Die Bachkantate (173): BWV26: Ach wie flüchtig, ach wie nichtig

  • BWV 26: Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
    Kantate zum 24. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 19. November 1724)




    Lesungen:
    Epistel: Kol. 1,9-14 (Paulus betet für die Kolosser)
    Evangelium: Matth. 9,18-26 (Auferweckung der Tochter des Jairus)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 19 Minuten


    Textdichter: unbekannt, inspiriert aber vom titelgebenden Choral
    Choral (Nr. 1 und 6): Michael Frank (1652)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Traversflöte, Oboe I-III, Horn, Solo-Violine, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Choral SATB, Traversflöte, Oboe I-III, Horn, Streicher, Continuo
    Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
    Ist der Menschen Leben!
    Wie ein Nebel bald entstehet
    Und auch wieder bald vergehet,
    So ist unser Leben, sehet!


    2. Aria Tenor, Traversflöte, Solo-Violine, Continuo
    So schnell ein rauschend’ Wasser schießt,
    So eilen unser’ Lebenstage.
    Die Zeit vergeht, die Stunden eilen,
    Wie sich die Tropfen plötzlich teilen,
    Wenn alles in den Abgrund schießt.


    3. Recitativo Alt, Continuo
    Die Freude wird zur Traurigkeit,
    Die Schönheit fällt als eine Blume,
    Die größte Stärke wird geschwächt,
    Es ändert sich das Glücke mit der Zeit,
    Bald ist es aus mit Ehr’ und Ruhme,
    Die Wissenschaft und was ein Mensche dichtet,
    Wird endlich durch das Grab vernichtet.


    4. Aria Bass, Oboe I-III, Continuo
    An irdische Schätze das Herze zu hängen,
    Ist eine Verführung der törichten Welt.
    Wie leichtlich entstehen verzehrende Gluten,
    Wie rauschen und reißen die wallenden Fluten,
    Bis alles zerschmettert in Trümmern zerfällt.


    5. Recitativo Sopran, Continuo
    Die höchste Herrlichkeit und Pracht
    Umhüllt zuletzt des Todes Nacht.
    Wer gleichsam als ein Gott gesessen,
    Entgeht dem Staub und Asche nicht,
    Und wenn die letzte Stunde schläget,
    Dass man ihn zu der Erde träget,
    Und seiner Hoheit Grund zerbricht,
    Wird seiner ganz vergessen.


    6. Choral SATB, Traversflöte, Oboe I-III, Horn, Streicher, Continuo
    Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
    Sind der Menschen Sachen!
    Alles, alles was wir sehen,
    Das muss fallen und vergehen.
    Wer Gott fürcht’, bleibt ewig stehen.






    Wie schon der Dichter der Kantate BWV 60 nimmt auch der unbekannt gebliebene Verfasser dieser Choralkantate in der Form Bezug auf das heutige Sonntagsevangelium, in dem er über die Vergänglichkeit des Lebens reflektiert und dabei unter anderem auf verschiedene (in der Barockzeit ja recht beliebte) Naturvergleiche zurückgreift. Besonders das Bild des dahineilenden, mitunter alles mitreißenden Wassers hat es ihm besonders angetan...


    Die Kantate beginnt mit einer Choralbearbeitung, in der der Sopran wie meistens die Choralmelodie vorträgt und dabei instrumentale Verstärkung durch eine Hornstimme erhält. Soweit ist in diesem Satz noch alles wie gewöhnlich – die übrigen Chorstimmen fasst Bach nun jedoch während des gesamten Satzes wie eine mächtige Gegenstimme zum Sopran zusammen und lässt diese in eindringlich, ja fast hektisch wirkender Form die Worte der Choralstrophe wiederholen. Mit diesem einfachen Stilmittel, das doch so beeindruckend auf den Hörer wirkt, erreicht Bach die sinnfällige Umsetzung der „Flüchtigkeit“ und „Nichtigkeit“ des irdischen Lebens, dass so schnell vorüberzieht wie ein Nebelstreif...
    Eine meiner liebsten Choralbearbeitungen Bachs! :yes::yes:


    Das Bild des flüchtig dahineilenden Erdenlebens wird in der in C-Dur stehenden Arie Nr. 2 erneut aufgegriffen: Begleitet von einer über weite Strecken zusammen mit der Solo-Violine parallel geführten Traversflöte singt der Tenor von bildhaft von rauschend dahinschießendem Wasser. Wie mehrfach im Herbst 1724 geschehen (z. B. in den Kantaten BWV 96 oder BWV 180), haben wir damit auch in dieser Kantate wiederum eine Arie, in der Bach die von ihm offenbar so geschätzte Kombination Tenor-Traversflöte einsetzt. Nicht nur die beiden Solo-Instrumente dieser Arie, auch die Tenorstimme wird ausgesprochen virtuos eingesetzt und reich mit Koloraturen bedacht (was auf sehr talentierte Solisten schließen lässt, die Bach damals offenbar für eine gewisse Zeit zur Verfügung standen).


    Die hohen Solostimmen Alt und Sopran werden in dieser Kantate etwas undankbar mit jeweils einem kurzen Rezitativ bedacht, während der Bass in der Arie Nr. 4 einen an einer Bourrée orientierten „Totentanz“ anstimmt. Als diesen bezeichnet ihn zumindest Alfred Dürr, wobei ich persönlich die Wirkung dieser Arie nicht ganz so unheimlich finde...
    Die Bass-Stimme wird zunehmend bewegter geführt, wenn die Rede auf die „reißenden, wallenden Fluten“ kommt.


    Die in den meisten Kantaten gegen Ende erfolgende „dramaturgische Wende“, wo über die vorgebrachten Zweifel und Ängste letztendlich doch noch die Zuversicht und Hoffnung siegt, erfolgt in dieser Kantate buchstäblich im letzten Moment – erst in der letzten Zeile des Schlusschorals wird so etwas wie ein Hoffnungsschimmer geäußert...


    Alles in allem passt diese Kantate meiner Meinung nach thematisch wunderbar in den November! :jubel:

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)