Verzierungen bei Opernarien - Sakrileg oder Bereicherung ?

  • Es gab sie eigentlich immer schon - jene Verzierungen die sich die Primadonnen (und teilweise auch die Tenöre) erlaubten, bzw schreiben ließen um ihre Kunst ins rechte Licht zu stellen.
    Diese Mode erfreute sich jahrhundertelang großer Beliebtheit.
    Irgendwann überwucherten diese Verzierungen jedoch (angeblich) die Werke und man feierte die "Wende"


    Nur mehr vom Komponisten geschriebene Noten durften gesungen werden - die Arien wurden "gesäubert" - man hörte "Komponist pur"


    Eine der ersten Aufnahmen wo das radikal durchgezogen wurde, war jene des "Barbier von Sevilla" unter Abado. Das Ergebnis wurde zwar von der Kritik bejubelt - aber aus meiner Sicht kam eine staubtrockene, wenig spielfreudige Aufnahme zustande.


    Viele Jahre sind seither ins LAnd gezogen - und plötzlich - welche Überraschung finden sich wieder Verzierungen in Neuaufnahmen, siehe als Beispiel die Ausschmückungen des Cembaloparts bei den Rezitativen in Mozarts "Figaro" in der Einspielung unter Rene Jacobs....


    Ich spreche hier - wie man sieht nicht nur von sängerischen Verzierungen, sondern von solchen überhaupt.


    Wie seht ihr das Problem ? Sind Verzierungen aus Eurer Sicht Verfälschungen des Werks - oder aber willkommene Abwechslungen und Bereicherungen ??


    Beispiele von geglückten oder weniger geglückten Aufnahmen sind gerne gesehen


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo, Alfred,


    Sakrileg oder Bereicherung? - Ich würde hier mit einer typischen Juristenantwort aufwarten: Es^kommt darauf an.


    Die Soprane und Tenöre wollen damit ja gerne einen besonders hohen Ton zeigen, und wenn das a) gelingt und b) wirklich passt, finde ich es bereichernd. Man beschreitet allerdings einen schmalen Grat, und wenn der überschritten ist in Richtung Protzerei, dann kann eine solche Veränderung auch irgendwie billig wirken.


    Aufnahmen zu letzterem Beispiel habe ich nicht, nur Live - Hörerlebnisse.


    Es kommt auch auf Epoche und Komponisten an. Rossinis Werk, Barock und alte Musik lassen es oft zu, ja, es gehört sogar zu den implizierten Stilelementen, bei Verdi schon eher selten (allenfalls den hohen Ton eben), bei Wagner gar nicht (Stichwort: Werktreue). Beispiel: Rossini - Arien für mezzo mit Ewa Podles (Naxos). M. E. gelungen.


    Und - noch eine Variante: Es gibt Arien, die als Vorsingarien nur zu gebrauchen sind, wenn noch ein Abschluss hinkomponiert wird. Z. B. Mon Coeur s´ouvre a ta viox, Dallilah, SaintSaens.


    Grüße



    Ulrica

  • Salü,


    ich schließe mich da meiner Namenvetterin gerne an, die da meint "es kommt darauf an". Mozart beispielsweise hat, was den Gesangspart betrifft, die Verzierungen weitestgehend auskomponiert, da er der Meinung war, dass Sänger und Sängerinnen dieser durchaus geduldeten Eigenmächtigkeit nicht gewachsen waren. Auch hat Mozart auf den Wunsch seiner Schwester hin Auszierungen zu eigenen Klaviersonaten komponiert, die heute meistens gespielt werden. Da hierzu auch die Urfassung vorliegt, mag man diese Auszierungen durchaus als Vorschläge auffassen. Man muß sich nur darüber in Klaren sein, dass diese Vorschläge - wenn überhaupt - schlecht zu toppen sind. Bei den Gesangsstimmen hingegen fällt wohl die Unterscheidung schwer, ob die Auszierung nun als solche zu betrachten oder doch weitaus mehr - nämlich unverzichtbarer Bestandteil der Komposition - geworden ist.


    Im Orchesterpart ist bei Mozart sicherlich nichts auszuzieren, ganz im Gegenteil zu Arien bei Händel, deren da-capo-Teil eigentlich immer - sowohl [und überwiegend] bei den Sängern als auch im Orchester - ausgeziert wurde. diese Arien waren dazu konzipiert. Bei Mozart ist das nicht mehr der Fall - er hat ganz bewußt thematische Variation hinzugenommen oder bewußt weggelassen.


