierlichste von den ersten sechs, dies sind bestimmte Wendungen, die immer wieder auftauchen, es ist der vierte Satz im besonderen, die mir besonders wienerisch vorkommen. Bruno Weil arbeitet das sehr schön heraus, ohne aber zugleich die dramatischen Aspekte unter den Tisch zu kehren. Van Immerseel wiederum betont eher die Dramatik, das Zügige, die männlichen Elemente, das Wienerische bleibt bei ihm nur dem letzten Satz vorbehalten, in dem der Biedermeier auskomponiert seine Urständ feiert. Die Fünfte hat demgegenüber in meinen Ohren wenig Wienerisches an sich, sie ist eine vor allem in den ersten drei Sätzen dramatische Sinfonie, und Weil wie van Immerseel verdeutlichen das sehr schön.


    Was ist dann also das Wienerische, das Biedermeierliche nun, was nun übrig bleibt bei Schubert. Es ist zunächst nicht zu verwechseln mit Wein, Weib und Gesang, mit Wiener-Walzer-Seligkeit. Diese haben Harnoncourt, Carlos Kleiber und andere an anderer Stelle schon richtiggestellt. Es könnte das sein, was übrig bleibt, wenn man die Interpretation von Drama, Spannung, Ecken und Kanten entkleidet. Aber bitte schön: Als seine Fünfte 1816 uraufgeführt wurde, war der Franzl grad mal 19, anderthalb Jahre später kam seine Sechste dran. Die Verlage lehnten seine Musik ab, Ljubljana lehnte seine Kapellmeisterbewerbung ab, er war einkommenslos und wurde von Freunden unterhalten, seine Zuckerkrankheit war seit der Jugend manifest, verursachte ständige Stimmungsschwankungen - sollte der Mann wirklich keine anderen Sorgen gehabt haben, als immer hübsch wienerisch und biedermeierlich zu bleiben ?( ?( ?( Irgendwo mussten die Konflikte doch hin, also wohl in seine Sinfonien.


    Vielleicht macht mir als Rheinländer mit ostpreussischen und schlesischen Wurzeln das rein Wienerisch-Biedermeierliche ja eine Riesenangst, so dass Böhm mich verschreckte. Aber authentisch, glaubwürdig klingt es für mich nun mal nur dann, wenn diese Lebenskonflikte Schuberts, die er ja ganz offensichtlich in die Partituren hineingeschrieben hat, auch hörbar gemacht werden. Und dafür stehen nun einmal MacKerras, Weil und van Immerseel: sie lassen das Wienerische - die Anmut, den Tanz, die Leichtigkeit - zu, wo Schubert es hinein komponiert hat (der eine mehr, der andere weniger), sie lassen mich das Drama, das Packende, des Lebens Härte hören, wie Schubert sie ebenfalls hineinkomponiert hat.


    Liebe Grüße, Ulrich

  • Hier sieht man den Konflikt Österreich (Wien ?)- Deutschland.
    Ich glaube daß hierzulande niemand "Abgründe" hören will, wenn er Schubert (oder Mozart) hört - von Ausnahmen mal abgesehen.


    Karl Böhm ist für mich bis heute das Maß aller Dinge.
    Ich empfinde die heute üblichen Interpretationen als Vergewaltigung Schuberts. Das ist an sich nichts Neues. Schon in den siebziger Jahren jubelten die Kritiker in den Deutschen Klassikzeitschriften, wenn irgendwer ein Werk so interpretierte, daß die konstruktiven Strukturen freilagen.


    Solche Aufnahmen habe ich stets gemieden wie die Pest - und ich habe bewusst auf solche Aufnahmen zugegriffen, die die deutschen Kritiker verrissen haben (Beispielsweise Holzmairs Einspielungen von Schubert-Liedern)- und dabei bin ich stets gut gefahren.


    Zum Vergleich - Wenn ich mich in einen schönen Menschen verliebe, dann will ich doch nicht sein Skelett sehen - auch nicht seine inneren Spannungen. Es genügt wenn er schön ist (ein Anspruch dem ich leider heute leider nicht mehr erfülle)


    Hier der Auszug aus einem Wiener Konzertführer - die 9. Schubert betreffend:
    (ich zähle nach der alten Zählung)


    "Ungetrübte Frühlingsstimmung, dämmriger Wald mit ahnungsvollem Schaudern vor geheimnisvollen Erlebnissen, und wieder sonnenhelle Landschaft......


