Fin de siècle: Die Sopranistin Selma Kurz

  • Liebe Taminos,


    Vor einigen Jahren hörte ich in einer Rundfunksendung eine Aufnahme der Arie "Kann ein armes Kind von fern" aus der Oper MIgnon. Ich hatte das Radiogerät etwas zu spät angestellt und den Namen der Sängerin nicht mitbekommen. Was mich an dieser Aufnahme faszinierte, war der Eindruck, in ihr drei unterschiedliche Sängerinnen zu hören:


    Zu Beginn ein dunkler, warm timbrierter Sopran; der pathetische Stil ließ mich an die Diven der 20er und 30er Jahre denken. Dann eine sauber in die Gesangslinie integrierte Lachpassage, danach ein leises, nachdenklich-pathetisches Parlando, anschließend der Refrain in einem fast kindlich-naiven Ton gesungen, außerdem ein langer Triller und raffinierte Echo-Effekte. Ich war neugierig, welche Sopranistin diese eigenwillige Aufnahme hinterlassen hatte.


    Die Auflösung hieß: Selma Kurz, und in Kestings Buch „Die großen Sänger“ kann man über sie folgendes lesen:
    „Sie besaß eine außergewöhnlich klangschöne, fein lasierte und wie helles Perlmutt changierende Stimme und eine persönliche Manier, deren Anmut verzaubern und deren Selbstgefälligkeit verstören können.“ (Zitat S. 308/309)


    Zu diesen „Selbstgefälligkeiten“ zählt in erster Linie ihr Triller, der so etwas wie ein Markenzeichen wurde. „Trillern Sie, solange Sie können!“ soll Gustav Mahler ihr zugerufen haben, und es kann keiner sagen, dass sie diesen Ratschlag nicht beherzigt habe! Nun sind Triller und andere Verzierungen ja eigentlich unverzichtbare Bestandteile des canto fiorito, aber sie sollten auch mit Sinn angewendet werden, und das war bei Selma Kurz leider nicht immer der Fall. Man hat manchmal den Eindruck, sie verschleppe das Tempo, um ihr Markenzeichen anbringen zu können, z.B. in Elviras Arie aus Ernani oder in Oskars "Saper voreste". Hört man Rosa Ponselle als Elvira oder Luisa Tetrazzini als Oskar, fallen die Unterschiede ins Ohr.


    Der lange Kurz-Triller jedenfalls wurde zur Legende: Ohne Zwischenatmung, so schreibt Berndt Wessling in seinem Buch über Mahler, sei die Sängerin in der Lage gewesen, dreieinhalb Minuten lang auf dem hohen D zu trillern — wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Triller von knapp 30 Sekunden sind auf ihren Platten jedoch zu hören.


    Anmut zeichnet ihr Singen generell aus. Mit ihrem weichen Timbre und ihrer sehr modulationsfähigen Stimme zeigt sie als „Vogel im Walde“, wenn sie die Vogellaute imitiert, nicht die Kunst-Natur der Romantik, sondern eine Natur-Künstlichkeit, die uns an die Ornamentik des Jugendstils denken lässt. Dasselbe ist in der Arie „Wie im Schilfe lockt der Reiher“ aus der Königin von Saba zu beobachten. In diesen beiden Aufnahmen passen Stimme und Gesangsstil perfekt zu der Musik.


    Ihre Mimí ist eine erotische, charmante femme fragile, und als Page in Meyerbeers Hugenotten besingt sie die „holde Dame“ mit großem Charme und berückender Stimmschönheit.
    Dass sie durchaus in der Lage war, dramatisch aus sich herauszugehen, zeigt das Duett aus dem 4. Akt des Trovatore mit Schlusnus aus den 20er Jahren. Eine sehr schöne Einspielung ist auch ihre Aufnahme des Liedes Obstination von Reynaldo Hahn.


    Einige Daten zu ihrer Biographie und Karriere: Sie wurde am 15. 11. 1874 in Bielitz-Biala geboren, von einem Kantor der jüdischen Gemeinde entdeckt und studierte bei Johannes Ress in Wien sowie bei Mathilde Marchesi in Paris. In Frankfurt debütierte sie als Elisabeth im Tannhäuser, sang danach Carmen und studierte sogar die Azucena. Während sie von ihrern Lehrern zunächst als Mezzo eingestuft wurde, stellte Gustav Mahler sie später als Koloratursopran heraus. Bis zum Ende ihrer Karriere wirkte sie insbesondere an der Wiener Hofoper, wo sie z.B. als Mignon oder als Zerbinetta gefeiert wurde, gastierte jedoch auch an vielen großen internationalen Theatern. Im Jahre 1929 beendete sie ihre Karriere und starb 1933 in Wien.


    Ein Problem ihres Singens ist wohl wahrscheinlich die Tatsache gewesen, dass sie von Natur aus ein dunkler Sopran war, später jedoch zunehmend in der höchsten Lage sang, wofür sie von ihrem Lehrer Johannes Ress auch entsprechend kritisiert wurde. Der Ausdruck ihres Singens kann insbesondere im romantischen Repertoire nicht immer mit der Stimmpracht und der stupenden Technik mithalten. Was dem Hörer jedoch in allen ihren Aufnahmen ins Ohr fällt, sind der wunderbare Klang der mittleren Lage und die Anmut und Agilität ihres Singens.


    Was meint ihr zu dieser Sängerin?