    Sehr fragwürdig ist m. E. immer der 2. Satz des A-Dur-Konzertes KV 488 - hier meinen manche Interpreten stets die angebliche Langweiligkeit des Satzes durch ebensolche Auszierungen kompensieren zu müssen/dürfen.


    Bei Opernarien gibt es m. E. bei Mozart [ausgenommen die frühen Opern bis vor Idomeneo] sicherlich keine Diskussionsgrundlage. Man darf aber sicher davon ausgehen, dass Mozart, wenn er die Leitung einer eigenen Opernaufführung übernommen hatte, nicht steif am Cembalo saß und stur harmonisierte.


    ;)


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Von Sängern wurde jahrhundertelang regelrecht erwartet(und wird es teilweise heute noch!!!!) dass sie Kadenzen mit virtuosen Koloraturen auszieren. Bei den Kastraten z.B. hat das, wie allgemein bekannt, derartige Ausmasse und Extrelmitäten erreicht, dass Händel selbst seine Kadenzen ausschrieb und sich versuchte gegen weitere Auszierungen zu wehren.
    Dei Auszierungspraxis zum Zwecke sängerischer Bauchpinselei fand nach dem Barock einen weiteren Höhepunkt im sogenannten Belcanto-Repertoire(Bellini, Donizetti, Rossini, früher Verdi) Dort haben Primadonnen und Tenorissimi sich einen Wettstreit geliefert, wer wohl die gewagtesten und prachtvollsten Schlusskadenzen zustande brächte.
    Es gibt ganze Lehrbücher mit Kadenzvorschlägen für Belcanto-Arien, die noch heute Referenzcharakter haben. Wer z.B. Verdis Caro nome irgendwo vorsingt und nur das bringt, was i nden Noten steht, hat kaum eien Chance. Es wird absolut erwartet, dass am Schluss statt des cis3 ein dis3 gesungen wird und wer das nciht tut...... :boese2:
    Ganauso bei Lucia, Traviata etc etc. Ich spreche nur von den Sopranen, den Tenören geht es ja nciht anders.
    Alagna hat in der skandalösen Aida an der Scala NUR das gesungen, was da stand und wurde gnadenlos ausgebuht(nciht nur deswegen aber AUCH deswegen.
    Wer Authentizität propagiert, muss sich über die Folgen klar sein...... ;)
    Ich selbst halte es auch mit den Vorrednern: kommt drauf an und zwar den guten Geschmack :yes:!

  • Zitat

    Original von Fairy Queen
    Von Sängern wurde jahrhundertelang regelrecht erwartet(und wird es teilweise heute noch!!!!) dass sie Kadenzen mit virtuosen Koloraturen auszieren.


    Kadenzen bzw. u. U. auch Fermaten sind ja auch eben dazu da. Ich dachte, es ginge eher um den reinen Notentext und Auszierungen dazu.


    ?(


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo,


    wie sieht es in dem Lamento des ersten Aktes von Glucks "Orfeo ed Euridice" aus?
    Ich weiß nicht, welche Verzierungen vom Komponisten angegeben wurden; ich habe jedoch zwei ganz unterschiedliche Aufnahmen:


    Kathleen Ferrier singt den Orfeo dramatisch, intensiv und - so höre ich es jedenfalls - recht geradlinig, ohne weitere Verzierungen.
    Marilyn Horne bringt in dieses Stück Verzierungen hinein, die ich bei anderen (zumindest den früheren) Orfeos eigentlich nie höre. Und es wirkt auf mich absolut nicht gekünstelt oder geschmäcklerisch, sondern mindestens ebenso bewegend wie die Aufnahme mit Kathleen Ferrier: ein wirklich orphischer Klagegesang.


    :hello: Petra

    Einmal editiert, zuletzt von petra ()

  • Wie so oft, ist es eben weniger eine Frage des Ob als eine des Wie, das heißt des Ausdrucks.


    Auch ich finde bekanntlich den ORFEO Marilyn Hornes hinreißend und möchte nicht darauf verzichten, denn ihre Auszierungen passen perfekt zu dem virtuosen Sänger Orpheus, den sie interpretiert, und zum Glück ist Solti ganz bei der Sache.


    Kathleen Ferrier singt einen viel innigeren Orpheus, dem das schlecht anstehen würde, selbst wenn sie die Koloraturen ebenso virtuos wie Horne hätte bewältigen können.


    Störend wird es immer dann, wenn der Sänger ohne Rücksicht auf die Rolle mit seinem Material prunken will. Ich kann mich an eines der wenigen Male erinnern, wo ich nach dem Ende des ersten Aktes gebuht habe, obwohl ich das damalige Opfer Kostas Paskalis ansonsten stets sehr schätzte. Es war bei einem RIGOLETTO mit Ileana Cotrubas, wo er ihre wunderbare Gilda regelmäßig mit überlang gehaltenen Tönen und gelegentlichen Verzierungen ausstach und sie so zum Forcieren zwang.


