Bedenkt man den exponierten Platz, welcher dem 1993 verstorbenen Bassisten Boris Christoff gemeinhin von der Fachwelt zugebilligt wird, wundert es schon etwas, dass er sich weder unter den ersten 50 Plätzen im Lieblingssänger-Thread wiederfindet, noch über einen eigenen Würdigungsort in diesen Hallen verfügt. Zumindest letzterem ist hiermit nun Abhilfe geschaffen. Eine Überlegung wert ist die Tatsache, ob für diesen Mangel an Tamino-Präsenz eventuell der Zeitraum entscheidend ist, in dem unzweifelhaft der Karrierehöhepunkt des Sängers zu datieren ist. In diesen, die 50er Jahre, datieren auch die maßstabsetzenden Aufnahmen des Bulgaren - und fallen damit in die berüchtigte "Mono-Lücke", also in die Phase, wo die Aufnahmetechnik nicht mehr ganz die weihrauchschwere Aura des historischen Tondokumentes atmet, aber auch noch weit vom technischen Quantensprung des Stereozeitalters entfernt ist. Oder liegt es doch an der geradezu verstörenden Individualität und Intensität des Stimmbesitzers, des Sängers, des Darstellers, ja letztendlich auch des Menschen Boris Christoff ?
Die markante Signatur der Stimme steht unter den Nachkriegsbassisten einzigartig da: Ein zum Knarzigen tendierendes, in seiner Textur manchmal geradezu schroff wirkendes Organ, dass vom - italienisch geschulten - Sänger dennoch mit einem erstaunlich gerundeten, sonoren Klang von üppigem Volumen und großer Schallkraft produziert wird. Der besondere Reiz des Sängers scheint mir nun nicht zuletzt davon auszugehen, dass Christoff dieses (natur)gewaltige Instrument mit herausragender Kontrolle und großer Musikalität zu spielen weiß. Selbst, wenn man eingesteht, dass er die Virtuosität der größten Italiener nicht ganz erreicht, so sind seine Möglichkeiten der feinen dynamischen und klanglichen Schattierungen doch immer wieder verblüffend. Da der Sänger üppigen Gebrauch von diesen Mitteln macht, gelingen Ihm Interpretationen, die hinsichtlich der Eindringlichkeit der Darstellung, und der Schärfe, mit der die Rolle gezeichnet wird, den Atem stocken lassen.
Die nachgelassenen Kritiken zeichnen ein fast diabolisches Bild der Bühnenpräsenz des Sängers, und auch auf der akustischen Klangbühne erreicht er eine Intensität des plastischen Gestaltens mit seinem Gesang, die für mein Empfinden von keinem anderen Sänger nach dem Krieg erreicht wurde, und auch davor wird es eng, am ehesten bietet sich natürlich der Vergleich mit dem legendären Schaljapin an. Ich sehe vor allem eine große Parallele mit dem Tenor Jon Vickers, jetzt vom Stimmfach mal abgesehen.
Das man mit solchen Begabungen schwerlich an einer Weltkarriere vorbeikommt, sollte niemanden verwundern. Der 1914 geborene, aus gutem Hause stammende, und deshalb schon früh mit allerlei Bildungsprivilegien ausgestattete, Sänger absolvierte zunächst ein Jura -Studium, bevor Ihm ein Stipendium, unter Vermittlung des Bulgarischen Königs, eine Ausbildung in Italien ermöglichte. Über sein eigentlich Debüt gibt es widersprüchliche Ansichten, ein Meilenstein in der internationalen Karriere ist sicherlich sein Rollendebüt im "Boris Godunov" am Royal Opera House Covent Garden 1949. Christoff hat ein Repertoire von 120 Rollen an vielen großen Bühnen der Welt gesungen, auch beispielsweise Wagner.
Mit diese Vielseitigkeit entzieht sich der Künstler einer Einengung in ein Stimmfach. Ein basso profondo ist er sicher nicht, die Tiefe war nie wirklich seine Stärke, aber trotz großer Expansion in der Höhe lehnte er beispielsweise den "Don Giovanni" ab, da Ihm die Tessitura zu hoch lag.
Auch der Mensch Christoff entzieht sich einer Einordnung. Wie Stimme und Physiognomie, schien sein Charakter auch sehr eigen und scharf konturiert. Das Ego des Sängers ist ebenso legendär, wie sein aufbrausendes Temperament, dem in einer Probe in der "Auto da fe"-Szene des "Don Carlo" fast Franco Corelli zum Opfer gefallen wäre. Von schier unerschöpflichem Selbstbewusstsein zeugt auch die Kuriosität, dass Boris Christoff in seinen Aufnahmen des "Boris Godunow" jeweils alle drei Bassrollen (Boris, Pimen und Varlaam) gesungen hat - eindrucksvoll, aber nicht zur vollsten Zufriedenheit der Kritik.
Wie auch immer, es bleibt neben vielen Anekdoten vor allem eine eindrucksvolle Diskographie, in der vor allem die großen Bassrollen des italienischen und russischen Repertoires zentral herausstechen. Zumindest kennen sollte man den "Boris Godunow" unter Dubrowen ( 1952, großartige Aufnahme mit dem jungen Gedda), und den Philipp, "Don Carlos" unter Santini 1954. Darüber hinaus befördert Christoffs Eindringlichkeit diverse Nebenrollen zur Hauptrolle, beispielsweise den Ramfis in der "Aida" unter Perlea und den Fiesco in "Simon Boccanegra" unter Santini. Unbedingt Gehör geschenkt werden sollte auch seiner verdienstvollen Einspielung der Lieder von Modest Mussorgsky.
Für wenig Geld bietet im Übrigen die folgende Low-Budget-CD einen guten Überblick über das Schaffen dieses zentralen Sängers in den russischen und italienischen Partien:
Gruß
Sascha