BWV 162: Ach! ich sehe, itzt, da ich zur Hochzeit gehe
Kantate zum 20. Sonntag nach Trinitatis (Weimar, wahrscheinlich 25. Oktober 1716)
Lesungen:
Epistel: Eph. 5,15-21 (Lasst euch vom Geist Gottes erfüllen; ermuntert einander mit Psalmen und Lobliedern)
Evangelium: Matth. 22,1-14 (Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 18 Minuten
Textdichter: Salomon Franck (1659-1725), aus dessen „Evangelischem Andachts-Opffer“ (1715)
Choral: Johann Rosenmüller (1652)
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Zugtrompete (“Corno da tirarsi”), Violino I/II, Viola, Continuo
1. Aria Bass, Zugtrompete (nur in der Leipziger Fassung), Streicher, Continuo
Ach! ich sehe,
Itzt, da ich zur Hochzeit gehe,
Wohl und Wehe!
Seelengift und Lebensbrot,
Himmel, Hölle, Leben, Tod!
Himmelsglanz und Höllenflammen
Sind beisammen!
Jesu, hilf, dass ich bestehe!
2. Recitativo Tenor, Continuo
O großes Hochzeitfest,
Darzu der Himmelskönig
Die Menschen rufen lässt!
Ist denn die arme Braut,
Die menschliche Natur, nicht viel zu schlecht und wenig,
Dass sich mit ihr der Sohn des Höchsten traut?
O großes Hochzeitsfest,
Wie ist das Fleisch zu solcher Ehre kommen,
Dass Gottes Sohn
Es hat auf ewig angenommen?
Der Himmel ist sein Thron,
Die Erde dient zum Schemel seinen Füßen,
Noch will er diese Welt
Als Braut und Liebste küssen!
Das Hochzeitmahl ist angestellt!
Das Mastvieh ist geschlachtet;
Wie herrlich ist doch alles zubereitet!
Wie selig ist, den hier der Glaube leitet,
Und wie verflucht ist doch, der dieses Mahl verachtet!
3. Aria Sopran, Continuo
Jesu, Brunnquell aller Gnaden,
Labe mich elenden Gast,
Weil du mich berufen hast!
Ich bin matt, schwach und beladen,
Ach! erquicke meine Seele,
Ach! wie hungert mich nach dir!
Lebensbrot, das ich erwähle,
Komm! vereine dich mit mir!
4. Recitativo Alt, Continuo
Mein Jesu, lass mich nicht
Zur Hochzeit unbekleidet kommen,
Dass mich nicht treffe dein Gericht!
Mit Schrecken hab’ ich ja vernommen,
Wie du den kühnen Hochzeitsgast,
Der ohne Kleid erschienen,
Verworfen und verdammet hast!
Ich weiß auch mein’ Unwürdigkeit:
Ach! schenke mir des Glaubens Hochzeitkleid;
Lass’ dein Verdienst zu meinem Schmucke dienen!
Gib mir zum Hochzeitkleide
Den Rock des Heils, der Unschuld weiße Seide!
Ach! lass’ dein Blut, den hohen Purpur, decken
Den alten Adamsrock und seine Lasterflecken,
So werd’ ich schön und rein
Und dir willkommen sein,
So werd’ ich würdiglich das Mahl des Lammes schmecken.
5. Aria Duetto Alt, Tenor, Continuo
In meinem Gott bin ich erfreut!
Die Liebesmacht hat ihn bewogen,
Dass er mir in der Gnadenzeit
Aus lauter Huld hat angezogen
Die Kleider der Gerechtigkeit.
Ich weiß, er wird nach diesem Leben
Der Ehren weißes Kleid
Mir auch im Himmel geben.
6. Choral SATB, (Zugtrompete?), Streicher, Continuo
Ach, ich habe schon erblicket
Diese große Herrlichkeit.
Itzund werd’ ich schön geschmücket
Mit dem weißen Himmelskleid;
Mit der güld’nen Ehrenkrone
Steh’ ich da für Gottes Throne,
Schaue solche Freude an,
Die kein Ende nehmen kann.