    Zu den Unarten eines Bonisolli in dieser Richtung gibt es ja bereits einen eigenen Thread. Andererseits mag ich mir eine Sutherland oder Gruberova ohne Verzierungen im Belcanto-Repertoire nicht vorstellen.


    Also gilt auch meine Stimme dem "kommt darauf an", und zwar darauf, ob es dem dargestellten Werk und Rollencharakter entspricht. Für Instrumentalmusik gilt m. E. Ähnliches, wobei der Rollencharakter durch den der Interpretation insgesamt zu ersetzen wäre.


    Beim Vorsingen gelten m. E. ohnehin andere Bedingungen, denn da kommt es in der Regel wohl eher darauf an, das "Material" zu demonstrieren als die Charakterisierungskunst. Dazu mögen sich aber besser andere äußern, die damit ihre eigenen Erfahrungen haben.


    :hello: Rideamus

  • Zitat

    Original von petra
    wie sieht es in dem Lamento des ersten Aktes von Glucks "Orfeo ed Euridice" aus?


    Ich weiß nicht, welche Verzierungen vom Komponisten angegeben wurden; ich habe jedoch zwei ganz unterschiedliche Aufnahmen:


    Hallo,


    ich kann hier nur eine Vermutung anstellen, da ich keine Partitur besitze: Es gibt ja vom Orfeo zwei authentische Fassungen Glucks: Zum einen die Urfassung in italienischer Sprache [1762, Wien] und zum andern die französische Fassung [1787?, Paris]. Eventuell hängt es daran, da für die französische Fassung einige gravierende Änderungen [vermutlich auch das Einfügen von Koloraturen bzw. Auszierungen] von Gluck vorgenommen wurden.


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo zusammen!


    Auch ich sage, es kommt darauf an, oftmals sind Verzierungen und hohe Schlußnoten jahrzehntelanges "Gewohnheitsrecht" von Sängern und Publikum. Ich denke da nur an das hohe C in der Stretta Manricos in Trovatore, das Verdi so nicht geschrieben hat, oder an die Rigoletto-Rufe "Zum Flusse", mit ihren zweimaligen Steigerungen. Wenn ich einmal, wie es in beiden Fällen passiert ist, die Originalfassungen höre, fehlt mir ganz einfach etwas, weil ich es eben immer so gehört habe, auch bei den Sängern hatte ich den Eindruck, dass ihnen diese gewohnte Interpretation abgeht, und sie sie viel lieber gesungen hätten, weil der Effekt natürlich für sie ein viel Besserer ist.

  • die frz. Fassung stammt von 1774 - leicht zu merken, da Marie Antoinette Gluck nach Paris holte (im Jahr 1774 erhielten Louis Auguste Duc de Berry und Marie Antoinette die Krone Frankreichs).


    Orphée et Euridice sowie Iphigenie en Aulide wurde in diesem Jahr gegeben und als Zeichen einer neuen Epoche in Frankreich gewertet.


    Die frz. Fassung ist insgesamt besser und "reicher", es gibt zusätzliche Arien - wie die Koloratur-Arie des Orphée und die zusätzliche Ballettmusik.
    Außerdem ist Orphée für einen Tenor eingerichtet was die Rolle wesentlich glaubhafter macht.



    Zum Thema:
    Ich halte Auszierungen in der ital. Musik nicht für eine Bereicherung sondern für ein Muss. Und das betrifft nicht nur die Oper.


    Die Kunst der Verzierung war weitverbreitet und eine besondere Gelegenheit für Künstler ihr Können zu zeigen.
    Gerade in den Barockopern ist das wichtig.



    :hello:

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  • Salü,


    in Barockopern mag das wichtig und richitg sein, denn dort ist die notierte Stimme häufig nur als eine Art "Gerüst" zu betrachten. Aber Gluck, der nunmal keine Barockopern komponierte ;) hätte sich alle französischen Fassungen seiner italienischen Werke sparen sollen. Lieber hätte er etwas Neues komponieren sollen, als den alten Kram zu verwursten.


