Rekonstruktion von Fragmenten

  • Salut, Taminoiénnes...


    ich versuche mal, ein neues Thema zu starten.


    Mich interessiert Eure Meinung über die Rekonstruktion von Fragmenten klassischer Komponisten durch moderne "Restaurateuere". Als Beispiele: Der unvollendete Satz Gustav Mahlers 10. Sinfonie, die "Ergänzung" Gustav Mahler's Klavierquartett durch Alfred Schnittke oder neuerdings die "Vervollständigungen" von Mozart's c-moll-Messe (Große Messe) oder dessen Requiem.


    Ich selbst habe mich jahrelang an einer Rekonstrunktion von Schubert's Sinfonie Nr. (10) in D-Dur versucht, zu der es eine umfangreiche Klavierpartitur gibt.


    Anstöße: Darf man sich an solchen großen Komponisten und deren Werke "vergehen" und macht es einen Sinn, diese unfertigen, meiner Meinung nach aber vollkommenen Werke, zu rekonstruieren?


    Bin sehr gespannt auf die Reaktionen!


    Viele Grüße, Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli
    Anstöße: Darf man sich an solchen großen Komponisten und deren Werke "vergehen" und macht es einen Sinn, diese unfertigen, meiner Meinung nach aber vollkommenen Werke, zu rekonstruieren?


    Moin Ulli,


    eine interessante Frage.
    Ich denke, dürfen darf man dürfen ;) , aber das Ergebnis ist selten sinnvoll.


    Soll heißen: Ich kenne eine Aufnahme, in der der 1. Satz aus Beethovens 10. rekonstruiert und zuende komponiert wurde. Das Ergebnis sagt mir genau so wenig zu wie die verschiedenen Rekonstruktionen von Mahlers 10. oder dem 4. Satz aus Bruckners 9.


    Bei Bruckner ist der Grund klar: Man kennt die ersten drei Sätze und liebt sie. So wir Bruckner das Adagio komponierte, könnte die Sinfonie nach dem dritten Satz bereits zuende sein und hätte einen weihevollen, tief ruhevoll empfundenen Abschluß gefunden. Durch den vierten Satz erhält die ganze Sinfonie einen vollkommenen anderen Charakter.


    Anders verhält es sich zum Beispiel bei "Hoffmanns Erzählungen". Ein Werk, das von Offenbach nicht fertig komponiert werden konnte und das heute in verschiedenen Versionen aufgeführt wird. Der Oper merkt man den musikalischen "Bruch" (also was hat Offenbach komponiert und was Guiraud) nicht an; es erscheint als einheitliches Werk. Der Nachwelt wäre ein Meisterwerk verborgen geblieben, wenn Guiraud die Oper nicht zuende komponiert hätte (auf Wunsch der Familie Offenbachs).


    Fazit: Es hängt vom Einzelfall ab, ob eine Rekonstruktion Sinn macht oder nicht.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Nach Ulli:
    Ein anderes, noch bekannteres Beispiel wäre Turandot. Die Fertigstellung der Oper ist überaus sinnvoll (für den Opernbetrieb; und da es jetzt zwei Versionen gibt, hat man noch zusätzlichen Diskussionsstoff). Etwas schwieriger ist die Lage bei Lulu einzuschätzen, da es immerhin um einen ganzen Opernakt geht. Da muss einem schon klar sein, dass die vollständige Version nur mehr ein Zwitter ist.
    Das Nachkomponieren von Fragmenten ist hochgradige Spekulation. Das kann zu interessanten Ergebnissen führen, hat aber nur sehr wenig mit der Intention des Komponisten zu tun.


    Ciao

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo Ulli,


    ich stehe solchen Rekonstruktions-Versuchen sehr skeptisch gegenüber. Die Vollendungsversuche von Mahlers X. sind für mich alle unbefriedigend und nicht zwingend. Ich höre mir das Adagio dann doch eher in der Form an, die von Mahler authentisch überliefert ist, und fühle mich jedesmal danach wie gerädert.


