BWV 95: Christus, der ist mein Leben
Kantate zum 16. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 12. September 1723)
Lesungen:
Epistel: Eph. 3,13-21 (Paulus betet für die Stärkung des Glaubens der Gemeinde in Ephesus)
Evangelium: Luk. 7,11-17 (Auferweckung des Jünglings zu Nain)
Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 21 Minuten
Textdichter: unbekannt
Choräle: Nr. 1 - Jena (1609) & Martin Luther (1524); Nr. 3 – Valerius Herberger (1613); Nr. 7 – Nikolaus Herman (1560)
Besetzung:
Soli: Sopran, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe d’amore I + II, Horn, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Choral + Recitativo Tenor, SATB, Oboe d’amore I + II, Horn, Streicher, Continuo
Christus, der ist mein Leben,
Sterben ist mein Gewinn;
Dem tu’ ich mich ergeben,
Mit Freud’ fahr’ ich dahin.
Tenor
Mit Freuden,
Ja mit Herzenslust
Will ich von hinnen scheiden.
Und hieß es heute noch: Du musst!
So bin ich willig und bereit,
Den armen Leib, die abgezehrten Glieder,
Das Kleid der Sterblichkeit
Der Erde wieder
In ihren Schoß zu bringen.
Mein Sterbelied ist schon gemacht;
Ach, dürft’ ich’s heute singen!
Mit Fried’ und Freud’ ich fahr’ dahin
Nach Gottes Willen,
Getrost ist mir mein Herz und Sinn,
Sanft und stille.
Was Gott mir verheißen hat:
Der Tod ist mein Schlaf worden.
2. Recitativo Sopran, Continuo
Nun, falsche Welt!
Nun hab’ ich weiter nichts mit dir zu tun;
Mein Haus ist schon bestellt,
Ich kann weit sanfter ruh’n,
Als da ich sonst bei dir,
An deines Babels Flüssen,
Das Wollustsalz verschlucken müssen,
Wenn ich an deinem Lustrevier
Nur Sodomsäpfel konnte brechen.
Nein, nein! nun kann ich mit gelass’nerm Mute sprechen:
3. Chorale Sopran, Oboe d’amore I + II, Continuo
Valet will ich dir geben,
Du arge, falsche Welt,
Dein sündlich böses Leben
Durchaus mir nicht gefällt.
Im Himmel ist gut wohnen,
Hinauf steht mein Begier.
Da wird Gott ewig lohnen
Dem, der ihm dient allhier.
4. Recitativo Tenor, Continuo
Ach könnte mir doch bald so wohl gescheh’n,
Dass ich den Tod,
Das Ende aller Not,
In meinen Gliedern könnte seh’n;
Ich wollte ihn zu meinem Leibgedinge wählen
Und alle Stunden nach ihm zählen.
5. Aria Tenor, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
Ach, schlage doch bald, sel’ge Stunde,
Den allerletzten Glockenschlag!
Komm, komm, ich reiche dir die Hände,
Komm, mache meiner Not ein Ende,
Du längst erseufzter Sterbenstag!
6. Recitativo Bass, Continuo
Denn ich weiß dies
Und glaub’ es ganz gewiss,
Dass ich aus meinem Grabe
Ganz einen sicher’n Zugang zu dem Vater habe.
Mein Tod ist nur ein Schlaf,
Dadurch der Leib, der hier von Sorgen abgenommen,
Zur Ruhe kommen.
Sucht nun ein Hirte sein verlor’nes Schaf,
Wie sollte Jesus mich nicht wieder finden,
Da er mein Haupt und ich sein Gliedmaß bin!
So kann ich nun mit frohen Sinnen
Mein selig’ Aufersteh’n auf meinen Heiland gründen.
7. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
Weil du vom Tod erstanden bist,
Werd’ ich im Grab nicht bleiben;
Dein letztes Wort mein’ Auffahrt ist,
Tod’sfurcht kannst du vertreiben.
Denn wo du bist, da komm’ ich hin,
Dass ich stets bei dir leb’ und bin;
Drum fahr’ ich hin mit Freuden.