    Ich mag französische Opern sehr gerne - allein der Sprache wegen. Aber diese Eigenbearbeitungen durch Gluck sind mir zuwider. Auch, wenn es ein paar neue ganz nette Arien gibt, die italienischen Versionen von Orfeo und Alceste sind einfach schlanker und dadurch für meinen Geschmack sehr viel dramatischer. Das ganze überladene französische Zierwerk stört da erheblich und diente ja nur dem einen Zweck: das Pariser Volk und den Lullisten einzulullen. :D


    Weniger ist meistens mehr - gegen ein paar Auszierungen an der richtigen Stelle zur Verdeutlichung des Ausdrucks ist ja nun wahrlich nichts einzuwenden, aber auf Teufel komm raus alles knallbunt anzumalen...? Nein Danke.


    Natürlich mag ich auch Koloraturarien. Aber ich unterscheide hier Qualitativ zwischen solchen, in denen die Koloratur den Ausdruck verstärkt bzw. überhaupt erst herbeiführt [beispielsweise "Der Hölle Rache" oder "D'Oreste, d'Aiace"] und solchen, die lediglich oder überwiegend den Zweck verfolgen, dass Publikum zu beeindrucken ["Martern aller Arten..."]. Daß Mozart selbst die Martern-Arie nicht sonderlich schätze, ist sogar schriftlich festgehalten:


    [..] die aria der konstanze habe ich ein wenig der geläufigen gurgel der Mad:elle Cavallieri aufgeopfert. [...]


    Zitat

    Original von der Lullist
    die frz. Fassung stammt von 1774 - leicht zu merken, da Marie Antoinette Gluck nach Paris holte (im Jahr 1774 erhielten Louis Auguste Duc de Berry und Marie Antoinette die Krone Frankreichs).


    Du mußt mir meine Fehldatierung schon nachsehen. 1774 war ich nicht mal ein Jahr alt... und es ist schon 'ne Weile her.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo Taminos,


    mir fallen spontan einige Abweichungen bzw. eigene Auszierungen ein, die manche Stücke nicht nur geprägt, sondern geradezu erst erschaffen haben.


    2 Beispiele: Oscars "Saper vorreste" von Luisa Tetrazzini; "Enfin chérie" aus Le Cid von Pol Plancon


    oder, noch idiomatischer, der Kurz-Triller.


    Bei Erna Sack geht mir das Gepiepse irgendwann auf die Nerven.


    Gruß aus Berlin,



    Christian

  • Ich bin ja nicht gerade der große Gesangskenner, meine aber einwerfen zu dürfen, daß es im 18. Jh. den sogen. Canto Fiorito gegeben hat, hauptsächlich wohl von Kastraten gepflegt. Die große Kunst hat, wenn ich das recht erinner, darin bestanden, die fiorituren auf einem Atem zu singen. In unseren Tagen beherrscht diese Kunst perfekt der amerikanische Tenor Rockwell Blake.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Eine perfekte Einführung in den „Canto Firorito“ und in die Kunst von Rockwell Blake hat mich vor einigen Jahren erreicht, als im alten Wagnerforum über dieses Thema diskutiert wurde. Autor ist Klaus-Ulrich Spiegel ein außerordentlch sprachmächtiger und kenntnisreicher Mitdiskutant, mit ToBa seinerzeit das Forumsrückrat für alles, was mit Stimmen, Oper und Gesang zu tun hatte. KUS –so sein Forums-Kürzel ist überdies Mitherausgeber von Kestings „Stimmen des Jahrhunderts“ KUS war seinerzeit so freundlich, mir eine CD zusammenzustellen, dir das Mirakulöse der Kunst von Rockwell Blake zeigt. Dazu gab es die nachstehenden Erläuterungen:


    „Hörern, die sich noch nicht vertieft mit der Kunst der "Alten Schule", des Canto Fiorito, also mit dem reichverzierten Kunstgesang (einer Form auch besonderer "Künstlichkeit" und Kunstfertigkeit) beschäftigt haben, es damit eher gewohnt sind, den puren Reiz einer Stimme oder die Ausdrucksintensität einer gesanglichen Gestaltung zu rezipieren, mag bei den ersten Tönen dieses Sängers erstaunter oder ablehnender Affekt ankommen. In der Tat handelt es sich um ein durchaus mittelmäßiges, wenig bedeutendes Naturorgan. Darum geht es aber nicht - so wenig wie bei de Lucia, Bonci, Tauber, Patzak, Häfliger, vor allem Schipa oder Schiötz. Gerade weil wir es hier mit einem jener Sänger zu tun haben, die nicht über ein sog. "Gottesgeschenk" verfügen und sich mit einem solchen begnügen, gewinnt er so besondere Suggestivität: Er vollbringt mit relativ wenig Basis ungeheuerliche, unerhörte, unglaubliche Leistung und Wirkung. Er beherrscht die Kunst des Belcanto, genauer: des Canto Fiorito, noch genauer: der Beherrschung sämtlicher (auch der extremsten) Methodiken und Formeln der sängerischen Grammatik, mehr noch, all dessen, was einer singenden Menschenstimme möglich ist.