    ....das Finale wird zum rauschenden Frühlingsfest in dem ein melodischer Einfall den anderen ablöst und überbietet und jeder zügellos breit verströmz bis zum sieghaften Schlußakkord"


    Die Karl Böhm aufnahmen wurden in diesem Führer wärmstens empfohlen
    "Kongeniale Nachschöpfung"


    Ich wollte an dieser Stelle zeigen (was eigenlich der Sinn des gesamten Threads ist) wie UNTERSCHIEDLICH Schubert bewertet wird.
    Und natürlich wie "unwienerisch" er gelegentlich - nein eigentlich schon regelmäßig - interpretiert wird.


    Das ist auch der Grund, meine Beiträge seit Jahren mit "aus Wien" zu signieren - ich möchte damit sagen: Vorsicht bei meinen Empfehlungen - Ich ticke anders als Ihr :P


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Also ich persönlich hätte an manchen Stellen der 2. und 3. wo die Rythmik dominierend ist eher an einen italienisch angehauchten Stil gedacht. Man könnte zwar eine mögliche Beeinflussung der Musik Rossinis hineininterpretieren, aber dieser hatte laut meiner Schubert-Biographie erst 1816 erste Aufführungen seiner Opern ("L´inganno felice" und "Tancredi") beim Theater a.d. Wien (in deutscher Übersetzung) wobei man vermutet das Schubert möglicherweise Tancredi gesehn hat. 1817 waren dann Rossinis Opern in Wien das, was man heute unter "Hype" bezeichnen würde. ;)
    (Die 2. wurde jedenfalls schon zuvor 1814 die 3. 1815 geschrieben.)


    Die Biographie von Malte Korff meint dazu


    "...unter diesem Einfluss entstehen die 6.Sinfonie C-Dur und die beiden Ouvertüren "im italienischen Stil". Brillanz und Geschmeidigkeit stehen in der 6. vornan, doch die Kunst der motivischen Arbeit, die imitatorische Verwebung der Motive zu immer ausgeweiteterer Klangfülle gehen schon weit über Rossini hinaus. Der Geist des Italieners ist besonders in den Sätzen 2 und 4 spürbar, sowohl in der Struktur (Ouvertürenform A-B-A-B) sowie Melodiebildung und Instrumentierung,"


    (übrigens werden auch im booklet der Sinfonien unter Harnoncourt wo es sehr ausführliche Beschreibungen zu jeder Sinfonie gibt Stilistiken v. Rossini
    im Zusammenhang mit der 6. erläutert)


    Die Ouvertüren sollten übrigens nach einer Wette entstanden sein indem Schubert nach Tancredi zu seinen Freunden gemeint haben soll ähnliche Ouvertüren leicht innerhalb kürzester Zeit schreiben zu können.


    Schubert äußerte sich einmal nach einer Vorstellung v. Otello: "Außerordentliches Genie kann man ihm nicht absprechen. Die Instrumentation ist manchmal höchst originell, auch der Gesang ist es manchmal, außer den gewöhnlich italienischen Galoppaden und mehreren Reminiszenzen aus Tancred".


    Ich persönlich höre die meisten Anlänge zur traditionellen Wiener Klassik in der 5., eine für mich fast schon rückwärtsgewandte Sinfonie wenn man das
    bei der Jahreszahl von 1816 sagen kann, die aber auch schon für diese Zeit ungewöhnlich ausgewogene Proportionen hat bzw. zwiemlich kompakt und konventionell wirkt, einige Stilmittel und Anlagen von Kompositionsformen einiger Jahrzehnte zuvor zurückgreifen.


