Die Bachkantate (160): BWV109: Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben

  • BWV 109: Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben
    Kantate zum 21. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 17. Oktober 1723)




    Lesungen:
    Epistel: Eph. 6,10-17 (Die geistliche Waffenrüstung)
    Evangelium: Joh. 4,46-54 (Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 25 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: Lazarus Spengler (1524)



    Besetzung:
    Soli: Alt, Tenor; Coro: SATB; Oboe I + II, Horn, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Chor SATB, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!


    2. Recitativo Tenor, Continuo
    Des Herren Hand ist ja noch nicht verkürzt,
    Mir kann geholfen werden.
    Ach nein, ich sinke schon zur Erden
    Vor Sorge, dass sie mich zu Boden stürzt.
    Der Höchste will, sein Vaterherze bricht.
    Ach nein! er hört die Sünder nicht.
    Er wird, er muss dir bald zu helfen eilen,
    Um deine Not zu heilen.
    Ach nein, es bleibet mir um Trost sehr bange.
    Ach, Herr, wie lange?


    3. Aria Tenor, Streicher, Continuo
    Wie zweifelhaftig ist mein Hoffen,
    Wie wanket mein geängstigt’ Herz!
    Des Glaubens Docht glimmt kaum hervor,
    Es bricht dies fast zustoß’ne Rohr,
    Die Furcht macht stetig neuen Schmerz.


    4. Recitativo Alt, Continuo
    O fasse dich, du zweifelhafter Mut,
    Weil Jesus itzt noch Wunder tut!
    Die Glaubensaugen werden schauen
    Das Heil des Herrn;
    Scheint die Erfüllung allzufern,
    So kannst du doch auf die Verheißung bauen.


    5. Aria Alt, Oboe I + II, Continuo
    Der Heiland kennet ja die Seinen,
    Wenn ihre Hoffnung hülflos liegt.
    Wenn Fleisch und Geist in ihnen streiten,
    So steht er ihnen selbst zur Seiten,
    Damit zuletzt der Glaube siegt.


    6. Choral SATB, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Wer hofft in Gott und dem vertraut,
    Der wird nimmer zuschanden;
    Denn wer auf diesen Felsen baut,
    Ob ihm gleich geht zuhanden
    Viel Unfalls hie, hab’ ich doch nie
    Den Menschen sehen fallen,
    Der sich verlässt auf Gottes Trost;
    Er hilft sein’n Gläub’gen allen.






    Im heutigen Sonntagsevangelium spielt zwar wieder einmal eine durch Jesus bewirkte wundersame Heilung eines Todkranken eine Rolle – das Besondere an dieser Geschichte ist aber, dass der eigentliche Heilungsvorgang gar keine größere Bedeutung hat und im Evangelium auch nicht weiter beschrieben wird (der Kranke tritt noch nicht einmal persönlich in Erscheinung).
    Der Schwerpunkt der Erzählung liegt vielmehr auf der Person desjenigen, der Jesus um Hilfe bittet: Ein Vater (als Beamter in königlichen Diensten stehend) berichtet Jesus von seinem todkranken Sohn und bittet ihn um Hilfe. Dieser erwidert fast lapidar und in aller Kürze: „Geh hin, dein Sohn lebt!“
    Der entscheidende Aspekt der Geschichte liegt nun in der Reaktion des Vaters – er glaubt dem Wort Jesu ohne nochmals nachzufragen oder irgendeinen Zweifel an dessen Aussage zum Ausdruck zu bringen und geht augenblicklich heim. Und noch auf dem Heimweg kommen ihn bereits seine Knechte mit der freudigen Botschaft entgegen, dass der todkranke Sohn wieder genesen sei. Es stellt sich heraus, dass die Genesung des Jungen genau in dem Moment geschah, in dem Jesus die Worte zu dessen Vater gesprochen hatte.


    Die Dichter der Kantaten, die Bach anlässlich des 21. Sonntags nach Trinitatis komponiert hat ( außer der hier besprochenen sind das noch die Kantaten BWV 38, BWV 98 und BWV 188 ), haben sich denn auch auf diesen Aspekt des Glaubens an das bloße Wort Christi ohne einen (zunächst) sichtbaren Beweis konzentriert – schließlich lässt sich aus der Reaktion des Vaters im Evangelium ein gutes Beispiel für alle Christen ableiten.