  • Ich habe die Preiser-LP..
    Wer an Selma Kurz denkt, denkt an ihre Fertigkeit, Triller endlos (Maria Ivogün, welche den Triller der Kurz abstoppte) zu halten; sie konnte aber mehr als das, nämlich die von ihr dargestellten Figuren glaubhaft zu machen; die Arie der "Dinorah" mag als Beispiel gelten.
    Meiner Meinung nach ist sie heute zu Unrecht vergessen....


    :hello:Heldenbariton

    Wie aus der Ferne längst vergang´ner Zeiten
    GB

  • Hallo Heldenbariton,


    es sieht auch für mich so aus, als ob Selma Kurz von den Kritikern allzu sehr auf ihre "endlosen Triller" reduziert wird.
    Ihre Aufnahmen als Mimí, als Pamina und Leonora (mit Schlusnus) oder als Mignon zeigen auch meiner Meinung nach, dass sie durchaus gestisch und bewegend ihre Figuren verkörpern konnte.


    Was meinst du übrigens damit, dass Maria Ivogün den Triller der Kurz "abgestoppt" habe. Ich kenne von ihr einige Aufnahmen, die ich im Vergleich zu denen der Kurz allerdings weniger gern höre, ohne dass ich genau begründen könnte, warum. Diese beiden Sängerinnen waren sicherlich Konkurrentinnen, was das Repertoire angeht, oder?


    :hello: Petra

  • Hallo Petra,
    mit abgestoppt meine ich, dass Maria Ivogün mit der Stoppuhr den Triller "abstoppte"; so berichtet sie in einem Interview 1956.


    :hello:Heldenbariton

    Wie aus der Ferne längst vergang´ner Zeiten
    GB

  • Hallo Heldenbariton,


    auf das Naheliegendste (eine Stoppuhr) bin ich mal wieder nicht gekommen. Ich hatte mir eher überlegt, ob sie musikalisch einen Gegenpunkt dazu gesetzt und so die Entwicklung der langen Triller "abgestoppt" hatte.


    :hello: Petra

  • Liebe Petra, lieber Guido,


    ich denke auch, daß der Kurz-Triller, wenn schon nicht an sich überbewertet, denn doch nicht das Wesentliche dieser Sängerin ausmacht. Bei allem gerundeten, lyrischen Singen aber geht ihr die "Persönlichkeit" aus meiner Sicht doch manchmal ab - da finde ich Maria Ivogün zupackender, energischer (und auch agiler in der Stimmführung).


    Ich muß aber erst noch einmal parallel probehören.


    LG,


    Christian


  • Allein das Grabmal ist einen eigenen Thread wert. Leider kenne ich die ganze (Wiener) Story nicht gut genug. Wikipedia schreibt: Die halbnackte Frau auf dem Grabmal für Selma Halban-Kurz wurde jahrelang in einem Bretter­verschlag versteckt.


    Die Opernsängerin Selma Kurz starb am 10. Mai 1933. Zwei Tage später wurde sie auf dem Zentralfriedhof in Wien in einem Ehrengrab (Gruppe 14C, Nummer 8) beigesetzt. Der Witwer beauftragte den Künstler Fritz Wotruba mit der Schaffung eines besonderen Grabmals, das eine liegende Frau mit nacktem Oberkörper zeigte.
    Das schien das sittliche Empfinden mancher Leute zu stören. Nachdem der Witwer sich weigerte, das Grabmal zu beseitigen, wurde es mit einem Holzverschlag zugenagelt.
    Heutzutage gilt Wotrubas Werk als eine der herausragenden künstlerischen Grabfiguren auf dem Wiener Zentralfriedhof.


    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Selma Kurz konnte mehr als nur die berühmten "Triller". Davon zeugt einmal diese CD von Pearl, die ich gerne höre, und auch von Preiser gibt es Aufnahmen ihrer Kunst:


    W.S.


  • In dieser Sammlung ist auch Selma Kurz vertreten, und da weht einen auch schon wieder der auch der Historie an: sie hatte eine kurze Affäre mit Gustav Mahler, entschied sich aber dann für die Karriere; sie sang 1907 die Madame Butterfly in der Wiener Erstaufführung dieser Oper, und und und...In der Tat beeindruckt die "geläufige Gurgel", aber auch die bereits angesprochenen Qualitäten wie Anmut, Eleganz, technische Versiertheit sind vorhanden. Gewiss ist sie auch eine kompetente und durchaus anrührende Gestalterin, jedoch kann ich in manchen Passagen den Eindruck einer gewissen Manieriertheit nicht leugnen. Eine hörenswerte, fesselnde Stimme hatte sie jedoch allemal.

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  • Ich habe zwar hier schon auf Aufnahmen von Selma Kurz hingewiesen, aber auf der gestern Abend gehörten Preiser-LP kann man ihr großes Repertoir erahnen. Sie konnte einfach mehr, als ihren berühmten Triller vorzutragen. Sie singt darauf Arien und Duette aus "Die Zauberflöte", "Rigoletto", "Ernani", "Der Troubadour", "La Traviata", "Dinorah", "Ein Maskenball", "Mignon", die Lieder "Der Vogel im Walde", "Serenade", "Ave Maria", "Berceuse de Jocelyn", "Sélèbre Serenata" und "Caprice Viennois". Die folgende CD beinhaltet fast die gleichen Stücke:


    W.S.