    Man könnte jetzt auch natürlich ins Spiel bringen inwieweit Salieri und Michael Holzer prägend für seinen Stil waren, inwieweit auch Ungarische Einflüsse (die er weniger in den Sinfonien aber des öfteren in der Kammer- und Klaviermusik hatte) eine Rolle in seinen Werken spielen. Im 2.Satz der 9. höre ich jedenfalls weniger Wienerisches sondern eher eine Mischung aus Ungarisch/Italienisch angehauchter Melancholie und Temperament, wobei das vielleicht nur ich so empfinden mag.


    gruß
    Thomas

    „Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein.” (Marie von Ebner-Eschenbach)

  • Der von Thomas erwähnte Rossini-Einfluß ist mir ebenfalls aus der Literatur, besonders im Bezug auf die 6. geläufig.


    Insgesamt kann man die ersten 6 Sinfonien zu Recht als "klassizistisch" bezeichnen. Sie orientieren sich an Haydn und Mozart, sind aber sehr viel lockerer aufgebaut. Ich stimme ebenfalls zu, dass die 5. diese Einflüsse am deutlichsten zeigt. (Vielleicht deshalb und auch ihrer Überpräsenz wegen, kann ich sie kaum mehr hören, obwohl sie möglicherweise die gelungenste der frühen ist.)
    Bei der 4. teile ich ebenfalls den schon geäußerten Eindruck, dass das "Tragische" hier oft wie ein Versuch, die entsprechenden Topoi zu erfüllen, wirkt, man aber diese Tragik (gerade auch angesichts der wirklich tragischen Werke wie der h-moll-Sinf. oder des d-moll-Quartetts) nicht so ganz ernst nehmen kann (dennoch gefallen mir besonders die Mittelsätze sehr gut)

    Dei 6. scheint die unbeliebteste der frühen zu sein. Ich mag sie ganz gern, kann das aber nachvollziehen; hier ist teils schon ein wenig mehr Beethoven, aber eben auch Rossini dabei, das Ganze gibt eine kuriose Mischung (in der ich selbst sehr wenig als "wienerisch" höre).
    Bei all dem darf man nicht vergessen, dass es sich um Werke eines 16-20jährigen Komponisten handelt. Trotz aller Frühreife ist ein teils sehr enges Anlehnen an Musterbeispiele (wie in der 5., wo das Menuett irgendwie aus Menuett und Finale von Mozarts 40. gebastelt ist, nur viel harmloser und das Finale so nach Haydn klingt, wie keine andere der frühen) und ein Experimentieren in Richtungen, die dann beim "reifen Schubert" kaum eine Rolle mehr spielten (4. u. v.a. die 6.) ganz selbstverständlich.


    (Mein Favorit unter den frühen ist inzwischen recht deutlich #3 geworden)


    Das geht aber eigentlich vom Thema ab, abgesehen davon, dass deutlich wird, dass man vorsichtig sein sollte, diese Stücke mit ihren unterschiedlichen Einflüssen als typisch wienerisch einzuordnen. (Die beiden späten sind eh viel zu kühn und originell, dass das funktionieren könnte. Außer im Trio von 9, vielleicht dem Seitenthema in 8, i und den "walzernden" Stellen in 8,ii, die aber gerade in traditionellen Interpretationen kaum so herauskommen, weil das zügige andante in 3/8-takt zu langsam genommen wird).


    Hinweise auf Stellen in den Sinfonien, die man als besonders "wienerisch" hören könnte, würden mich interessieren.


    Zu Interpretationen will ich nicht viel sagen; ich kenne Böhms nicht, halte ihn aber seit langem für einen viel besseren Dirigenten bei Brahms, Wagner, vermutlich auch Bruckner und R. Strauss als bei Haydn, Mozart, Beethoven.


    Sehr gerne mag ich (trotz einiger fehlender Wdh.) die gnadenlos brillanten Lesarten des jungen Maazel (Berliner Phil um 1960 aufg., leider ohne 1&9), die die Energie und Frische dieser Werke wunderbar einfangen, ohne falsche (oder richtige ;)) Gemütlichkeit. Noch "drahtiger" ist Markevitchs Mono-Aufnahme von 3&4.


