Die Bachkantate (172): BWV60: O Ewigkeit, du Donnerwort

  • BWV 60: O Ewigkeit, du Donnerwort
    Kantate zum 24. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 7. November 1723)




    Lesungen:
    Epistel: Kol. 1,9-14 (Paulus betet für die Kolosser)
    Evangelium: Matth. 9,18-26 (Auferweckung der Tochter des Jairus)



    Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 20 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choräle: Nr. 1 Johann Rist (1642) – Nr. 5 Franz Joachim Burmeister (1662)



    Besetzung:
    Soli: Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe d’amore I + II, Horn, Solo-Violine, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Aria Alt, Tenor, Oboe d’amore I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Furcht
    O Ewigkeit, du Donnerwort,
    O Schwert, das durch die Seele bohrt,
    O Anfang sonder Ende!
    O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,
    Ich weiß vor großer Traurigkeit
    Nicht, wo ich mich hinwende;
    Mein ganz erschrock’nes Herze bebt,
    Dass mir die Zung’ am Gaumen klebt.


    Hoffnung
    Herr, ich warte auf dein Heil.


    2. Recitativo Alt, Tenor, Continuo
    Furcht
    O schwerer Gang zum letzten Kampf und Streite!
    Hoffnung
    Mein Beistand ist schon da,
    Mein Heiland steht mir ja
    Mit Trost zur Seite.
    Furcht
    Die Todesangst, der letzte Schmerz
    Ereilt und überfällt mein Herz
    Und martert diese Glieder.
    Hoffnung
    Ich lege diesen Leib vor Gott zum Opfer nieder.
    Ist gleich der Trübsal Feuer heiß,
    Genung, es reinigt mich zu Gottes Preis.
    Furcht
    Doch nun wird sich der Sünden große Schuld
    Vor mein Gesichte stellen.
    Hoffnung
    Gott wird deswegen doch kein Todesurteil fällen.
    Er gibt ein Ende den Versuchungsplagen,
    Dass man sie kann ertragen.


    3. Aria Alt, Tenor, Oboe d’amore I, Solo-Violine, Continuo
    Furcht
    Mein letztes Lager will mich schrecken,
    Hoffnung
    Mich wird des Heilands Hand bedecken,
    Furcht
    Des Glaubens Schwachheit sinket fast,
    Hoffnung
    Mein Jesus trägt mit mir die Last.
    Furcht
    Das off’ne Grab sieht greulich aus,
    Hoffnung
    Es wird mir doch ein Friedenshaus.


    4. Recitativo Alt, Bass, Continuo
    Furcht
    Der Tod bleibt doch der menschlichen Natur verhasst
    Und reißet fast
    Die Hoffnung ganz zu Boden.
    Bass
    Selig sind die Toten;
    Furcht
    Ach! aber ach, wieviel Gefahr
    Stellt sich der Seele dar,
    Den Sterbeweg zu gehen!
    Vielleicht wird ihr der Höllenrachen
    Den Tod erschrecklich machen,
    Wenn er sie zu verschlingen sucht;
    Vielleicht ist sie bereits verflucht
    Zum ewigen Verderben.
    Bass
    Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben;
    Furcht
    Wenn ich im Herren sterbe,
    Ist denn die Seligkeit mein Teil und Erbe?
    Der Leib wird ja der Würmer Speise!
    Ja, werden meine Glieder
    Zu Staub und Erde wieder,
    Da ich ein Kind des Todes heiße,
    So schein’ ich ja im Grabe zu verderben.
    Bass
    Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben, von nun an.
    Furcht
    Wohlan!
    Soll ich von nun an selig sein:
    So stelle dich, o Hoffnung, wieder ein!
    Mein Leib mag ohne Furcht im Schlafe ruh’n,
    Der Geist kann einen Blick in jene Freude tun.


    5. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Es ist genung;
    Herr, wenn es dir gefällt,
    So spanne mich doch aus!
    Mein Jesus kömmt;
    Nun gute Nacht, o Welt!
    Ich fahr’ ins Himmelshaus,
    Ich fahre sicher hin mit Frieden,
    Mein großer Jammer bleibt danieden.
    Es ist genung.