    Der erste Satz aus Beethovens X. ist ebenfalls solch ein Beispiel: Ich erkenne darin wenig Beethoven, dafür viel Brahms, ein wenig Schumann und Mendelssohn :D


    Letzlich ist es interessant, solche Torsi zu rekonstruieren, von "Vollendung" zu sprechen, halte ich allerdings für anmaßend.

    Beste Grüße aus Bonn
    Matthias


    Ich tu', was meine Pflicht gebeut, doch hass' ich alle Grausamkeit (ROCCO)

  • Salut,


    es freut mich, dass dieses Thema reges Interesse gefunden hat.


    "Rekonstruktion" bedeutet für mich in erster Linie einmal, dass ein (Kunst-)werk, welches bereits vollendet war, aber zerstört wurde, "wiederhergestellt" wird. - Sorry, es klingt etwas spiessig. Ich finde persönlich den Ausdruck "Versuch einer Vervollständigung" oder "Ergänzungsversuch" passender und pietätvoller.


    Ich finde, gewisse Werke habe einen bestimmten Respekt verdient und da ist zu unterscheiden in a) wollte der Urheber das Werk jemals vollenden (z. B. Mozart's c-moll-Messe) oder b) konnte er es mangels Lebenszeit nicht mehr fertigstellen (z.B. Mahler's X. oder Mozart's Requiem). Im Falle von a) würde ich in jedem Fall einem "Versuch einer Vollendung" absprechen, da dies nicht im Sinne des Autors gewesen ist. Im b)-Falle kann man streiten.


    Mir persönlich gefallen all diese Ergänzungen nicht, man merkt sofort an den entsprechenden Stellen, wo die Ergänzung beginnt. Bei zeitgenössischen Ergänzungen (ich meine also Ergänzungen, die unmittelbar nach dem Tod des Komponisten gemacht wurden) klingt wenigstens noch ein Hauch der damaligen Zeit durch... ist also von mir akzeptiert.


    Die "Rekonstruktion" der Beethoven'schen X. ist auch mir bekannt, natürlich "klingt" Beethoven etwas durch, aber es lässt trotzdem nicht in Geringsten erahnen, welch ein Werk Beethoven uns hier geschenkt hätte... da sind die Skizzen (wie ünrigens auch bei Schubert) weitaus aussagekräftiger!


    Das Schubert-Sinfonie-Fragment wurde einmal von Peter Gülke versuchsweise ergänzt. Ich halte viel von Gülke, nichts aber von dieser Ergänzungsarbeit, da es einfach zu "platt" ist. Es wurde regelrecht konstruiert, ohne re- und ohne Gefühl. Wenn ich mich recht erinnere, hat Pierre Boulez eben dieses Fragment verwendet und ein ziemlich klasse Stück daraus gemacht, was aber rein gar nichts mit Schubert zu tun hat. Boulez war eben Meister der Instrumentation...


    Meine Lieblingsautorin Marie von Ebner-Eschenbach hat zu diesem Thema auch etwas zu sagen:


    Die Skizze sagt uns of mehr als das ausgeführte Kunstwerk, weil sie uns zum Mitarbeiter macht.


    In diesem Sinne, fröhliches Weiterdiskutieren...


    Viele Grüße, Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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  • Hallo Ulli,


    apropos Fragemente:


    Vor Jahren laß ich einmal in Fachzeitschrift, dass es Fragmente einer weiteren Oper Beethoven geben soll. Ist Dir dazu näheres bekannt?

    Beste Grüße aus Bonn
    Matthias


    Ich tu', was meine Pflicht gebeut, doch hass' ich alle Grausamkeit (ROCCO)

  • Salut,


    soweit ich mich erinnere hieß die Oper "Vestas Feuer", dazu gibt es einige Skizzen Beethoven's. Der Clou: Beethoven hatte einen Opern-Vertrag mit Schikandeder (!!!) bezüglich dieser Oper gemacht. Nähere Umstände sind mir aber nicht bekannt.