    Die hier besprochene Kantate beginnt mit einem umfangreichen Bibelwort-Chor, der einen Vers aus dem Markus-Evangelium (Kapitel 9 Vers 24) zum Inhalt hat, der das Thema des oben beschriebenen Sonntagsevangeliums ebenfalls in einem prägnanten Satz umreißt.
    Der kunstvoll gebaute Chorsatz überträgt jeder der vier Stimmen streckenweise die Führung über die anderen Stimmen (immer dann, wenn der recht kurze Gesangstext nach einem instrumentalen Zwischenspiel komplett neu vorgetragen wird) in der Reihenfolge Sopran-Alt-Bass-Tenor. Interessant sind in diesem Satz auch die Stellen, wenn der Chor z. B. das Wort „hilf“ besonders betont und diese Hilferufe dadurch einen besonders eindringlichen und flehenden bzw. verzweifelten Charakter bekommen. Das diesen Chorsatz begleitende Orchester behandelt Bach recht unabhängig vom Geschehen in den Gesangsstimmen, so dass der ganze Satz einen sehr konzertanten Charakter bekommt.


    Der weitere Verlauf der Kantate wird von je einem Rezitativ-Arien-Paar für den Solo-Tenor und –Alt bestimmt.


    Die in e-moll stehende Arie Nr. 3 erinnert (gerade im Vorspiel) mit bestimmten Wendungen in ihrem stark rhythmisierten Streichersatz an die bekannte Arie aus der Johannes-Passion „Ach, mein Sinn, wo willt du endlich hin?“, die Bach ein halbes Jahr später ebenfalls für einen Tenorsolisten komponieren wird – beide Arien klingen dadurch äußerst schmerzlich und verzweifelt. Die innere Zerrissenheit und das Hin- und Herschwanken, das der Text vorgibt, werden musikalisch so sehr eindrücklich vermittelt.


    Die Arie Nr. 5 (nach dem für die Kantate obligatorischen “dramaturgischen Umschwung stehend, der im Rezitativ Nr. 4 geschieht), ist in deutlich freundlicherem und zuversichtlichem Tonfall gehalten: Über einen ruhig dahinschreitenden Continuo-Bass eilen zwei geschäftig miteinander dialogisierende Oboen dahin. Die Alt-Stimme ergeht sich jedes Mal in ausdrucksvollen Koloraturen, wenn das Wort “streiten“ vorkommt.


    Den Schluss der Kantate bildet diesmal nicht der eigentlich übliche, kurze schlicht-vierstimmige Choral, sondern eine gewichtige Choralbearbeitung, die ebensogut eine Choralkantate Bachs einleiten könnte. Die Choralmelodie übernimmt – wie in solchen Choralsätzen meistens – die Sopranstimme, die (und das ist ebenfalls ein bei Bach häufig vorkommendes Merkmal) von einem Horn unterstützt und verstärkt wird. Die übrigen Stimmen (vokale wie instrumentale) umrahmen die Choralmelodie in bewegten Melodielinien.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Lieber Bach-Freund!


    Wieder mal vielen Dank für die mich einstimmende Interpretation dieser Bach-Kantate. In der Rilling'schen Interpration hatte ich die vorsichtige Beständigkeit und auch Zerrissenheit des Glaubenden gefunden. In der Tat, die Tenorarie (3) weist auf das 'Ach mein Sinn' der Johannes-Passion voraus.Der Schlußchoral mit der ausführlichen Choralbearbeitung hat musikalisch viel zu bieten. Trotzdem hat diese Kantate es schwer, ein Ohrwurm zu werden, eben weil Bach sich einem schwierigen Lebensthema stellt: eben die innere Wankelmutigkeit und Zerrissenheit.
    Hat Bach trotzdem gut hingekriegt, auch solche einer Kantate sollte man sich mit Aufmerksamkeit stellen.


    Adamo

    Magnificat anima mea

  • Ich muss zugeben, dass ich dem Einganschor dieser Kantate komplett verfallen bin. Einer der großartigen Bibelwort Chöre Bachs, was mir erst in jüngerer Zeit aufgefallen ist. Was für ein faszinierendes, expressives Thema. Der Orchesterpart mit seinem ausführlichen Eingangsritornell ist auch später ungewöhnlich eigenständig. Das Ritornell trägt ja sogar Züge eines Instrumentalkonzertes (Oboe I & Violine I als Solisten). Im Vokalpart übernimmt in schneller Folge immer wieder eine andere Stimme die Führung - der gesungene Text ist halt auch ziemlich kurz: "Ich glaube lieber Herr, hilft meinem Unglauben" (Markus 9,24). Dieser Ausruf entstammt der Perikope über die Heilung eines besessenen Knaben und wird vom Vater als Initiation der Heilung ausgerufen. Die Grundaussage: "Alles ist möglich, dem der da glaubt". Zum Sonntag der Kantate (21. SnT) gehört gar nicht diese Perikope, sondern eine Parallelstelle bei Johannes 4. Der unbekannte Textdichter stellt aber die markantere Markusstelle an den Beginn der Kantate. Das Grundthema der Kantate ist damit, aus der Moral der beiden Bibelstellen abgeleitet, der Gegensatz von Glaube und Unglaube.


    Großartige Musik, hervorragend dargeboten:

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)