    Das heutige Sonntagsevangelium passt sehr gut zum Monat November: Es handelt sich um die bekannte Geschichte von der Auferweckung der Tochter des Gemeindevorstehers Jairus durch Jesus.
    Jetzt im November – die Tage sind deutlich kürzer geworden, der Winter naht mit Riesenschritten – nähert sich das Kirchenjahr seinem Ende.
    Traditionell häufen sich in diesem Monat die Gedenktage an die Verstorbenen und in den Bibellesungen geht es nun häufig um die Endlichkeit nicht nur der eigenen Existenz, sondern auch der ganzen Schöpfung – quasi als Auftakt für die anstehende Adventszeit, in der man sich auf die Ankunft des Heilands in der Welt vorbereitet.
    Es wird daran gemahnt, auf die Wiederkunft des Heilands zu einem den Menschen nicht bekannten Zeitpunkt (und dem damit verbundenen Jüngsten Gericht) stets vorbereitet zu sein.
    So gesehen passt also die Geschichte von der Auferweckung des toten Mädchens sehr gut in diese Zeit des Kirchenjahres, da anhand dieser Begebenheit über die Thematik von Tod, der Vergänglichkeit alles Irdischen und der Hoffnung auf ein ewiges Leben reflektiert werden kann.


    Die Textautoren der beiden uns heute bekannten Bachkantaten zum 24. Sonntag nach Trinitatis (außer der hier besprochenen Kantate ist dies noch BWV 26) haben dies denn auch – mit ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen - getan.


    Die Kantate enthält wieder einmal einen sogenannten “Dialogus“, also ein (Zwie-) Gespräch allegorischer Figuren – eine im Barock sehr beliebte Literaturform.
    Meist hat Bach in den von ihm vertonten Dialog-Kantaten (siehe z. B. die Kantate BWV 49) eine Zwiesprache zwischen Jesus und der gläubigen Seele behandelt.
    In dieser Kantate findet nun jedoch zunächst ein Dialog zwischen der Furcht (Alt) und der Hoffnung (Tenor) statt (also quasi die zwei Seiten der menschlichen Seele, die hier miteinander debattieren), bevor – quasi als dramaturgischer Überraschungseffekt - im Rezitativ Nr. 4 ein weiterer Gesprächspartner hinzutritt: Der Bass übernimmt hier wieder die ihm traditionell zugeordnete Rolle der „Vox Christi“ – somit spricht dann doch wieder Jesus mit der (noch furchtsamen) Seele und gibt ihr Worte der Verheißung und Hoffnung mit auf den Weg, so dass nun der gegen Ende einer Kantate übliche „Stimmungsumschwung“ stattfinden kann.


    Eingeleitet wird die Kantate mit einer vom Alt vorgetragenen Choralstrophe. Konsequenterweise kann diese Choralbearbeitung nicht vom vierstimmigen Chor vorgetragen werden, da diese Strophe bereits der Figur der Furcht zugeordnet ist, die nun einmal vom Alt gesungen wird. Somit übernimmt nun das Orchester allein die Aufgabe, den Alt bei dessen Choralvortrag zu umrahmen und den Satz harmonisch aufzufüllen – das Horn spielt dabei (wie meist in solchen Fällen) in verstärkender Funktion die Choralmelodie mit. Außerdem enthält der Satz ein Bibelwort-Zitat (aus 1. Mose Kapitel 49, Vers 18), das dem Choralgesang mehrfach von der Hoffnung (also dem Solo-Tenor) in weit ausgreifenden Gesangslinien kontrastierend gegenübergestellt wird. Wir befinden uns also auch schon im ersten Satz bereits mitten im “Dialogus“!


    Den titelgebenden Choral von Johann Rist hat Bach übrigens ein gutes halbes Jahr später anlässlich der Eröffnung seines ambitionierten Choralkantaten-Jahrgangs der Kantate BWV 20 zugrundegelegt, so dass es zwei Bachkantaten mit diesem Titel gibt.


    Im Rezitativ Nr. 2 setzt Bach nun den begonnenen Dialog zwischen Furcht und Hoffnung fort – die beiden Stellen, an denen er jedem der beiden Beteiligten eine ausdrucksvolle Gesangslinie (auf die Worte “martert“ und “ertragen“) überträgt, fallen im ansonsten üblichen „Rezitativ-Tonfall“ besonders auf. Die Angst und Ungewissheit, die der unausweichliche Tod der Figur der Furcht bereitet, steht in totalem Gegensatz zu der sonst in der Barockdichtung so häufig anzutreffenden Todessehnsucht, die ja auch in Bachs Kantaten mehrfach in Musik gesetzt wurde, siehe z. B. die berühmte Kantate BWV 82!


