Den Rosenkavalier als beliebt zu bezeichnen, ist wohl noch untertrieben. So war ich sehr erstaunt, hier noch keinen Thread über ihn zu finden. Etwas, das geändert werden muss, finde ich.
Gesamtaufnahmen besitze ich zwei, beide sind großartig (die Heger-Aufnahme ist historisch und gekürzt):
Lotte Lehmanns Charakterisierungsvermögen ist einzigartig. Das Wienerische (wie es ein Hamburger sieht) der Karajan-Aufnahme ist grandios, zudem eine fantastische Ensemble-Leistung.
Wegen der Fülle des Wohllauts (Flemings und Grahams Stimmen lassen mich lächeln) höre ich zudem dann und wann:
Mir geht es aber weniger um Aufnahmen, mehr um anderes.
Gestern habe ich in Hamburg der Premiere B der Inszenierung von Marco Arturo Marelli unter der musikalischen Leitung von Simone Young gesehen – und wurde enttäuscht. Die Inszenierung – eine aufgewärmte aus Helsinki und Graz – empfand ich als geistlos, das Dirigat als erschreckend schwach, das Zwischenreich der morbiden, durchaus auch giftigen Beschwingtheit wurde nie betreten, melancholische Walzerseeligkeit blieb aus.
Trotzdem war mir der Abend Anlass, über die Bedeutung und Funktion der einzelnen Figuren nachzudenken.
Am Anfangspunkt meiner Überlegungen steht die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg.
Sie wird weithin als den anderen Protagonisten überlegene Person, mit dem Verweis auf ihre Gedanken zum Wesen der Zeit sogar gern als Weise verstanden.
Nur, ist sie das wirklich?
Die auf den ersten Blick tiefgründigen Bemerkungen zum Wesen der Zeit am Ende des ersten Aufzugs sind bei genauerem Hinsehen zwar wohllautend formuliert, doch inhaltlich banal:
“Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder, lautlos, wie eine Sanduhr. Oh, Quinquin! Manchmal hör' ich sie fließen - unaufhaltsam. Manchmal steh' ich auf mitten in der Nacht und lass die Uhren alle, alle stehn. Allein man muss sich auch vor ihr nicht fürchten. Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle erschaffen hat.“
R. Strauss hat in seinen Erinnerungen geschrieben: „Die Marschallin ist eine junge schöne Frau von höchstens zweiunddreißig Jahren, die sich bei schlechter Laune einmal dem siebzehnjährigen Octavian gegenüber als alternde Frau vorkommt“ (zitiert nach dem Programmheft der Hamburger Aufführung).
Ich stelle mir eine 32-jährige Frau vor, die das oben Geschriebene sagt, und finde: Das wirkt nicht weise, sondern lächerlich. Mir kommt das vor wie die 29-jährige, die Angst davor hat 30 zu werden, weil sie dann schon so alt ist. Auf mich wirkt dieses Verhalten gerade nicht reif und weise, sondern unreif.
Ist der Eindruck der Weisheit nur deshalb ins allgemeine Bewusstsein getreten, weil die Rolle der Feldmarschallin nahezu allgemein mit einer Älteren besetzt wird, die – gerade im Vergleich zu Sophie – naturgemäß reifer wirkt? So betrachtet hat die Besetzungsweise große Auswirkungen auf das Verständnis des Stückes.
Wer also ist die Feldmarschallin?
Messen wir sie nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten:
Sie ist höchstens 32 Jahre alt, ist schön, war als junge Frau im Kloster, weshalb man annehmen darf, dass sie gläubig ist, ist eine hohe Adlige – nur eine angeheiratete, frage ich mich; immerhin berichtet sie, ihr sei es früher wie Sophie ergangen.
Ihre erste Tat ist Ehebruch, zudem noch mit einem Minderjährigen.
Verlässlich ist sie nicht. Baron Ochs von Lerchenau, ein – wenngleich entfernter – Verwandter schreibt ihr einen Brief und bittet um Hilfe. Die Feldmarschallin liest den Brief nicht einmal (sondern vergnügt sich lieber mit ihrem Liebhaber). Unsozial ist sie also auch.
Sie unterstützt den Baron bei seiner Geldheirat, obwohl sie das moralisch Korrupte dieses Vorgangs erkennt („Da geht er hin, der aufgeblas´ne schlechte Kerl, und kriegt das junge hübsche Ding und einen Pinkel Geld dazu.“), sogar aus eigener Erfahrung weiß, wie das endet.
Am Ende des Stückes verzichtet sie auf Octavian. Hoch angerechnet wird ihr dies gewöhnlich. Doch halt! Verzichtet sie denn wirklich? Verzicht setzt voraus, dass es etwas gibt, worauf verzichtet werden könnte. So ist es bei der Feldmarschallin nicht. Sie hat Octavian längst verloren. Sie ist die Geschlagene. Die Feldmarschallin ist nur in Liebesdingen erfahren genug, um zu erkennen, dass sie geschlagen ist. Sie ficht nicht den aussichtslosen Kampf gegen die jüngere schönere, sondern tritt die Contenance wahrend zurück. Darin liegt ihre einzige Reife.
Resümierend muss ich feststellen: Das Positive an der Feldmarschallin ist Fassade (wie die untergehende Adelswelt nur noch Fassade ist). Nimmt man die Schminke weg, bleibt wenig übrig.
Das war es erst einmal von mir. Ich bin gespannt, was ihr zur Marschallin zu sagen habt. Den Baron Ochs und Octavian, schlage ich vor, heben wir uns für später auf.
Hinweisen möchte ich darauf, dass in dem Thread Was wäre wenn? Wie Opern im richtigen Leben weiter gehen könnten
bereits einige Beiträge zu den einzelnen Charakteren enthalten sind.
Viele Grüße
Thomas