    Viele Grüße, Ulli



    P.S. Bin übrigens gebürtiger und leibhaftiger BONNER !!

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

    Einmal editiert, zuletzt von Ulli ()

  • Zitat

    Original von Ulli
    P.S. Bin übrigens gebürtiger und leibhaftiger BONNER !!


    Das ehrt Dich, zumal Du neben der Baunscheidtschen Heil- und Pflegeanstalt in Endenich gewohnt hast. Ich bin auch gebürtiger Bonner und immer noch dort ansässig. Vielleicht können wir mit unserem anderen Bonner (Wolfgang?) mal eine kleine Beethoven- und Schumann-Session veranstalten :D - aber jetzt wirds off-topic und wenn ich weiter schreibe, werde ich von Alfred gemaßregelt, beim Thema zu bleiben :stumm:

    Beste Grüße aus Bonn
    Matthias


    Ich tu', was meine Pflicht gebeut, doch hass' ich alle Grausamkeit (ROCCO)

  • Salut,


    eben. Diese waren aber nicht in der Lage gewesen, Schumann zu heilen... sondern haben ihn - wie auch immer - ganz kaputt gemacht. Es ist dort ein Originalbrief von Schumann erhalten, den er wenige Tage vor seinem Tode an seine Frau Clara schrieb - ganz normal, ohne Phantasien, ohne Anzeichen irgendeiner Krankheit... !!


    Sowas aber auch... :wacky:


    Grüße, Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo Ulli,


    ein interessantes Thema - das wäre einen Thread wert. Vielleicht schreibe ich heute abend etwas dazu.

    Beste Grüße aus Bonn
    Matthias


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  • Bei barocker oder frühbarocker Musik, bzw. noch früheren Quellen sind es eigentlich immer Fragmente die erst bearbeitet werden müssen um sie spielbar zu machen.
    Opern des 17. Jh. und diverse andere Werke sind meistens ja nur mit der "Gesangsstimme" überliefert, die Begleitung von Basso Continuo und Ensemble muß meistens "rekonstruiert" werden. Aber bisher war in den meisten Fällen das Ergebnis überzeugend . ergo ich habe eigentlich kein Problem mit solchen Handhabungen was den Bereich Barockmusik betrifft, allergings sollte man klar deklarieren was man nun gemacht hat. Hier geht es halt nicht anders.



    Bei Bruckner habe ich mal einen Artikel gelesen der sich vehement gegen eine Rekonstruktion aussprach, weil das Material einfach zu dürftig ist und eben nur "Skizzen" vorhanden sind.
    Hier denke ich auch man sollte manches was noch in der Entwicklungsphase geblieben ist auch so belassen, wie bei der Kunst können Zeichnungen manchmal interessanter sein als das fertige Gemälde, vor allem dann wenn andere versuchen "weiter zu malen"...

  • Salut,


    für die Renaissance und/oder Barock kommt hier aber meiner Meinung nach eher die "Improvisation" bzw. das "Continuo-Spielen" in Frage und zwar nach festen Vorgaben... korrigiere mich bitte, wenn ich falsch liege.


    Soweit ich weiß, hat Bach stets alle Stimmen vollständig ausgeschrieben resp. beziffert...


    Viele Grüße, Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • So nun mein Statement:


    Zunächst ergibt sich die Frage WAS soll rekonstruiert werden, und wie weit.


    Soll man Schuberts "Unvollendete" ergänzen ?


    Teile des dritten Satz sind ja soweit vohanden daß man sich dran wagen kann. Und natürlich hat man es auch gemacht und auf CD veröffentlicht. Hübsche Musik, der 3. Satz.