    In dem nun folgenden, wieder einmal als Arie Nr. 3 bezeichneten Duett der beiden Dialogpartner fällt die enge musikalische Ausrichtung am zu vertonenden Text auf, so dass Alfred Dürr z. B. mit Recht schreibt, dass dieser Satz formal der offenen Form der Motette näher steht, als der eher geschlossenen Arienform.
    Dreimal beginnt die Furcht mit ihren bangen Einwänden, die Hoffnung mischt sich daraufhin ein und behält jedes Mal – jeweils nach einem gemeinsamen Gesangsabschnitt beider Stimmen – buchstäblich (und mit Sicherheit auch absichtlich!) „das letzte Wort“.
    Sehr schön in diesem Satz auch die Übertragung des Dialogs beider Gesangsstimmen auf die instrumentale Ebene: Solo-Violine und Oboe d’amore liefern sich quasi parallel zu den Sängern ein ähnliches Zwiegespräch „ohne Worte“!


    Im Rezitativ Nr. 4 folgt nun – wie oben schon erwähnt – der dramaturgische Wendepunkt dieser Kantate, indem die durch die eigene Hoffnung nicht zu beruhigende Furcht nun mit einem Zitat aus der Offenbarung (Kapitel 14, Vers 13), das man sich als von Christus selbst gesprochen vorzustellen hat, am Ende doch noch zur Zuversicht und Hoffnung gelangen kann.
    Das von Bach innerhalb dieses Rezitativs als Arioso eingebaute Bibelwort-Zitat wird dreimal vorgetragen und ist jedes Mal um einen Satzteil länger als das vorherige. Somit erreicht Bach die besondere Betonung dieser Botschaft nicht nur durch den „Aha!“-Effekt, der durch das plötzliche Auftreten der bisher schweigenden Bass-Stimme erzielt wird, sondern eben auch durch das Stilmittel der Wiederholung und steten Ergänzung der Mitteilung.
    Um diese beiden so unterschiedlichen Ebenen dieses Rezitativs auch klanglich zu verdeutlichen, könnten die Interpreten z. B. durch die Wahl verschiedener Continuo-Instrumente (ähnlich wie bei den Christus-Worten in den Passionen) zusätzliche Akzente setzen. Die Worte der Furcht könnten dann beispielsweise von einem Cembalo, die Ariosi der “Vox Christi“ von einem Orgelpositiv begleitet werden.


    Im zu dieser Jahreszeit ebenfalls häufig zu hörenden Deutschen Requiem von Johannes Brahms, das in den Jahren 1866/68 vollendet wurde, ist dieser von Bach so hervorgehobene Vers aus der Offenbarung übrigens der Text des letzten Satzes.


    Wie in vielen Kantaten, die von einer oder mehreren Solostimmen dominiert werden, meldet sich im letzten Satz nun auch noch kurz der Chor zu Wort, in dem als – quasi als gemeinsames „Fazit“ der gläubigen Gemeinde den kurzen Schlusschoral vorträgt.


    Der kühne harmonische Satz gerade dieses eigentlich unscheinbar wirkenden Chorals ist viel gerühmt und beachtet worden: In einer für die Barockzeit geradezu futuristisch anmutenden, aus drei Ganztonschritten bestehenden Reihe, hebt der Satz an und bildet damit einen “Tritonus“, den “Diabolus in musica“, den Bach natürlich absichtlich an dieser Stelle einsetzt, um selbst in diesem kurzen Choralsatz kommentierend und illustrierend auf den Text hinzuweisen, in dem es um die aus der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit heraus gewonnene Erkenntnis geht, dass mit dem Ende des irdischen (oft qualvollen) Lebens ein Dasein im ewigen Frieden des Jenseits beginnt.


    Alban Berg hat diese den Satz einleitende Ganztonfolge so fasziniert, dass er den ganzen Choralsatz in sein berühmtes auf der Zwölftontechnik basierendes Violinkonzert aus dem Jahr 1935 eingearbeitet hat – schließlich war es durch die Widmung “Dem Andenken eines Engels“ (= der verstorbenen Manon Gropius) thematisch nah an dem Text dieses Schlusschorals angesiedelt.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Guten Abend



    In diesem Schlußchoral greift Bach auf eine Arienmelodie von Johann Rudolf Ahles aus Drittes Zehn Neuer Geistlicher Arien (Mühlhausen 1662) zurück. J.R. Ahles war der Vater von Joh. Gg. Ahles; beide waren Amtsvorgänger des jungen Bachs als Organisten an der Kirche Divi Blasii zu Mühlhausen.


    Gruß aus der Kurpfalz


    Bernhard