    Sie sind deshalb herzlich von mir gebeten, sich die Zeit dafür zu nehmen, sich vollständig auf die Details - auf jede 16tel und 32stel Note zu konzentrieren. Denn im Detail muß man das Unglaubliche gefunden haben, um zum Süchtigen am Ganzen zu werden.


    An den Anfang hab ich bewußt einen Live-Ausschnitt gestellt, dem der zweite Teil in einer Studio-Aufnahme folgt. Das Live-Stück stammt aus dem Video einer Live-Aufführung in Genf - auf MC überspielt und dann mehrfach wieder übertragen, also reichlich in Farbe und Sound verzerrt, ähnlich der Ausschnitt aus L'Occasione gegen Ende der MC. Was immer dieser unerhörte Sänger vor dem Mikro zustande bringt, liefert er auch auf offener Bühne -ich kann's durch Zeugenschaft bekräftigen.


    Worauf soll ich insbesondere hinweisen? In jeder Cavatina präsentiert sich ein ans Mirakulöse grenzender Instinkt für richtiges Timing, für das Verhältnis von Legato-Linie und Verzierungs-Akzent. Fabulös die langen Melismenbögen in "La Donna del Lago", grandios die Rouladenketten in "Barbiere" und das ständige Wechseln von gebundenen Figuren und Intervallsprüngen in "Otello". In jeder Nummer eine komplette Präsentation aller Schwierigkeitsstufen und Artistik-Forderungen, die im Bereich des je Gesungenen bzw. Notierten für möglich erachtet wurden, darunter geradezu mirakulöse Triller.


    Der absolute Wahnwitz, für mich ein Unikat im gesamten für mich überschaubaren Bestand auf Tonträgern festgehaltenen Gesangs seit Erfindung derselben: die zweite Cavatina + Caballetta aus Semiramide "Ah! dov'e". In der jeweiligen Reprise von Cavatina und Caballetta verdoppelt der Sänger die ohnehin schon irrwitzigen Verzierungen nochmals. In der Wiederholung in der Caballetta nimmt er die aufsteigenden Terzensprünge im Finale mit einer sich nochmals steigernden Verzierungsfülle - auf den betonten Noten beim erstenmal mit Triolen, beim zweitenmal mit Gruppetti, beim drittenmal mit Gruppetti plus Vorhaltnote. Das alles in rasendem Tempo. Danach ohne abzusetzen ein Quintenlauf mit abschließendem, nochmals crescendiertem Sprung aufs D" - und das Irrste daran: alles auf demselben Atem!!!


    Überhaupt - ich weiß keinen Sänger, der eine so unglaubliche Atemkunst vorführt wie Blake. Man hat in den Caballetten stellenweise den Eindruck (der vermutlich nicht täuscht), daß er 10, 12, 14 Takte mit den vertracktesten Verzierungen durchläuft, ohne ein einzigesmal zwischenzuatmen. So etwas hab ich nirgends je vor- oder nachher zu hören bekommen. Dabei wirkt der Vortrag immer belebt. Blake pfeift offenbar - bei aller Virtuosität - auf das akademische Gebot der Alten Schule, so linear und damit instrumental wie möglich zu singen, also nicht den Hauch einer Ausdrucksgeste einzusetzen (wie in den wundervollsten Aufnahmen von Pol Plancon zu hören). Im Gegenteil singt er durchaus "mit Biß", setzt auch Vibrato ein, läßt gelegentlich sogar (und das ist nun ein regelrechter Verstoß gegen die Gesetze!) ein winziges Japsen hören. Also keineswegs ein "kalter Virtuose", "Sänger um des Singens willen" etc.. wie Wichtigtuer à la "Friedmund" [zum besseren Verständnis:Friedmund=Brighella. TP] meckern mögen - sondern einer, der die Kunst des Belcanto aus Rossinis Napoli-Phase so spannend und süchtigmachend wie nur denkbar vorführt. Schließlich: Nach oben scheint die Stimme überhaupt keine Grenzen zu kennen - manchmal meint man. überm Do di petto geht's erst richtig los.“


    Was KUS hier beschreibt, kann ich –was die angesprochene MC betrifft- rundheraus bestätigen. Ich erinnere mich, daß ich seinerzeit ungläubig über das Gehörte mit meinem Kopfhörer dasaß. Seine Ausführungen scheinen mir für diesen Thread mehr als interessant, die Einwilligung, diese privaten Zeilen hier zugänglich zu machen, habe ich selbstverständlich erbeten und gewährt bekommen.