    Wie weiter oben im thread schon gesagt, höre ich Wienerische/Kaffehausmäßiges viel eher in einiger Kammer- und Klaviermusik: Viele Trios von Scherzi (sogar noch D 887, wo es freilich wie eine einsame Insel in einer Art Totentanz wirkt), das Finale vom Forellenquintett, vom B-Dur-Trio, in einigen Klaviersonaten. Auch das Finale des Streichquintetts (hier enspricht das Trio des Scherzos eher der suizidalen fin-de-siecle-Tristesse 70 Jahre später, freilich ohne jede décadence) ist so eine Art Kaffehausmusik am Abgrund ;)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Lieber Alfred,


    Zitat

    Hier sieht man den Konflikt Österreich (Wien ?)- Deutschland. Ich glaube daß hierzulande niemand "Abgründe" hören will, wenn er Schubert (oder Mozart) hört - von Ausnahmen mal abgesehen.


    als ich mich auf mein rheinisch-schlesisch-ostpreußisches Herkommen bezog, meinte ich das eigentlich als reinen selbstironischen Scherz: Ich habe nicht die Vermutung, dass Herkunft oder Wohnort irgendetwas damit zu tun haben könnten, wie wie - Du oder ich oder wer auch immer - nun Schubert, Mozart, Beethoven oder sonst wen gerne gespielt hören.


    So mag ich auch nicht annehmen, dass der Wohn- oder Geburtsort des einen oder anderen Kritikers oder auch einfach Musikhörers diesseits oder jenseits der österreichisch-deutschen, deutsch-niederländischen oder sonstigen Grenze relevant ist dafür, ob bei Schubert der Vorzug an Karl Böhm oder an Jos van Immerseel fällt. Fairy Queen hat an anderer Stelle auf die zunehmende Relativierung derartiger Standortmerkmale im Zeichen des bereits weitgehend vorangeschrittenen Zusammenwachsens innnerhalb Europas hingewiesen. Ob sich Deine Sichtweise demgegenüber durchsetzen wird, die EU werde eines Tags samt Europahymne wieder abgeschafft, bleibt einfach abzuwarten. Aber ohne jede Rücksicht auf derartige politische Entwicklungen wird es doch trotzdem weiterhin voneinander verschiedene Interpretationsweisen geben.


    Die Einflüsse Rossinis, auf die JR und Thomas hingewiesen haben, waren mir gar nicht bewusst, habe ich auch nicht gehört, das Herkommen dieses jugendlichen Schubert aus der Klassik hingegen sehr. Anders als JR vermeine ich, im letzten Satz der Sechsten sehr deutlich Wienerisches zu hören. Die Unvollendete ist für mich ein Füllhorn des Wienerischen - wenn man es denn zulässt und diese Anteile interpretatorisch ausspielt.


    Wenn es aber, worauf Du auch hinweist, ganz entscheidend davon abhängt, welcher Musiker mit welcher Intention die Musik interpretiert - ob er also das Wienerische zulässt bzw. herausarbeitet oder Schubert vergewaltigt, wie Du schreibst, scheint mir das doch ein recht starkes Indiz dafür zu sein, dass Schubert das Wienerische nicht in seine Musik hineinkomponiert hat, dass es sich nicht aus dem Notentext ergibt (abgesehen vielleicht vom vierten Satz der Sechsten).


    Wir haben ja in diesem Fred ganz erhebliche Definitionsschwierigkeiten: Was ist es denn nun, das Wienerische in der Musik? Was macht den Biedermeier in der Musik aus? Gibt es denn Hinweise darauf, dass in der Epoche, in der Schubert gelebt hat, etwas Wienerisches beim Musizieren auftauchte, was nicht in den Noten stand - also etwas, was beispielsweise dem in der tradierten Aufführungspraxis wienspezifisch betonten Dreiertakt im Wiener Walzer entspricht -?


    Hat jemand hierzu Hintergrundkenntnisse und kann dazu etwas berichten?


    Lieber Alfred, Du stehst doch mit Deinem Vorzug für Karl Böhm nicht allein da. Michael Jameson bei ClassicsToday sieht zwar bei Harnoncourt die Referenz, bewertet aber Böhms Schubert-Gesamtaufnahme mit den Berlinern musikalisch mit 9 von 10 und streicht besonders die Unvollendete sowie die Zweite und Fünfte positiv heraus, David Hurwitz schätzt die Große unter Böhm mit der Staatskapelle Dresden hoch ein. Gramophone listet mehrere Mozart-Aufnahmen Böhms bei Recommended Recordings, äußert sich zu der Schubert-Sinfonien-GA sehr positiv, ganz im Gegensatz zu derjenigen Harnoncourts, die voller irritierender Seltsamkeiten sei. John Quinn bei Musicweb-International verortet die im Berliner Zyklus enthaltenen Aufnahmen der Unvollendeten und der Großen unter den besten vorliegenden Aufnahmen. Undsoweiter ...


