Liebe Taminen!
Nicht nur Karajan wird 100.
Auch ein stillerer Revolutionär ist dieses Jahr aus gleichem Anlass zu würdigen.
[tIMG]http://www.bach-cantatas.com/P…ler-Hugo-03.jpg;l;187;235[/tIMG]Hugo Distler wurde am 24.6. 1908 in Nürnberg als uneheliches Kind einer Schneiderin, die bald nach Amerika auswanderte, und eines Stuttgarter Fabrikanten geboren.
Das Kind wuchs unter wenig harmonischen Bedingungen bei seinen Großeltern – Opa war Viehhändler – auf, die ihm allerdings den Besuch des Gymnasiums sowie Unterricht im Klavierspiel und Musiktheorie ermöglichten.
Nach dem Abitur 1927 studierte er am Leipziger Konservatorium Tonsatz bei Hermann Grabner und Klavier bei Carl Adolf Martienssen, dann schloss sich ein Orgelstudium am Kirchenmusikalischen Institut Orgel beim Thomasorganisten Günther Ramin an.
Bereits 1931 übernahm Distler das Organistenamt an St. Jakobi in Lübeck. In der Hansestadt entstand ein wesentlicher Teil des kirchenmusikalischen Werks.
1933 heiratete er Waltraut Thienhaus. Die Familie bezeichnete Distler als »jene letzte und sicherste Sphäre, die wir heute haben müssen und uns zueignen, um überhaupt eine Existenzmöglichkeit zu haben.«
Im gleichen Jahr übernahm er einen Lehrauftrag an der Kirchenmusikhochschule Berlin-Spandau.
1937 wurde er als Dozent an die Württembergische Musikhochschule Stuttgart berufen und übernahm zudem die Leitung der Esslinger Singakademie.
Nachdem Distler bereits 1935 bei den Kasseler Musiktagen für Aufsehen gesorgt hatte, ereilte ihn ein Jahr nach der Aufführung seines »Mörike-Chorliederbuches« Op.19 beim »Fest der deutschen Chormusik« 1939 in Graz der Ruf als Professor an die Berliner Hochschule für Musik.
Zu dieser Zeit entstand auch seine Schrift „Funktionelle Harmonielehre“.
Ein halbes Jahr vor seinem Tod übernahm er in der Hauptstadt noch die Leitung des Staats- und Domchors, obwohl seine kompositorische Arbeit von den braunen Machthabern bereits als „entartet“ eingestuft worden war.
Zu dieser Zeit, da Berlin Ziel immer heftiger werdender Luftangriffe wurde, waren seine Frau und seine Kinder an die Ostsee evakuiert worden.
Aus der für den sensiblen Distler unerträglichen Isolation schrieb der Komponist an Waltraut:
»Weißt Du, in mir hockt dauernd jene nicht zu beschreibende Einsamkeit, das Gefühl, von allem und jedem getrennt zu sein.«
Der Tod mehrerer Freunde, Repressalien durch das Regime und die drohende Einberufung zum Wehrdienst ließen Distler schließlich kapitulieren. Obwohl er am vorherigen Tage den Bescheid über die Freistellung von der Wehrmacht erhalten hatte, steckte der seelisch und körperlich zerrüttete Künstler am 1. November 1942 seinen Kopf in den Gasofen seiner Wohnung. Seine Haushälterin, die ich durch Zufall kennen gelernt habe, fand den Leichnam.
Im Abschiedsbrief an seine Frau fanden sich folgende Zeilen:
»Ich habe nur noch eine Bitte in der Welt: Dass Du mir nicht zürnst. Wer weiß wie Du, welche Lebensangst in mir gesessen hat, seit ich lebe? Alles, was ich schaffte, stand unter diesem Zeichen.«
Hugo Distler ist beigesetzt in Stahnsdorf bei Potsdam.
Distler war, neben Ernst Pepping, Kurt Thomas, Johann Nepomuk David, Helmut Bornefeld und dem (allerdings nicht komponierenden) Thomaskantor Karl Straube Hauptprotagonist der deutschen Erneuerungsbewegung in der Evangelischen Kirchenmusik in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, die sich auch gegen die Anfeindungen solcher Institutionen wie dem „Reichsverband evangelischer Kirchenmusiker Deutschlands“ immer mehr durchsetzte.
Die Kirchenmusiker entdeckten die alte Musik und ihr Instrumentarium wieder – die ersten HIPs.
Sie kehrten zu den reformatorischen Liedern und zu den liturgischen Formen vor der Aufklärung zurück.
Kirchenmusikalische Erneuerung bedeutete für sie auch Abschied von einer Tradition, für die die Mendelssohnsche Wiederentdeckung und Aufführung der Matthäus-Passion mit einem gigantischen Besetzungsaufgebot einen Meilenstein dargestellt hatte.
Die Reformation der Reformierten beinhaltete somit Rückkehr zu einfachen linearen und polyphonen Strukturen in der Komposition sowie maßvolle Mittel bei der Aufführung.
