Meine Lieben
Ich gestehe, dass mich die hip-as-hip-can-Keilerei, wie sie im Moment durch das Forum rasselt, nicht sonderlich interessiert, wohl aber der Zusammenhang zwischen Partitur und Execution, zwischen Idee und Realisierung.
Ist die Partitur ein Gesetzestext oder eine Art Rezept?
Beim Lesen eines Kochrezepts mag einem das Wasser im Mund zusammenlaufen aber essen kann man das Rezept nicht (ausser es ist aus Reispapier).
Köchin X transponiert die Rezept-Idee in die Materie hinein, à la facon de la patronne!
Klar, dass Koch Y dasselbe Rezept à la facon du patron realisieren wird, und mit den gleichen Zutaten ein anderes Resultat aufs Teller zaubert.
Nicht einmal der Rezept-Erfinder wird zweimal das gleiche Resultat herstellen können.
Das Rezept ist ja nicht ein Gesetztestext sondern eine Wegbeschreibung.
Parallelen mit dem Musikbetrieb sind rein zufällig...und ich neige zu einer durchaus überdrehten Folgerung:
Dass Zinman seinen Beethoven nach der neuen Del Mar-Ausgabe spielen lässt, mag aus gesetzteshüterischer Sicht vorbildlich sein, aber es macht seine Interpretationen nicht wesentlicher, sondern liefert vor allem ein musikwissenschaftlich abgesegnetes Argument für die neunundneunzigste Gesamtaufnahme.
Weshalb wurde in unserem Kulturkreis die textgetreue Interpretation ein solches Dogma?
Weshalb hat neben dem legitimen, aber starren (für viele Leute notwendigen, weil stabilisierenden) Dogma der Texttreue in der sog. E- Musik nicht auch eine Prise improvisatorische „Leichtigkeit des Seins“ ihren Platz, so nach dem Motto:
Hier ist das Rezept für ein „Tournedot „Eroica“ à la Ludwig van“, und jetzt, lieber Diri-koch, mach was EIGENES draus: leg etwas Schlagzeugpfeffer unter das Streicher-Fleisch, verdopple die Hörner durch ein Saxophonquartett..., ersetze die Reprise durch einen neukomponierten Schluss, usw. Mach einfach was Leckeres draus, mach uns Freude mit deiner Fantasie und deinem dir zur Verfügung stehenden Material.
Ich weiss, die Gesetzeshüter werden sich die Haare rauffen. Aber Bach, Beethoven und Konsorten würden wohl lachen und wären stolz darauf, auch nach Jahrhunderten noch als Inspirationsquelle zu dienen, nicht nur als Executionsquelle.
Ich wünschte mir die interpretatorische Chuzpe für kreative Eingriffe in den Notentext im Sinne der Kochkunst:
„Tournedot „Eroica“ à la Ludwig van“:
vielleicht mal Lammfleisch statt Rind (Darmsaiten, statt Stahlsaiten),
mal Olivenöl statt Sonnenblumenöl (Mandolinen statt Harfen),
mal Pfeffer statt Muskatnuss (E-Bass, statt akustuscher Bass),
mal Kartoffelstock statt Pommes frites (Jazz-Combo statt Camerata)
mal Bocuse statt Biolek (Boosey and Hawkes statt Bärenreiter)
Und zudem: das „Tournedot „Eroica“ à la Ludwig van“ wird anders schmecken, je nach dem ob es
auf 80 Grad 2 Stunden lang köchelt (Klemperer),
auf 100 Grad eine Stunde lang schmort (Celi)
oder auf 150 Grad 15 Minuten kurz steamt (Zinman)
(Bitte das Geschreibsel zu später Stunde nicht ganz ernst nehmen!)
Jede Aufführung wäre ein Unikat und würde schonungslos den Geschmack und die Fantasie der KöchInnen offenlegen. Ueber solche "Uraufführungen" liesse sich trefflich diskutieren und die ganze Hip-Hopperei würde obsolet.
Dieser Wunsch nach kreativem und grosszügigem Umgang mit dem Rezept wird wohl kaum je erhört werden. Solch aufwändige Projekte scheitern am Mangel an Geld und Zeit, an den betonierten Hörgewohnheiten des Publikums, an den drohenden Bussenzetteln der wissenschaftlichen Ordnungshüter und an der Bequemlichkeit der ausführenden Musiker...
Um dies noch einmal klarzustellen: Ich würde mir wünschen, dass die „Erioca“ bei jeder Neuinszenierung wirklich anders klingt, je nach Bearbeitung durch den löffelschwingenden Koch: Es würde dann nicht mehr Beethovens: 3. Sinfonie erklingen (die als orthodoxe Interpretation ihr legitimes Aufführungsrecht behält) sondern quasi eine „Musik nach Beethovens Eroica“.
Solches habe ich bisher leider noch nicht erlebt. Ihr?
Man mag mich bitte jetzt nicht kloppen für meinen Proletarieranfall. Ich habe einfach wenig Verständnis für museale Musikverwaltung als Selbstzweck und würde gerne für mehr grandezza im Umgang mit den Noten-Bibeln plädieren.
Nun aber die konkrete Frage:
Habt Ihr Erfahrungen mit „Improvisierten Interpretationen“?
Wer kennt die Klavier-Improvisationen von Gabriela Montero?
Kennt ihr Werke, die wesentlich über eine orthodoxe Bearbeitung/Transkription (wie Liszt, Schönberg/Bach oder Schönberg/Brahms Klavierquartett g-moll) hinausgehen, also etwa
Hans Zehnders: „Winterreise, eine komponierte Interpretation“ oder
Rodion Shchedrins „Carmen-Suite“?
Liebi Grüessli aus Bern von
Walter