Das heutige Sonntagsevangelium (Die Auferweckung des Jünglings zu Nain) gibt uns heute Lebenden mancherlei Anlässe zur Interpretation. Unter anderem dürfte sicher der Aspekt der eigenen Sterblichkeit jedes Menschen berührt werden, aber auch der Wert des (irdischen) Lebens, die sprichwörtliche „zweite Chance“, die dem Jüngling des Evangeliums im wahrsten Sinne des Wortes durch die Auferweckung durch Jesus zuteil wird und die als Beispiel für das Innehalten und Nachdenken über den eigenen Lebenswandel jedes Einzelnen dienen kann.
Umso mehr überrascht eigentlich die Herangehensweise der Dichter der Barockzeit an diese biblische Geschichte –der zuletzt genannte Aspekt wird überhaupt nicht in Betracht gezogen – die ganze Vorstellungskraft richtet sich ausschließlich auf das Herbeisehnen des eigenen Todes und der Verachtung der als oberflächlich und trügerisch gebrandmarkten irdischen Welt (immerhin passt der tröstliche Gedanke an die eigene Auferweckung durch Jesus am Jüngsten Tage wiederum gut zum heutigen Sonntagsevangelium).
Das Alles ist sicher ganz typisches Gedankengut für diese Epoche, dennoch erschrecken mich manche Formulierungen wie “Mit Freuden,/ Ja mit Herzenslust/ Will ich von hinnen scheiden.“ oder Mein Sterbelied ist schon gemacht;/ Ach, dürft’ ich’s heute singen!“ in ihrer Kompromisslosigkeit.
Mit einer solchen Einstellung dürfte sich doch eigentlich niemand großartig um ein nennenswertes Auskommen im irdischen Leben, geschweige denn um völlig sinnlos erscheinende künstlerische Bemühungen ebenda geschert haben? Wozu hätten diese auch dienen sollen?
Umso schöner, dass Bach auch so kompromisslos weltverachtende Texte wie diesen hier zum Anlass für die Komposition wunderbarer Musik genommen hat.
Denn immerhin zur Ehre Gottes ("Soli Deo gloria!" heißt es ja oft als Überschrift geistlicher Kompositionen) konnte man ja wenigstens kreativ tätig sein, das schien mit dieser Einstellung vielleicht noch am wenigsten überflüssig...
Ähnlich wie in der Kantate, die er in der Vorwoche komponiert hatte (BWV 138) fällt hier der deutlich engere Bezug zum Choral auf, als es in der „klassischen“ Bachkantate, die lediglich einen schlichten Schlusschoral besitzt, eigentlich der Fall ist: Gleich vier verschiedene Choräle setzt Bach in dieser Kantate ein!
Vielleicht befand er sich zu der Zeit (September 1723) gerade in einer Phase, wo er verstärkt mit dem Einsatz von verschiedenen Chorälen in seinen Kantaten experimentierte, weil ihm erstmals die Idee aufgegangen war, einen ganzen Kantatenjahrgang zu komponieren, deren einzelne Kantaten jeweils auf einem zum jeweiligen Sonntag passenden Choral basieren?
Diese ehrgeizige Idee hat er mit Beginn seines 2. Leipziger Amtsjahres ja dann auch umgesetzt (ab BWV 20) und ich könnte mir gut vorstellen, dass er sich auf dieses Vorhaben gut vorbereitet und im Vorfeld einige kompositorische Möglichkeiten zu dieser Thematik, wie z. B. die Kombination „Choral plus Rezitativ“, ausprobiert hat.
An irgendeiner Stelle muss ihn ja die Inspiration zum Thema Choralkantaten überkommen haben – warum nicht bei der Konzeption einer Kantate wie dieser hier?
Freilich ist der Einsatz gleich vier verschiedener Choräle innerhalb ein und derselben Kantate „gegen die Spielregeln“, die er sich später selbst auferlegen sollte – dennoch ist diese Vielfalt nicht ohne Reiz, zumal die ausgewählten Choralstrophen textlich sehr gut zur todessehnsüchtigen Grundstimmung passen.