    Wenn gewünscht werde ich mal zusammentragen, was von dieser MC auf dem CD-Markt verfügbar ist.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Hallo zusammen,


    in letzter Zeit fällt mir öfters auf, daß bei Mozarts "Entführung" die Belmonte-Arien mit Verzierungen und Schnörkeln versehen werden, die vermutlich nicht in Mozarts Sinne waren, sonst hätte er sie gleich so komponiert.
    Eklatantes Beipiel: Daniel Kirch in der Frankfurter Inszenierung. Hier kommt erschwerend hinzu, daß der Sänger mit seiner etwas brüchig wirkenden Stimme sich mit Koloraturen quält, die dem Genuß des Werkes nicht gerade zuträglich sind.
    Bei Piotr Beczala hört sich das schon gefälliger an, doch ich bevorzuge immer noch die normal gesungene Version. Meßlatte für die Belmonte-Partie ist ohnehin die Baumeister-Arie, die hat Koloraturen genug und wer die beherrscht, hat seine Arbeit gut getan.
    :hello:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Zitat

    Original von Santoliquido
    ...
    Wenn gewünscht werde ich mal zusammentragen, was von dieser MC auf dem CD-Markt verfügbar ist.


    Du kannst gleich einmal die Ärmel aufstricken!


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus
    Du kannst gleich einmal die Ärmel aufstricken!


    :hello:


    Textiles Werken gehört nicht zu mein Stärken.
    Darf ich um Aufkärung bitten?
    :hello:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • "aufstricken" bedeutet in der blumigen Sprache unser alpenländischen Freunde soviel wie aufkrempeln. Vermutlich wurde Dir letzteres geraten wegen der zumeist sehr unterschiedlichen Meinungen zu diesem Thema, die sicher noch kundgetan werden. ;)



    Aber immerhin geht es dann beim Disput mal nicht um AN; Karajan oder den Inszenierungsstil. ;):D


    Gruß
    Sascha

  • Lieber Thomas,


    daran wäre ich sehr interessiert, zumal ich Rockwell Blake noch nie habe singen hören. Klingt ja wie eine moderne Version von de Lucia, nur ohne dessen leicht asthenisches Singen.


    Ich bin sehr gespannt.


    LG,


    Christian

  • Hi


    Zitat

    Original von Siegfried
    Textiles Werken gehört nicht zu mein Stärken.
    Darf ich um Aufkärung bitten?


    Für den Fall, dass es sich um ein lokales Idiom handelt: anstrengende manuelle Arbeiten werden in der Regel nicht in perfekter Adjustierung durchgeführt, sondern man richtet sich darauf ein, z.B. indem man die (Hemds-)Ärmel aufstrickt (zurückschiebt). "Ärmel aufstricken" wurde so zum Synonym für "eine Arbeit angehen".


    Es handelte sich in diesem Fall also um eine Aufforderung, sich ans Werk zu machen. :D


    :hello:



    PS: Es handelte sich um eine direkte Antwort auf Santoliquido. Ich hatte nicht gesehen, dass du in der Zwischenzeit eine Antwort zum Erstposting geschrieben hattest und so meinen Aufruf auf dich bezogen hast....

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Zum Belmonte kann ich hier zwar ncihts sagen, wohl aber zu frühen Mozartarien, in denen Verzierungen noch an der Tagesordnung sind und historisch vertretbar.
    Ich hantiere am liebsten nur mit Beispielen, die ich aus eigener praktischer Erfahrung kenne und führe hier "L'amero, saro costante" aus dem Ré Pastore an.
    Es handelt sich um eine über 6 Minuten lange dreitteilige Rondo-Arie mit Soloviolin-Begleitung. Die drei Teile sind von kleineren Modulationen abgesehen fast identisch und enden jeweils auch mit einer Kadenz.
    Würde man da nun die beiden Wiederholungen nicht auszieren und alle Kadenzen gleich singen, wäre das weder der Erwartung der Zeit entsprechend, wo Sänger soetwas selbstverständlich und selbständig können mussten und würde evtl auch etwas "langweilig" klingen, so ma das von einer solchen Arie überhaupt sagen kann.
    Ich habe mehrere Versionen der Arie gehört und jede Sängerin geht serh individuell damit um.
    Zusammen mit der Violine sind die Kadenzen heikler, als wenn man nur mit Klavier singt, Beides habe ich schon probiert und das ist ein gewaltiger Unterschied.
    Im Barock wurde erwartet, dass Wiederholungen von Da capo Arien ausgeziert wurden und wie heir schon jemand schrieb: das gehört einfach dazu.
    Der frühe Mozart hat sich anscheinend noch an diese Tradition angelehnt und den Sängern ja sogar in die Kehle komponiert, im issen, das selbige seine Kompositionen auch je nach vokaler Dispostion noch auszieren würden.
    Der mittlere und späte Mozart hat aber meines Wissens alles selbst ausgeschrieben und somit dürfte der Belmonte nciht unter die auszuzierenden Partien fallen. Das sollen aber bitte Mozart-Experten wie z.B.Ulli und Peter genauer sagen, ich kann mich da im Zeitpunkt sehr irren. :O
    Nochmal zum Thema allgemein:weniger ist mir meist mehr, aber ich erwarte, dass in barocken Werken sowie im Belcanto-Repertoire zumindest Da capo -Sachen ausgeziert gesungen werden. Man denke sich etwa eine Sonnambula mit "Ah non giunge", die beide Teile identisch singt! Das habe ich noch nie gehört udn es würde auch sicher als kompletter Traditions-und Stilbruch geahndet.


