Um ganz persönlich zu beginnen: Meine Favoriten bei Orff wechseln: "Antigonae", "De temporum fine comedia", "Prometheus"... "Der Mond" jedoch hat von Anfang an einen Fixplatz sehr weit oben in der Werteskala. Ich muß gestehen: Ich bin "Mond"-narrisch.
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Die Geschichte, natürlich mit Orffs eigenem Libretto, folgt dem Grimm-Märchen. Nur, daß Orff die Unterwelt-Szene breiter ausspielt.
Die Handlung ist sehr simpel (wer sie detaillierter lesen will, findet sie im Tamino-Opernführer): Die Bühne ist viergeteilt: Sie zeigt zwei Länder, darüber den Himmel, darunter die Unterwelt. Der Mond ist eine Laterne - er leuchtet nur über dem einen Land.
Vier Burschen aus dem monlosen Land stehlen den Mond und hängen ihn bei sich zu Hause auf. Natürlich nicht, ohne für die Mond-Wartung zu kassieren. Als die vier Burschen sterben, verlangt jeder ein Viertel des Mondes als Grabbeigabe. Was ihnen gewährt wird.
Das helle Mondlicht läßt die Toten nicht ruhen. Sie steigen aus ihren Särgen und feiern ein gewaltiges Gelage ("Wir wollen saufen, huren, zechen und, wenn's möglich, eine Ehe brechen"). Der Krach dringt Petrus ans Ohr. Er steigt zu den Toten, zecht zuerst mit. Doch dann erklärt er ihnen den Lauf der Welt:
"Ein jeder ist wo hingestellt, ein jeder hat so seinen Platz.
(Noch einen Schluck, mein schöner Schatz!)
Und diesen Platz muß er ausfüllen,
ob er's gern tut, ob wider Willen."
Dann schlägt Petrus die Töne eines Nachtwächters an und singt - nein: zwingt die Toten mit einem magischen Lied zur Ruhe:
"Hört ihr Toten, laßt euch sagen,
Eure Stunde hat geschlagen,
Wer noch lebt, den freut das Licht,
Doch für Tote gibt's das nicht."
Die Toten gehen zur Ruhe. Petrus hängt den Mond - nun für die ganze Welt sichtbar - am Himmel auf. Ein kleines Kind entdeckt ihn: "Da hängt ja der Mond". Ein Nachspiel mit einer sanften Zither-Melodie signalisiert, daß das Räderwerk der Welt nun wieder läuft.
Die Handlung wird dabei dadurch in weite Ferne gerückt, daß Orff einen Erzähler verwendet, der die Geschichte aus einem Buch vorliest.
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In das Grimm'sche "Mond"-Märchen fließen natürlich alte Überlieferungen und Mythen ein.
Dementsprechend hat Orff die Oper komponiert. Das äußere Gewand ist eine Spieloper reinsten Wassers. Kurze gesprochene Dialogszenen trennen die musikalischen Blöcke. In der Musik dominieren Strophenformen, oft mit Repetitionen, wobei ein brillantes Spiel mit rhythmischen verkleinerungen immer wieder einen herrlich grotesken Eindruck erweckt. Monologisch weit ausholend ist der Part des Petrus gestaltet. Ein orchestrales Zwischenspiel mit dem Titel "Zeit vergeht" teilt die Oper in einen fröhlich beschwingten ersten Teil und einen zur bösen Groteske eingedunkelten zweiten Teil.
In seiner Musik verwendet Orff zahlreiche Modelle der bayerischen Volksmusik, deren Harmonik er einschrägt oder mit chromatischen Zusatztönen aufpulvert; die Taktwechsel weisen auf den Zwiefachen hin (Zweier- oder Vierertakt wechselt mit Dreiertakt). In der Saufszene im Totenreich kommen noch allerhand parodistische Elemente und Stilzitate dazu.