    Soll heißen: Auch außerhalb Österreichs ist Böhm anerkannt und geschätzt, auch als Mozart- und Schubert-Dirigent. Und dass dies bei deutschen Hörern und Kritikern nicht anders aussieht, ist gewiss. Meine Theorie ist dann aber eher, dass die Anteile der Böhm-Befürworter im Verhältnis zu den Fans anderer Dirigenten sich europa- oder gar weltweit mehr oder weniger gleichmäßig verteilen sollten - naja, mal abgesehen vielleicht vom ganz natürlich verstärkenden Faktor eines gewissen Lokalpatriotismus. Statistische Erhebungen hierzu wären hochinteressant und werden ausdrücklich erbeten.


    Oder gehst Du andererseits ernsthaft davon aus, es gebe einen alle (musikhörenden) Österreicher vereinenden Konsens, der den Anteil derjenigen Österreicher, die ihren Schubert mit Kanten, Ecken und Konflikten hören möchten, mit den Abgründen, die Schubert nun einmal hineinkomponiert hat, auf ein Minimum herabdrückt, das sich von dem entsprechenden Bevölkerungsanteil in Deutschland oder den Niederlanden statistisch relevant unterscheidet?


    Was mich sehr interessieren würde ist natürlich die Auffassung der österreichischen Kritiker. Gibt es da irgendeinen Zugang? Oder müsste ich über die einzelnen Zeitungen gehen? Denn dieses von Dir beschriebene Phänomen, dass deutsche Kritiker die Freilegung konstruktiver Strukturen loben, während österreichische Kritiker ein solches musikalisches Vorgehen verurteilen, ist schon hochinteressant - mangels Kenntnis kann ich das gar nicht kommentieren, würde es aber schon gerne selbst beobachten.


    Wunderschön finde ich die von Dir zitierte Beschreibung zur Großen aus dem Wiener Konzertführer, das trifft schon die Bilder, die diese Musik entstehen lässt, sehr gut. Genau das finde ich auch ganz hervorragend und sehr farbenreich umgesetzt bei MacKerras (SCO) und van Immerseel. Obwohl wir alle, ein/e jede/r von uns, anders ticken als alle anderen, sind das doch letztlich die verbindenden Erlebnisebenen.


    Liebe Grüße, Ulrich

  • es sind jetzt audiamus' fragen dahingehend nicht beantwortet worden (=>non auditus est), dass dem typisch "wienerischen" stillschweigend attribute wie weich, freundlich, sonnig, beschwingt, bieder, -for crying out loud: GEMÜTLICH zugeordnet werden.


    das so insinuierte "wienerische" gibt es nicht, bzw. nur als projektion v.a. jener, die in süßem selbstbetrug im nachhinein daran glauben. und das kann sich dann schon eigendynamisch verselbständigen.
    (ähnlich übrigens dem widerständigen heldentum der tiroler)


    der forumsgründer und -betreiber ist ja selbst das beste beispiel:
    freundlich, verbindlich, schöngeistig
    - die seele: ein schwarzer abgrund!
    (ich persönlich glaub ja nicht an die seele, aber man wird verstehen, was ich meine...)
    und dass in abgründe zu schauen hierzulande nicht so beliebt ist, hat wohl damit zu tun, dass es oft die eigenen sind und zur folge, dass ein gewisser doktor freud sich genau an diesem ort entfalten konnte, ja musste...


    nachzuhören auch bei georg kreisler und helmut qualtinger.



    klischees lassen sich gut verkaufen.


    schöne oberfläche gibt es natürlich - bisweilen echt, oft ist sie nur schein.