    Fairy Queen

  • Also ich schließe mich da gerne Fairy Queen an hinsichtlich des Auszierens des Barock- und Belcanto-Repertoires, da ist das Verzieren einfach Pflicht, weil es vom Komponisten so vorgesehen war, vor allem die Dacapo-Arien machen sonst wenig Sinn. Weiterhin ist zu bedenken, dass es da nicht nur um Selbstdarstellung des Sängers geht, sondern der musikalische Vortrag einfach ungemein belebt, und um ein spontanes Element bereichert wird.
    Wenn wir dann zu Werken kommen, wo einige Verzierungen schon einkomponiert sind, werden die Spielräume schon geringer. Was nicht heisst, wie beispielsweise bei Mozart, das man da gar nichts mehr auszieren sollte.


    Eine andere Seite des Problems sehe ich allerdings darin, dass heutzutage teilweise komponierte Verzierungen nicht mehr allzu ernst genommen werden, vor allem abseits von Barock- und Belcanto-Repertoire. Oben wurden ja schon die nicht komponierten Spitzentöne des Tenors angesprochen, die aber dennoch heute per Tradition verlangt werden. Nachdenklich sollte aber stimmen, dass beispielsweise eine Sichtung der Trovatore-Nachkriegs-Aufnahmen ergibt, dass zwar fast immer ein schallendes hohes C geschmettert wird, dafür aber sehr selten ein (sauber ausgeführter) Triller am Ende des "Ah sí, ben mio" zu hören ist. Nur ist dieser im Gegensatz zum Spitzenton in der Partitur notiert, technisch wird er aber zumeist von den schweren Stimmen, die heutzutage den Manrico singen, nicht beherrscht. Auch die Gruppetti im "Di quella píra" sind oft sehr schlampig ausgeführt, aber fachsimpeln tut alle Welt über den - nicht notierten - Spitzenton. ( In Der Baritonpartie des Padre Germont gibt es ja auch beispielweise vom "Di provenza Aufnahmen, wo Verzierungen gesungen werden oder auch nicht, ich weiß aber jetzt nicht, was in der Partitur notiert ist).
    Weiterhin ist es ja auch so, das sogar Wagner Verzierungen einkomponiert hat. Im Lohengrin zwar nur zumeist Schleifen und Vorschläge, aber in der Partie des Erik beispielsweise gibt es Gruppetti - die man meist erst bemerkt, weil sie der Sänger allzusehr durchschlenkert - und Brünnhilde muß heftig trillern. Auch das hört man selten gut ausgeführt.
    Ich habe ja neulich auch erst den Hinweis auf die Partie des Alfredo gebracht, wo Alfredo Kraus die Verzierungen der Partie minutiös ausführt. Vielen schwereren Stimmen, mit denen aber heutzutage diese Partien auch gerne besetzt werden, haben schlicht nicht die Beweglichkeit, bzw. es fehlt Ihnen die präzise Attacke des Tons und so verschwimmt das Ganze dann zu einem klanglichen Einheitsbrei. Ein weiteres Beispiel wäre die Traviata. Die Partie der Violetta ist zwar nicht wirklich verzierte Musik, aber das "sempre libera verlangt doch einiges an Agilität. Bezeichnenderweise hat Anna Netrebko in der Salzburger Aufführung diese Anforderung sehr schlecht bewältigt, die Stimme ist offenbar zu träge, die Attacke nicht präzise genug.
    Aufnahmen der Jahrhundertwende bieten da ein deutlich anderes Bild - und dürften näher an dem gewesen sein, was sich der Komponist vorgestellt hat.