Die für Orff charakteristischen Ostinati finden sich vor allem dann, wenn es in die Bereiche dessen geht, was Orff mit "klangmagischer Beschwörung" bezeichnet. So wird die Melodie des Orchesterzwischenspiels von Ostinati grundiert (in denen man meint, das Räderwerk der Welt knacken zu hören - Petrus sagt später zu den Toten: "Hört ihr jetzt das Ticken, Tacken und das leise Räderknacken? Hört ihr, wie das Weltrad geht, bis es einmal stille steht?") und auch Petrus entwickelt seine deklamatorische Melodik über ostinatem Klanggrund.
Uraufgeführt wurde "Der Mond" 1939 an der Bayerischen Staatsoper in München. In den 60er-Jahren komponiert Orff den bis dahin gesprochenen Trinkspruch des Petrus zum Trinklied aus.
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"Der Mond" ist erstaunlich gut bedacht worden von den Labels. Es gibt derzeit folgende Aufnahmen:
1. 2.
3. 4.
1. ist eine sehr schöne und temperamentvolle historische Rundfunk-Aufnahme der ersten Fassung aus dem Jahr 1950. Orff hat die Aufnahme selbst überwacht. Einziger Nachteil: Die Tonqualität. Es klingt eben nach Großmutters Radio. Der Preis von 5 Euro allerdings düfte unschlagbar sein.
2. Herbert Kegel hat sich für Orff begeistert - und das spürt man. Der Orchesterpart hat Biß, die Chöre sind perfekt einstudiert, alles ist auf den Punkt gebracht. Nachteile: Leichte Kürzungen. Und etwas bayerischer hätt's auch zugehen können.
3. Eine Aufnahme der ersten Fassung, die zur Legende wurde wegen eines Interpreten - und just der liefert ein Mißverständnis ab: Hans Hotter interpretiert den Petrus als Bruder Wotans, als als noblen Gott. Orff hingegen sieht Petrus als übermächtigen Schäfer, als eine Gestalt, die aus Volksüberlieferungen entstiegen ist: Petrus ist eher ein Verwandter der Schönperchten als der germanischen Götterwelt. Und Orffs Musik hat mit Wagner auch nicht das Geringste zu tun.
Sawallisch interpretiert das Werk seltsam weich und wattig, wie eine Märchenoper der deutschen Romantik oder Nachromantik - was letzten Endes ein geschlossenes Bild ergibt. Aber leider auch eine sehr schöne Aufnahme, die am Werk etwas vorbeizielt.
4. Die Aufnahme, die Orff autorisiert hat, und das mit gutem Grund. Die Sänger sind perfekt - auch der von der Kritik zerzauste John van Kesteren als Erzähler paßt mit seiner manirierten Deklamation wunderbar in Orffs Konzept. Franz Crass ist ein überragender Petrus, dem man die Bauernschläue ebenso abkauft wie die magische Weltsicht. Glänzend die Dialoge, in denen es deftig bayerisch zugeht, man merkt, welchen Spaß die Mitwirkenden an dem Stück haben. Und - last but not least - steht in Kurt Eichhorn ein Dirigent am Pult, der ein feines Gefühl für Orff hat: Die Musik klingt grellbunt, die Farben sind frisch und scharf konturiert - und manchmal ist der Klang doch auch wie eine Beschwörungsformel aus den Tiefen der Zeit hervorgeholt. Die vielschichtige stilistische Palette Orffs wird detailliert vor Ohren geführt - aber all die Einzelheiten serviert Eichhorn mit so viel Temperament, daß nichts zerfällt, im Gegenteil: So zündet keine andere Aufnahme!
Eine weitere Aufnahme ist diese:
Aber Vorsicht! - Das ist die stark gekürzte Kegel-Aufnahme mit Zwischentexten, die Orffs Tochter Godela spricht, wobei das Zielpublikum Kinder sind. Für die eine wirklich nette Angelegenheit, aber keine Alternative zu den genannten vier.