ZitatOriginal von musicophil
Du bist also, mit mir, die Meinung zugetan, daß Schubert von den Gedichten mehr machte, als da eigentlich inne war? Ich will nicht behaupten, daß sie schlecht sind, aber ziemlich "billig". Zu sentimental. Es gab ja aber auch den jungen Werther...
Lieber Paul
Ich versuche die Frage allgemeiner und unabhängig von der "Winterreise" allein zu beantworten, diese allerdings dabei nicht zu vergessen.
Gedichte werden in der Regel geschrieben, ohne dass die Absicht besteht, sie zu vertonen. Das gilt für Goethes "Ganymed" wie für Wilhelm Müllers Gedichte wie für Heines "Ihr Bild". Einige Gedichte scheinen sich vor allem für Vertonungen anzubieten, etwa wenn sie im Titel schon die Bezeichnung "Lied" führen.
Gedichte haben eine Vielzahl von sprachlichen und rhythmischen Strukturen. Viele davon werden durch das Sprechen sinnlich erfahrbar. Andere sind durch das Lesen erkennbar. Werden sie in eine Melodie gefasst und gesungen, gehen sie z.T. verloren. Deshalb hat Goethe das anspruchslose Strophenlied dem durchkomponierten Lied, Zelter also Schubert vorgezogen, wo eine anspruchslose Begleitung zu einer ansprechenden Melodie möglichst wenig von dem sprachlichen Kunstwerk verstellt.
Je anspruchsvoller die Komposition (das betrifft Stimme wie Begleitung) wird, umso weniger kommen die sprachlichen Strukturen der Dichtung zur Geltung - es sei denn, der Komponist betont sie, lässt sie mit musikalischen Strukturen korrespondieren oder findet andere Wege, sie zur Geltung zu bringen.
Deshalb scheinen zunächst einmal "anspruchslosere" Gedichte, die dann vielfach von dem Komponisten gedeutet werden können, einer Liedkomposition näher zu liegen - wie eben die einfach gestrickten, wenn auch nicht anspruchslosen Gedichte von Wilhelm Müller, dem wir die beiden bedeutenden Liedzyklen Schuberts verdanken. Nicht, dass Schubert den Gedichten etwas hinzufügt, was nicht in ihnen zu finden wäre, sie lassen sich durch ihre klare Form gut liedhaft umsetzen, ihr Gefühlgehalt lässt sich musikalisch widerspiegeln.
ZitatIch glaube sogar, daß das bei vielen Lieder den Fall ist. Und daß man das vergleichen kann mit schlechten Libretti, die durch die Musik (und gute Sänger) noch zu etwas gedeihen.
Wenn man allerdings die Lieder sich ansieht, die im Bereich des Kunstliedes in der Rezeption die größte Rolle spielen, so sind es weniger die anspruchslosen, von den Ronsard-Vertonungen, über die ich in einem anderen Zusammenhang berichtete zu den wunderbaren Vertonungen von Rimbauds "Illuminations" durch Britten und Henze sind es gerade die komplexen Gedichte, die zu großen Liedkompositionen beflügeln. In der Moderne ist die bewusste Wahl von großer Lyrik eher im Verhältnis häufiger geworden als weniger häufig.
ZitatAndererseits "steuert" der Komponist manchmal auch: er ändert gelegentlich was. Als Beispiel gebe ich hier "das Veilchen" von Mozart, wo er die Zeile "Das arme Veilchen! Es war ein herzigs Veilchen". hinzufügte (sie wird übrigens manchmal weggelassen, habe ich verstanden).
Auch bei Schubert (u.a. die Reihenfolge der Lieder im Zyklus "Winterreise") gibt es Änderungen an dem Text im Gegensatz zum gedruckten Text.
ZitatJetzt also die Frage: was soll in Zweifelsfälle ausschlaggebend für die Interpretation sein? Die Worte des Dichters oder die Musik des Komponisten?.
Die Frage kann man auf jeden Fall eindeutig beantworten: die Musik des Komponisten, wie sie die Worte des Dichters interpretiert.
Liebe Grüße Peter