So ist Distlers Musik gekennzeichnet durch unabhängige Linienführung in den einzelnen Stimmen zu Lasten einer vertrauten Harmonik, gleichsam physiologische - Atemzeichen sind integraler Bestandteil der Notation - Phrasierung, modale Skalen (irgendwo gibt’s einen Thread zu den Kirchentonarten), pentatonische Elemente, häufige Taktwechsel und Polyrhythmik.
So entstehen filigrane, im Sinne der klassischen Harmonielehre nicht zwingend analysierbare Strukturen, die gegebenenfalls stark dem Text untergeordnet sind und deren Gesamtklang nahezu archaisch anmutet.
Die Anforderungen an Ausführende sind scheinbar gering, ein „unverbildetes Ohr“ ist vielleicht die beste Voraussetzung für authentische Reproduktion oder auch offene Rezeption.
So wenden sich Distlers Werke bei aller künstlerischen Brillanz nicht zuletzt an Kinder – so komponierte der zeitweilige Knabenchorleiter im „Jahreskreis“ für Alt und Sopran, wobei er selbst die dritte Bass-Stimme mitsang - und die im besten Sinne „normale“ Kirchengemeinde.
Werke:
Konzertante Sonate für zwei Klaviere Op.1 (1931)
Motette für zwei gemischte Chöre Op.2 »Herzlich lieb hab ich Dich, o Herr« (1931)
»Deutsche Choralmesse« für sechsstimmigen gemischten Chor Op.3 (1932)
»Kleine Adventsmusik« für Kammerchor, Instrumente und Sprecher Op.4 (1932)
»Der Jahreskreis« 52 zwei- und dreistimmige Chormusiken Op.5 (1933)
»Kleine geistliche Abendmusik» Op.6/1 »Christ, der du bist der helle Tag« (1933)
»Drei kleine Choralmotetten» für gemischten Chor Op.6/2 (1933)
»Choral-Passion» für fünfstimmigen gemischten Chor und zwei Vorsänger Op.7 (1933)
Orgelpartita Op.8/1 »Nun komm, der Heiden Heiland« (1933)
Orgelpartita Op.8/2 »Wachet auf, ruft uns die Stimme« (1935)
Kleine Choralbearbeitungen Op.8/3 (1938)
Weltliche Kantate für vierstimmigen Chor, Sopran-Solo und Streicher Op.9/1 »An die Natur« (1933)
»Die Weihnachtsgeschichte« für vierstimmigen gemischten Chor und vier Vorsänger Op.10 (1933)
Choralkantate für vierstimmigen Chor, 4 Singstimmen, Streicher, 2 Oboen und Cembalo Op.11
»Wo Gott zum Haus nit gibt sein Gunst« (1935)
»Geistliche Chormusik« Op.12 (1934-1941)
-Nr. 1: »Singet dem Herrn«
-Nr. 2: »Totentanz«
-Nr. 3: »Wach auf, du dt. Reich«
-Nr. 4: »Singet frisch u. wohlgemut«
-Nr. 5: »Ich wollt, daß ich daheime wär«
-Nr. 6: »Wachet auf, ruft uns die Stimme«
-Nr. 7: »In der Welt habt ihr Angst«
-Nr. 8: »Das ist je gewißlich wahr«
-Nr. 9: »Fürwahr, er trug unsere Krankheit«
Liturgische Sätze über altevangelische Kyrie- und Gloria-Weisen für Tenor und gemischten Chor Op. 13
Konzert für Cembalo und Streicher Op.14 (1936) (von den Nationalsozialisten in der Wanderausstellung „Entartete Kunst” als „abschreckendes Beispiel“ vorgeführt.)
Sonate für zwei Violinen und Klarinette Op.15a (1938)
»Neues Chorliederbuch« Op.16 (1936-1938)
-I: Bauernlieder
-II: Minnelieder I
-III: Minnelieder II
-IV: Kalendersprüche I
-V: Kalendersprüche II
-VI: Kalendersprüche III
-VII: Kalendersprüche IV
-VIII: Fröhliche Lieder
Geistliche Konzerte für hohe Singstimme und Orgel Op.17 (1938)
Dreißig Spielstücke für die Kleinorgel Op.18/1 (1938)
Orgelsonate (Trio) Op.18/2 (1939)
»Mörike-Chorliederbuch« Op.19 (1939)
-Erster Teil für gemischten Chor
-Zweiter Teil für Frauenchor
-Dritter Teil für Männerchor
»Musik für vier Streichinstrumente« a-moll Op. 20/1 (»Konzertstück« für zwei Klaviere Op.20/2 (1939)
Überdies Werke ohne Opuszahl, so:
»Kleine Choralkantate« für Sopran, Tenor, vierstimmigen gemischten Chor, Streicher und Orgel
»Nun danket all und bringet Ehr« (1941), Kammerkonzert für Cembalo und elf Soloinstrumente (1930/32), Kammermusik für Flöte, Oboe, Violine, Viola, Violoncello und Klavier (1929)
audiamus
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