Das heutige Sonntagsevangelium berichtet vom bekannten Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl, in dem Jesus das Himmelreich mit einem König vergleicht, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtet und dazu seine Knechte aussendet, um die Gäste einzuladen, die aber nicht kommen wollen und allerlei fadenscheinige Gründe vorschieben, um der Feier fernbleiben zu können. Der König wird daraufhin sehr zornig und bestraft diese unwilligen Gäste. Stattdessen gibt er nun Auftrag, alle zur Hochzeitsfeier einzuladen, die auf den Straßen anzutreffen sind. Nachdem sich nun die Tische gefüllt haben mit den unterschiedlichsten Menschen, geht der König durch den Saal, um sich seine Gäste anzusehen und trifft auf einen Gast, der nicht hochzeitlich gekleidet ist und auf die entsprechende Frage nach seinem unpassenden Auftreten auch nichts zu entgegnen weiß (es war damals offenbar üblich, dass die Gäste vom Gastgeber passende Hochzeitsgewänder geschenkt erhielten, wie ich in einem Kommentar gelesen habe – demnach hat es der hier erwähnte Gast offenbar nicht für nötig befunden, dieses Gewand überhaupt anzuziehen). Auch dieser dem Fest unwürdige Gast wird daraufhin bestraft, in dem er hinaus in die Finsternis geworfen wird. Das Gleichnis endet mit dem berühmten Jesuswort: “Denn viele sind berufen, aber nur wenige sind auserwählt!“
Der Weimarer Poet Salomon Franck, der den Text zu dieser Kantate, die während Bachs Weimarer Zeit entstanden ist, verfasst hat, bezieht sich in seiner Dichtung sehr eng auf den Evangelientext und legt seinen Schwerpunkt auf die Furcht des geladenen Gastes, der ebenfalls befürchten muss, als sündiger Mensch (und Nachfahre des Ursünders Adam) der hohen Einladung nicht würdig zu sein und am Ende ebenfalls vom Fest wieder entfernt zu werden.
Bach hat diese Kantate – wie viele seiner Weimarer Kantaten – in einem eher kammermusikalischen Rahmen gehalten.
So ist z. B. die erforderliche Orchesterbesetzung auf ein Streicherensemble (plus Continuo-Gruppe) beschränkt. Erst für eine Wiederaufführung dieser Kantate während seiner Leipziger Zeit hat Bach eine Zugtrompete (hier offenbar als “Corno da tirarsi“ bezeichnet) zum Eingangssatz (und damit üblicherweise wohl auch für den Schlusschoral) hinzugefügt.
Die Häufung viele Sätze dieser Kantate, die lediglich eine Continuo-Begleitung zur Gesangsstimme aufweisen, liegt jedoch darin begründet, dass die originale Partitur verloren ist und das vorhandene Material wohl unvollständig überliefert worden zu sein scheint.
Alfred Dürr kann sich z. B. vorstellen, dass die Arie Nr. 3 ursprünglich noch einen Oboenpart (?) enthalten haben könnte...
Heutige Interpreten können daher aus dieser Not eine Tugend machen und sich hier kreativ betätigen – sofern dies gewünscht ist. Eine derart sparsam besetzte Kantate – also so, wie sich das hier besprochene Werk zunächst darstellt – kann ja durchaus auch einen Reiz haben.
Da es keinen Eingangschor gibt, wird auch in dieser Kantate wieder einmal ein (wahrscheinlich eh nur geringstimmiger) Chor nur für den kurzen Schlusschoral benötigt, so dass dieser ebenso gut auch von den sowieso beteiligten vier Solisten am Ende gemeinsam vorgetragen werden könnte, was den kammermusikalischen Effekt dieser Kantate weiter verstärken würde.
Wie in mehreren Kantaten Bachs (z. B. in BWV 3, BWV 146 oder BWV 33) steht als vorletzte Nummer (und damit quasi als „Höhepunkt“ des Werkes) ein Duett – hier zwischen Alt und Tenor. An dieser Stelle der Kantate ist die anfänglich so sorgenvolle und bange Stimmung der Hoffnung auf den Beistand Jesu gewichen, so dass das Duett Nr. 5 nun in einer zuversichtlichen Atmosphäre stattfindet.