Musikhören, -lesen und -denken

  • Liebe Musikfreunde,


    Carola schrieb zu Beethovens Quartetten op. 18 ...


    Zitat

    Nun habe ich also die ersten drei Streichquartette mehrfach mit Hilfe von Partitur und Handbuch angehört und es hat mir sehr viel Freude bereitet, mal etwas gründlicher zu werden. Irgendwann kommt dann natürlich der Punkt, wo beides, Partitur und Handbuch, wieder beiseite gelegt wird und ich einfach nur zuhöre. Der Unterschied zu vorher besteht vor allem darin, dass ich nicht mehr so stark auf die 1. Geige fixiert bin, sondern auch das Cello und die Mittelstimme stärker wahrnehme, wenn z.B. das Thema durch die verschiedenen Stimmen wandert.


    Das kenne auch ich und kann dem zustimmen. Allerdings wird mir beim Lesen dieser Zeilen bewusst, dass es, besonders in letzter Zeit, auch umgekehrt geschieht: Ich neige bei den, allerdings wenigen, Werken, die ich glaube, für meine Möglichkeiten ziemlich gut zu kennen, immer mehr dazu, mich zunehmend mehr mit der Partitur allein zu begnügen und dabei vielleicht die höchsten Genüsse zu empfinden; häufig gar auch ohne Partitur, allein in der Vorstellung.


    Besonders die späten Streichquartette Beethovens, aber auch einige Quartette von Zemlinsky, Bartok, Schönberg und Schostakowitsch habe ich mittlerweile so häufig in verschiedenen Einspielungen gehört und gelesen, dass sie mir äußerlich und auch innerlich sehr vertraut sind. So ertappe ich mich dabei, mir beim Partiturlesen oder auch ganz ohne, den Verlauf des jeweiligen Werkes in meinen eigenen „Klang“, also ziemlich oder völlig losgelöst von mir bekannten Einspielungen, zu hören. Dies bringt mir, so glaube ich, eigentlich die größte Befriedigung. Allerdings geschieht dies keineswegs immer und ist auch kein Ersatz für das Hören von Einspielungen; ich liebe und brauche beides. Außerdem gelingt mit dies, wie gesagt, nur bei den wenigen mir sehr vertrauten Werken, und auch nur bei denen empfinde ich dieses Bedürfnis des inneren und eigenen Hörens.


    Je häufiger und intensiver ich mich übrigens derart mit den Musikwerken beschäftige, desto sicherer fühle ich mich mit meiner persönlichen Bewertung von Interpretationen, die ich höre. Meine eigenen Vorstellungen entwickeln sich stärker; allerdings glaube ich, dass ich dann auch immer offener und weniger festgelegt den Interpretationen gegenüber werde und durchaus entgegengesetzte Interpretationen spontan für geeignet und richtig halten kann.


    Leider kann ich all das nicht exakt beschreiben, aber ich hoffe, es kommt in etwa herüber, was ich meine. Könnt Ihr das nachvollziehen und erlebt Ihr es auch bzw. wie erlebt Ihr es, dass bisher gehörte Interpretationen „überwunden“ werden, um eigene Vorstellungen zu entwickeln - oder befinde ich mich gedanklich im Irrtum?


    Schöne Grüße,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Lieber Uwe,


    das sind ja spannende Erfahrungen, die Du hier beschreibst. Ich kann ihnen leider nur einige winzige Schritte weit folgen, da ich mit dieser Art des Hörens im Grunde erst gerade mal angefangen habe. Was ich beschreiben kann ist dies:


    Erstens: Musik gleichzeitig zu lesen und zu hören kann unglaublich schön und beglückend sein. Was ich so nicht erwartet hatte, ich hatte es mir eher anstrengend, aber lehrreich vorgestellt.


    Zweitens: Manchmal erklingt die notierte Musik in meinem Kopf, wenn ich auf die Partitur sehe - mir ist das ein wenig unheimlich. Dass man darüberhinaus auch ein ganzes Stück nur durchs Lesen der Partitur innerlich hören kann, fällt mir im Moment noch schwer, mir vorzustellen. Und wenn das passiert, hört man dann nicht eher die "Essenz" der Musik - was immer das sein mag - jedenfalls nicht eine bestimmte Interpretation?


    Ich selber gehe mit den Beethoven-Streichquartetten eher den umgekehrten Weg. Ich beschränke mich auf eine mir von Grund auf sympathische Gesamtaufnahme (mit dem Gewandhaus-Quartett) und das ist dann für mich das Werk. Unterschiedliche Interpretationen würden mich im Moment nur verwirren.


    Mit Gruß von Carola

  • Hallo,


    ich mache das auch ab und zu, dass ich Werke mit Partituren mitlese.
    Jetzt habe ich angefangen, mich mit Werkmonographien noch stärker in die Materie reinzuarbeiten, um noch besser Themen, Verarbeitungen und Bedeutungen der Werke kennenzulernen.


    Das macht mir eine große Freude und die Musik gewinnt bei mir dadurch unheimlich an Stellenwert.


    Das gedankliche Hören beim bloßen Partiturlesen ist für mich nicht besonders schwer. Man praktiziert es ja auch hin und wieder beim Klavierüben. Wenn man mal nicht am Klavier sitzen kann und nur die Noten zur Hand hat (in der Bahn usw.) kann man wunderbar mental üben, indem man sich genau den Prozess des Spielens vorstellt und versucht, an alle Sachen zu denken. Das kann unheimlich viel bringen.


    Ich kann es jedenfalls nicht ganz nachvollziehen, wenn jemand meint, dass der Reiz der Musik verloren ginge, wenn man sich wissenschaftlich mit dem Stück beschäftigt.



    Gruß, Peter.