    als ich vor über 30 jahren nach wien eingewandert bin, war die stadt noch weniger als tote hose. nicht einmal hose.
    von den perpetuierten selbstbestätigungsritualen der von alfred so geschätzten und unerreichbaren oberschicht einmal abgesehen war wien so attraktiv wie heute vielleicht sofia (aber ohne den wildost-faktor).
    inzwischen boomen wirtschaft, tourismus, kulturleben.
    v.a. mit hilfe von millionen italienern, die mit ihrer k.u.k-nostalgie wien in den 80ern wachgeküsst haben.


    subjektive nebenbemerkung: einer der wenigen wien-topoi, die ich gelten lasse, ist die "wiener wehmut", eine para- und selten, aber doch praesuizidale existenzäußerung.
    und die höre ich in mehr als jedem 2. schubertstück.


    @ doppelscheinwerfer:
    in den kaffeehäusern tut sich auch fast nichts, außer, wenn tastenwolf spielt... ;)
    im übrigen: johann strauß rulez!
    aber alles kitsch!


    :beatnik:

  • Es ist ja schon lustig wie Obsi (Ich weiß- (oder besser gesagt: der Abgrund meiner Seele weiß das - er LIEBT diesen Namen) Wien sieht.


    In einem Punkt pflichte ich ihm allerdings bei: Die "Wiener Gemütlichkeit" ist nur OBERFLÄCHLICH.


    Aber letztlich ist ja alles was uns umgibt nur oberflächlich: Auch unter der Haut des schönsten Menschen lauert ein ekelhaft aussehendes Skelett - aber letztlich wollen wir das nicht sehen.


    Und natürlich ist das Verbindliche nur eine Maske: Der Wiener ist eher melancholisch, raunzend -mürrisch - hierin dem Münchner nicht unähnlich - mit dem ihn aber auch der Hang zur Gemütlichkeit verbindet.


    Und nachdem ich das geschrieben habe, weiß ich auch was eine Schubert Sinfonie niemals sein sollte: Schroff. Ein Hauch von Wiener Walzer darf aber schon mitschwingen. Und eine gewisse biedermeierliche Grundstimmung.


    Ein besonders abschreckendes Beispiel sind meiner Meinung nach die Aufnahmen der Hannover Band unter Roy Goodman - ursprünglich für Nimbus eingespielt - nun bei Brillant in Lizenz zu haben.
    Das Klangbild ist exorbitant hallig, schrill und dumpf zugleich- manchmal gehen Feinheiten im Mulm verloren - von Klassischer Ausgewogenheit kan hier keine Rede sein .....


    Leider - es muß gesagt werden ist kaum eine Aufnahme optimal, Schuberts Sinfonien dürften schwieriger zufriedenstellend realisisert werden können als beispielsweise jene von Beethoven.....



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo,


    ich sehe zwischen Franz Schubert und Gustav Mahler eine [musikalische] Parallele: Schuberts Werke sind allesamt [also nicht nur die Sinfonien] sehr persönlich und gelegentlich schimmert da etwas sogenanntes Wienerisches durch - beispielsweise in Form einer luftigen Walzermelodie [das ist meine Definition von "Wienerisch"]. Diese aber wird ganz Steven-King-like oftmals ins Schauderhafte bis Grauenerregende verkehrt, um dann aber doch ein lieto fine zu finden. Ganz ähnlich ist das ja auch bei Gustav Mahler [in seinen Sinfonien], hier nur oftmals bis zur Groteske überspritzt, was Schubert nicht tut.


    Ich bin übrigens mit der Immerseel/Anima Eterna Edition der gesamten Sinfonien sehr zufrieden.



    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Ulli
    ich sehe zwischen Franz Schubert und Gustav Mahler eine [musikalische] Parallele: Schuberts Werke sind allesamt [also nicht nur die Sinfonien] sehr persönlich und gelegentlich schimmert da etwas sogenanntes Wienerisches durch - beispielsweise in Form einer luftigen Walzermelodie [das ist meine Definition von "Wienerisch"].


