Drei Leonoren und ein Fidelio

  • Ich berichte sicherlich nichts Neues, wenn ich sschreibe, dass es zu Beethovens einziger vollendeter Oper "Fidelio" [resp. "Leonore" in der Urfassung] insgesamt vier Ouvertüren gibt:


    1. Leonore I op. 138


    Komponiert nach meinen Unterlagen angeblich 1807 für eine Prager Aufführung, die aber nicht stattfand. Uraufgeführt wurde das Werk posthum am 17. Februar 1828.


    2. Leonore II op. 72a


    Komponiert 1804/1805. Uraufgeführt im Rahmen der Uraufführung der "Leonore" am 20. November 1805 im Theater an der Wien.


    3. Leonore III op. 72b


    Als Überarbeitung der Leonore II für eine revidierte Fassung der "Leonore" 1805/1806 komponiert bzw. bearbeitet. Uraufgeführt am 29. Marz 1806 im Theater an der Wien.


    4. Fidelio op. 72


    Komponiert 1814. Zur Uraufführung des "Fidelio" - der Leonore im neuen Gewand - am 23. Mai 1814 war die Ouvertüre noch nicht fertiggestellt und wurde am 26. Mai 1814 seitens des Komponisten quasi nachgereicht.


    * * *


    Soweit die Fakten, die ich finden konnte - da ich auf diesem Gebiet nicht so firm bin, bitte ich ggfs. um Korrekturen und Ergänzungen.


    Schleierhaft ist mir, wie op. 138 - wenn tatsächlich erst 1807 komponiert - die Nummer I bekommen konnte? In der Chronologie scheint da etwas nicht zu stimmen - oder die von mir eruierte Jahreszahl ist definitiv falsch. Gefallen finde ich an dieser Ouvertüre ohnehin nicht.


    Am besten gefällt mir nach einigen Tagen des Vergleichshörens definitiv die als Leonore II bezeichnete Fassung op. 72a. Ein spannendes, dramatisches und mitreißendes Werk! Welchen Teufel Beethoven geritten hat, diese faszinierende Ouvertüre durch einige Zugaben als Leonore III umzuwurschteln, ist mir ebenfalls rätselhaft. Ich finde III wesentlich uninteressanter und weniger spannend, obschon - natürlich - sehr ähnlich.


    Auch die eigentliche Fidelio-Ouvertüre gefällt mir weitaus weniger, als Leonore II - das Anfangsthema finde ich einfach "bescheuert" und das Seitenthema ist derart unbeethovensch... :rolleyes:


    Wie sieht Euer - möglichst begründetes - "Ranking" aus? Natürlich dürfen auch Eure Referenz-Einspielungen genannt werden.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Ulli
    Schleierhaft ist mir, wie op. 138 - wenn tatsächlich erst 1807 komponiert - die Nummer I bekommen konnte? In der Chronologie scheint da etwas nicht zu stimmen - oder die von mir eruierte Jahreszahl ist definitiv falsch. Gefallen finde ich an dieser Ouvertüre ohnehin nicht.


    Nach Konrad Küster, Beethoven, Stuttgart 1994, S. 176, handelt es sich bei op. 138 tatsächlich um die erste Leonoren-Ouvertüre. Beethoven habe sie auf Rat seines Freundeskreises vor der Aufführung von 1805 zurückgezogen und durch die zweite Leonoren-Ouvertüre ersetzt. Ulrich Schreiber dagegen bezieht das Werk auch auf die nicht zustandegekommene Prager Aufführung. Jedenfalls wurde Leonore I erst nach Beethovens Tod in einer Kopie in den Unterlagen des Komponisten entdeckt.



    Zitat

    Am besten gefällt mir nach einigen Tagen des Vergleichshörens definitiv die als Leonore II bezeichnete Fassung op. 72a. Ein spannendes, dramatisches und mitreißendes Werk! Welchen Teufel Beethoven geritten hat, diese faszinierende Ouvertüre durch einige Zugaben als Leonore III umzuwurschteln, ist mir ebenfalls rätselhaft. Ich finde III wesentlich uninteressanter und weniger spannend, obschon - natürlich - sehr ähnlich.



    Leonore II steht auch bei mir ganz oben - unglaublich die dramatische Zuspitzung vor dem Trompetensignal! Leonore III ist insofern konventioneller, weil sie der Sonatenform folgt - während bei Nr. II nach dem Trompetensignal gleich der triumphale Schluss kommt, folgt bei Nr. III erstmal die Reprise.