    ABER: Die Sinfonie ist genauso unvollendet wie vorher.
    Musik zu "Rosamunde als 4. Satz zu nehmen und mit Argumenten zu untermauern halte ich für eine Fehlentscheidung.


    Schuberts 8. (ich verwende immer die alter Zählung) ist in sich vollendet. Schubert hätte genug Zeit gehabt sie zu vollenden , wenn er gewollt hätte, sie lag mehrere Jahre in seiner Schreibtischlade.


    Andere Sinfonie-Fragmente Schuberts ergänzen - (es gibt einige) wozu ? Hört man heute von Ausnahmen abhesehen nicht mal die vorhandenen kompletten !!!!


    Prinzipiell halte ich es jedoch für wünschenswert einen überlieferten Torso soweit herzurichten, daß er spielbar ist.
    Es müsste dies dann jedoch dokumentiert werden und der Name des "Restaurator", der in wahrheit ja ein Arrangeur, zumeist aber sogar Komponist ist.


    An sich sind solche Maßnahmen jedoch nur ein Notbehelf, der immer scheitern MUSS.


    Ich will es an einem Beispiel aus der Kriminalliteratur beschreiben:
    Nehmen wir an , ich bekäme die ehrenwerte Aufgabe Agatha Christiies Figur Hercule Poirotauferstehen zu lassen, als neue Romane im Stille A. Christies zu schreiben. Hie böten sich zwei Alternativen an:
    1) Behutsam den Stil der Autorin kopieren, keine Abweichungen wom Original. Handys und Internet hätten in solchen Romanen natürlich nichts zu suchen, das wäre ein Stilbruch.


    Solche Romane wären schon antiquiert, bevor sie geschrieben würden.
    Selbstverständlich hätte Agatha Christie Internet, Handy , Fax etc in ihren neusten Hercule Poirot-Romanen eingebaut.


    Was wir allerdings nicht wissen ist- wie sie persönlich zu diesen Medien gestanden wäre, ob sie sich ironisch drüber lustig gemacht hätte, oder ob sie diese Medien positiv beurteilt hätte.


    Das ist das Problem der
    Alternative Nr 2)


    Man passt, um die Figuren nicht der Erstarrung preiszugeben die Romane an die Gegenwart an. Leider sind es aber dann keine Romane von Agatha Christie sondern welche von mir - unter Verwendung eine Romanfigur von A. Christie. Langsam aber sicher würden die Figuren mutieren und nach einigen Jahren würde man sie nicht mehr wiedererkennen.....


    Ähnlich in der Musik, man rekonstuiert aus vorhandenem Material, was die Gefahl der andauernden Wiederholung in sich birgt, oder man komponiert selber.


    Beste Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ja Bach hat das gemacht, aber nicht jeder war so sorgsam, damals hat man einfach erwartet, dass der Ausführende weiß was zu tun ist. Erst im 18. Jahrhundert fing man irgendwie an seinen Kram in Ordnung zu halten. Gerade Lully hat einen "Saustall hinterlassen, der erst von seinem Kollegen Philidor in Ordnung gebracht werden musste. Und selbst da musste man noch zugeben, es ist unmöglich die genaue Instrumentierung festzustellen.


    Das Improvisieren wäre schön,aber das beherrschen nicht viele.
    Wenn René Jacobs eine frühe venezianische Oper aufführt dann schreibt er die Streicherbegleitung selbst aus, bzw. "klaut" überlieferte Melodien. Der Continuo Part muß aber auch irgendwie wieder hergestellt werden - nachdem was die Musikwissenschaftler dann fabrizieren richten sich dann die Musiker.
    Es gab mal eine sehr interessante Doku auf Arte vor einigen Jahren, da hat man Jacobs beim arbeiten über die Schulter geschaut.
    Die Musiker gehen mit den Partituren viel freier um als man das denken würde, es hat mich wirklich verblüfft, aber - es funktioniert. Deswegen würde ich es nicht als feste Vorgaben bezeichnen, natürlich harmonische Stilelemente, damals übliche Verzierungen etc. müssen natürlich berücksichtigt werden, ganz zu schweigen von den theoretischen Grundsätzen.