    Ich muß gestehen, dass ich die Sinfonien 1-6 nicht besonders persönlich finde. Auf die eindeutigen Vorbilder und Einflüsse wurde ja schon hingewiesen. Angesichts der frühen Entstehung sind sie natürlich verglichen mit bloßen Gesellenstücken durchaus "persönlich" (verglichen mit den viel früheren frühen Quartetten auch wieder nicht). Aber verglichen mit Mahler? :no:


    Zitat


    Diese aber wird ganz Steven-King-like oftmals ins Schauderhafte bis Grauenerregende verkehrt, um dann aber doch ein lieto fine zu finden. Ganz ähnlich ist das ja auch bei Gustav Mahler [in seinen Sinfonien], hier nur oftmals bis zur Groteske überspritzt, was Schubert nicht tut.


    Mit fällt in Schuberts Sinfonien genau eine Stelle ein, wo etwas ins Schauderhafte verkehrt wird: die grotesken Fanfaren am Höhepunkt des Andantes der großen C-Dur. Mit Mühe könnte man vielleicht noch was aus dem Kopfsatz der h-moll oder das "Festfahren" an einigen Punkten im Finale der "Großen" (Frühlingsfest... :rolleyes: ) finden. Aber sonst?


    Den Schubert der "schwarzen Romantik" wie in Doppelgänger, Fahrt zum Hades, andante von D 959, Tod&Mädchen usw., wo ich auch klare Parallelen zu Mahler sehe, trifft man in den frühen Sinfonien noch nicht...


    Und die "dunkle Seite", die man vielleicht mit dem zynischen Geist des Wiener Fin de Siecle verbindet (das sind halt so die Wienerisch-Klischees im Norden), finde ich bei Schubert erst recht nicht. Fast immer ignoriert er Ironie ("Atlas" u.a. Heine-Lieder werden todernst genommen), oder sie ist offensichtlich durchschaubar (die liebe/böse Farbe). Die zynische Distanz von Schnitzler oder wem auch immer hundert Jahre später ist Schubert völlig fern.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Es ist ja schon lustig wie Obsi (Ich weiß- (oder besser gesagt: der Abgrund meiner Seele weiß das - er LIEBT diesen Namen) Wien sieht.


    hähä, die alten reflexe funktionieren noch...

  • Zitat

    Original von Alfred Schmidt
    Ein besonders abschreckendes Beispiel sind meiner Meinung nach die Aufnahmen der Hannover Band unter Roy Goodman - ursprünglich für Nimbus eingespielt - nun bei Brillant in Lizenz zu haben.
    Das Klangbild ist exorbitant hallig, schrill und dumpf zugleich- manchmal gehen Feinheiten im Mulm verloren - von Klassischer Ausgewogenheit kann hier keine Rede sein .....


    Es ist ja interessant, daß die »deutsch-österreichische Differenz« ;) im Falle der Schubert-Symphonien gerade anhand der Interpretation eines Engländers augenfällig wird – aber so ist das wohl. Für mein eingedeutscht wallonisch-ostfriesisches Geschmacksempfinden sind nämlich die Hanover Band/Goodman- Einspielungen der Schubert Symphonien geradezu ideal. Wobei ich zunächst mal zustimmen muß: Die Aufnahmen sind exorbitant verhallt, was daran liegt, daß man die Symphonien in einem Kirchenraum eingespielt hat (Gott weiß, welcher Teufel da die Tontechniker geritten haben mag) - aber immerhin ist der Hall natürlich. Als dumpf empfinde ich das Klangbild aber keineswegs, eher schon als grollend und schrill (das Blech schrillt ganz gehörig) und in jedem Fall als kantig und schroff. Jedenfalls werden bei Goodman einige/viele Scharfkantigkeiten und Abgründe dieser Musik hör- und fühlbar, die in vielen anderen mir bekannten Einspielungen (von Böhm bis Muti - und leider auch ein wenig bei Brüggen und Immerseel) rundgeschliffen und abgefedert sind.


    Klassische Ausgewogenheit findet man hier tatsächlich kaum, eher (und wie mir scheint auch passend) postklassisch-frühromantische Unausgewogenheit.


    Das muß man sicherlich nicht mögen (man muß es sich ja auch nicht unbedingt anhören, da der Plattenmarkt nicht gerade arm an Einspielungen der Schubert-Symphonien ist), mir aber gefällt das ganz außerordentlich und öffnet einen IMO recht interessanten Blick auf die Partituren.


    Ganz herzlich,
    Medard