    Das Problem, das sich bei Nr. II und auch bei Nr. III aufdrängt: nach dieser enormen Dramatik, die die ganze Oper komprimiert vorwegnimmt, wirkt der singspielhafte Beginn mit Jaquino und Marzelline allzu harmlos. Sicherlich ein Grund für die relativ konventionelle Machart der Fidelio-Ouvertüre, mit der ich mich auch nie wirklich anfreunden konnte. Dann noch lieber Leonore I.


    Bereits Otto Nicolai hat 1841 Leonore III vor dem zweiten Akt spielen lassen, seit Gustav Mahler gibt es die öfter geübte (auch von Furtwängler befürwortete) Praxis, Leonore III zwischen Kerkerszene und Finale zu spielen.


    Michael Gielen hat 1998 in Stuttgart die Fidelio-Ouvertüre durch Leonore II ersetzt. Bei der Cambreling/Marthaler-Aufführung von 1997 in Frankfurt wurden alle drei Leonoren-Ouvertüren gespielt: I zu Beginn, II nach der großen Leonoren-Arie im ersten Akt und III an der seit Mahler gewohnten Stelle. Von der Fidelio-Ouvertüre erklangen nur einige Takte aus Lautsprechern.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo,


    Danke für die Anmerkungen.


    Zitat

    Leonore II steht auch bei mir ganz oben - unglaublich die dramatische Zuspitzung vor dem Trompetensignal! Leonore III ist insofern konventioneller, weil sie der Sonatenform folgt - während bei Nr. II nach dem Trompetensignal gleich der triumphale Schluss kommt, folgt bei Nr. III erstmal die Reprise.


    Mir gefällt diese Zuspitzung auch am Besten - besonders in der mir vorliegenden Gardiner-Einspielung - sehr gänsehautig! Was für eine Wucht!


    Zitat

    Das Problem, das sich bei Nr. II und auch bei Nr. III aufdrängt: nach dieser enormen Dramatik, die die ganze Oper komprimiert vorwegnimmt, wirkt der singspielhafte Beginn mit Jaquino und Marzelline allzu harmlos. Sicherlich ein Grund für die relativ konventionelle Machart der Fidelio-Ouvertüre, mit der ich mich auch nie wirklich anfreunden konnte. Dann noch lieber Leonore I.


    Da drängt sich mir eher die Frage auf, ob Beethoven anstelle zwei weiterer Ouvertürenversionen nicht besser dran gewesen wäre, am ersten Akt herumzuschrauben... aber das ist leicht gesagt und soll hier auch nicht Thema sein.


    Ich glaube, ich könnte einen "Fidelio" ohne die Leonore II [an welcher Stelle auch immer] - nicht ertragen.


    Zitat

    Von der Fidelio-Ouvertüre erklangen nur einige Takte aus Lautsprechern.


    ?( - Wie ist das zu verstehen?


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Ulli


    Da drängt sich mir eher die Frage auf, ob Beethoven anstelle zwei weiterer Ouvertürenversionen nicht besser dran gewesen wäre, am ersten Akt herumzuschrauben... aber das ist leicht gesagt und soll hier auch nicht Thema sein.



    Dieses ganze Experimentieren mit den Ouvertüren durch Beethoven selbst und durch seine späteren Interpreten deutet ja auch auf ein gewisses Ungenügen an der Oper selbst hin: Man will durch die zweite (Gielen) oder dritte (Nicolai, Mahler, Furtwängler) Ouvertüre das Ganze musikalisch "aufwerten".




    Zitat

    Ich glaube, ich könnte einen "Fidelio" ohne die Leonore II [an welcher Stelle auch immer] - nicht ertragen.


    Ich weiß nicht, ob außer bei den beiden genannten Aufführungen mit Gielen und Cambreling jemals Leonore II im Kontext der Oper gespielt wurde (ebenfalls ausgenommen natürlich die Ur-Leonore, wie z.B. bei Gardiner).



    Zitat

    ?( - Wie ist das zu verstehen?



    Regietheater ;). Die Anfangstakte erklangen aus den Lautsprechern des Gefängnishofes während eines Dialogs zwischen Rocco, Leonore etc. im ersten Akt.



    Viele Grüße


    Bernd