  • Hallo Lullist,
    wenn ich Dich richtig verstehe, ist frühe Musik überhaupt nicht vollständig notiert, d.h. der Komponist ist ganz einfach davon ausgegangen, daß Begleitstimmen bei einer Aufführung ohnehin vom Aufführenden sachgemäß hinzugefügt werden würden?
    Dann ist das, was früher legitim war, es sicher auch heute noch.


    Ansonsten finde ich die Unterscheidung von Ulli gut.
    Eine Rekonstruktion in dem Sinne einer Reparatur ohne "hinzuerfinden" halte ich für legitim. (Gibt es dafür Beispiele?)
    Das mehr oder weniger gut gemeinte und gut gekonnte Vervollständigen von Werken finde ich vom Ansatz her nicht gut. Wenn es keine 10. Beethoven gibt, Mahler seine 10. nicht vollendet hat, sollte es man dabei belassen. Sicher ist das traurig, aber damit muß man sich halt abfinden.
    Sicher gibt es Vervollständigungen, von denen der Normalverbraucher kaum weiß, daß es welche sind und die sich durchgesetzt haben. Als ich Mozarts Requiem das erste Mal gehört habe, wußte ich nicht, daß es nicht komplett von Mozart stammt - und es hat mich nicht gestört. Und daß Offenbach "Hoffmans Erzählungen" nicht vollendet hat war mir bis zu diesem Thread neu.

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

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  • Hallo Reinhard,
    das mit Mozarts Requiem wusste ich damals als ich es zum ersten Mal gehört hatte auch nicht, ehrlich gesagt finde ich bis Heute da auch keinen Stilbruch, bzw. dass man man merken würde was jetzt Mozart und was Eybler / Süßmayer (die waren es doch die weitergemacht haben oder?) ist.
    Vielleicht sehe das ganz anders aus wenn sich jetzt, also Heute aufeinmal jemand dazu berufen fühlt.


    Das mit der Barockmusik sehe ich schon als Vervollständigung im Sinne einer Rekonstruktion. Denn gerade bei den Opern des 17. Jh. sind die originalen Partituren längst verloren, es existieren aber ettliche (natürlich aller unterschiedlich) Abschriften und kleine Heftchen die für Sammler bestimmt waren. Aus diesem Wust muß dann eine Partitur gewonnen werden mit der man arbeiten kann. Das ist bestimmt eine spannende Arbeit (wäre ich jetzt nicht Kunststudent würde ich vielleicht soetwas machen wollen).
    Ein gutes Beispiel ist "Giasone" von Cavalli, Jacobs wollte diese erfolgreichste Oper des 17. Jh. unbedingt wieder einem Publikum erschließen, aber es fehlten die wichtigsten Arien (bzw. deren Musik) also "vergriff" er sich an anderen Werken dieser Zeit um die Oper zu vervollständigen. Das ist zwar ziemlich gewagt (oftmals erkennt man Melodien - vorausgesetzt man kennt diese- von Schmelzer, Rosenmüller und Krieger wieder) aber für "uns" bleiben diese Eingriffe unsichtbar, ein Venezianer des 17.Jh. würde das vielleicht ganz anders sehen...


    Einige Gute Beispiele gibt es auf CD,
    nette Aufnahmen an denen man solche Verfahren bzw. das Improvisieren der Musiker erleben kann sind z.B. die drei venezianischen Opern "Giasone" "La Calisto" "Xerxes" alle von Cavalli interpretiert von Jacobs.
    Oder die Aufnahmen des Harp Consorts unter Andrew Lawrence King,
    Luz y Norte
    spanische Musik aus der Sammlung von de Ribayaz 1677
    deutsch Harmonia Mundi
    Natürlich sind Improvisationen auf CD zu bannen fragwürdig, aber die Musik ist so schön, dass mir solche Überlegungen eigentlich nicht mehr kommen.