    Das Ganze hat auch schon zu den kuriosesten Geschichten geführt. Berühmt ist die Anekdote, das Carlo Bergonzi im Teatro Regio in Parma das hohe B am Schluß von "Celeste Aida" im Piano sang - von Verdi so notiert, und wie jeder Sänger bestätigen wird, deutlich schwieriger im Piano, als im Forte auszuführen. Die Ausführung gelang - und brachte Ihm vom Publikum einen Buh-Orkan ein - man wollte lieber den Trompetenton, den man von den meisten Aufführungen und Aufnahmen gewohnt ist.
    (Helge Roswaenge beispielsweise, ja oft des unreflektierten Spitzentonstemmens gescholten, schließt die Arie im Piano ab, beispielsweise bei Preiser erhältlich).


    Liebe Grüße
    Sascha

  • Zitat

    Original von Antracis: Das Ganze hat auch schon zu den kuriosesten Geschichten geführt. Berühmt ist die Anekdote, das Carlo Bergonzi im Teatro Regio in Parma das hohe B am Schluß von "Celeste Aida" im Piano sang - von Verdi so notiert, und wie jeder Sänger bestätigen wird, deutlich schwieriger im Piano, als im Forte auszuführen. Die Ausführung gelang - und brachte Ihm vom Publikum einen Buh-Orkan ein - man wollte lieber den Trompetenton.


    Ein ähnliches Buh-Konzert soll George Thill an der Met empfangen haben, als er in der Cavatine aus Gounods "Faust" am Ende ein Diminuendo einlegte!


    Ich finde es auch jammerschade, dass kaum ein Manrico den Triller beim "Ah, si ben mio" hinbekommt (leider auch Jussi Björling nur in einer Aufnahme 1939, in den späteren Aufnahmen hat er sich den auch gespart).


    Von den Traviaten um 1900 habe ich gerade gestern einige sehr schöne Aufnahmen mit Auszierungen gehört, u.a. von Nellie Melba.


    :hello: Petra

  • Gioacchino Rossini schrieb am 12.Februar 1851 in einem Brief an Ferdinando Guidicini:


    ...Ich sage Ihnen also, daß der gute Sänger, um seiner Rolle gerecht zu werden, nichts anderes sein darf als ein tüchtiger I n t e r p r e t der Absichten des Komponisten ("concetti del Maestro compositore"), indem er versucht, sie mit ihrer ganzen Wirksamkeit zum Ausdruck zu bringen und in das rechte Licht zu stellen. Die Spieler dürfen ferner nichts anderes sein als genaue A u s f ü h r e r dessen, was sie geschrieben vorfinden. Der Komponist und der Dichter endlich sind die einzigen wahrhaften S c h ö p f e r . Geschickte Sänger pflegen bisweilen mit Verzierungen zu prunken, die sie selbst hinzufügen; wenn man das schöpferisch nennen will, meinetwegen. Es geschieht aber nicht selten, daß diese Schöpfungen unglücklich ausfallen, die Gedanken des Komponisten verderben und ihnen die nötige Einfachheit des Ausdrucks nehmen...
    ...schöpferisch sein heißt: a u s d e m N i c h t s h e r v o r b r i n g e n ("cavar da nulla"), der Sänger aber eines Werkes bedarf, d.h. der Poesie und der Musik, die nicht geschaffen hat...


    (Übersetzung von Walter Klefisch)



    LG


    Waldi

  • Man muß beim Lesen dieser Äußerungen von Rossini allerdings bedenken, welches Ausmaß zum damaligen Zeitpunkt Auszierungswahn und sängerische Willkür erreicht hatten.
    Die Melodien waren oft derart verfremdet, dass selbst der Komponist sie nur mit Mühe wiedererkennen konnte, der grundsätzliche Charakter der Musik wandelte sich teilweise drastisch. Insofern nicht unverständlich, dass gerade Rossini, der diesen Höhepunkt einer Entwicklung miterlebte, als einer der ersten seine Sänger in die Schranken wies.
    Das Ausmaß der Verzierungen, um die es heutzutage in den Diskussionen geht, ist da aber doch ein vollkommen anderes.


    Abschließend muß ich dann aber doch bekennen, dass mich persönlich gerade bei den Herren Rossini, Bellini und auch Donizetti die Kunst der Ausführer meist mehr interessiert und beeindruckt, als die Kunst des Schöpfers. Ich sag nur Sängerspielplatz. :stumm:


    Gruß
    Sascha