    Bei Lully handelt es sich ja meist "nur" um die Frage der richtigen Instrumentierung. Nur Charpentier hat sich die Zeit genommen genaue Angaben zu machen, was er will. In der Uni Saarbrücken entsteht übrigens zur Zeit die erste wissenschaftliche Edition all seiner Werke, vielleicht wenn diese mehrere Bände umfassende Sammlung endlich zu haben ist, wird es auch häufigere Aufführungen geben.

  • Hallo zusammen,


    ein weiteres, vielleicht von vielen gar nicht bemerktes Beispiel für das, was derLullist beschreibt, gibt es in Purcells "Dido and Aeneas", nämlich am Ende des zweiten Aktes: Da existiert nur Partitur bis zum Abgang des Aeneas, danach kommt aber im Textbuch noch eine Szene für die Hexen, was vom dramaturgischen Aufbau des Stückes her logisch ist. Entweder, man lässt den zweiten Akt nun eben mit dem Abgang des Aeneas enden (Emmanuelle Haim etwa hat sich dafür entschieden), oder man baut für die Hexenszene aus anderen Stücken Purcells etwas zusammen (so machen es die meisten, Britten hat bei "The Indian Queen" sich bedient, Jacobs wenn ich mich recht erinnere, bei "The fairy queen") und schreibt die vorhandenen Stücke Purcells so um, dass sie auf den vorhandenen Text passen. Die erste Lösung ist zweifellos in Anbetracht der Partitur, wie sie uns erhalten ist, die authentischere, die zweite allerdings jene, die dem Konstruktionsplan des Werkes gerechter wird und den zweiten Akt konsequent auch mit einem Chor abschliessen lässt.


    Beste Grüsse,


    C.


    der auch die Cooke/ Goldschmitd/ Matthews-Aufführungsfassung der 10. Mahlers mag.

    Die wirkliche Basis eines schöpferischen Werks ist Experimentieren - kühnes Experimentieren! (Edgar Varèse)

  • Bezogen auf den Beitrag von Claus Huth,



    Hier sieht man, wie vertrackt das Ganze ist, wie differenziert man das betrachten muß, vor allem seit es Tonaufnahmen gibt:


    Lösung 2 ist IMO duchaus praktikabel und legitim, ja ich würde für den "Theateralltag ", wenn man bei solchen Werken noch von sowas sprechen kann, sogar noch drastischere Eingriffe, so sie stilistisch vertretbar sind, erlauben.


    Aber für das Medium Schallplatte oder CD , oder was sonst immer ?


    Hier wird ein gewisser "Ewigkeitsanspruch" postuliert, hier bekommt die "gesamte Welt" über Generationen hindurch den Eindruck vermittelt: Das ist Purcells Werk.


    Daher ist für die Tonaufzeichnung meiner Meinung nach Lösung 1 vorzuziehen


    Beste Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    ich glaube, ich lege einen anderen "Werkbegriff" zugrunde als Du: Ich denke, das einzige, was eine Aufnahme an "Ewigkeitswerk" hat, ist, dass man sagen kann: "Das ist XY's Aufführung von Purcells Stück". Ich meine, wenn man wissen will, was Purcells Werk ist, muss man sich an eine kritische Partiturausgabe halten - für die CD hat der zweite Weg eben genau dieselbe Praktikabilität wie der erste. Ich finde, so gut ich die Haim-Aufnahme finde, den Schnitt am Ende des zweiten Aktes immer wieder unbefriedigend.


    Es hilft, um solche Fassungsfragen zu wissen, aber wie gesagt: "Ewig" festgehalten wird auf der CD nie das Werk eines Komponisten, sondern immer nur eine konkrete Interpretation. Dieses Zusammenspiel ist für mich dann das "Werk", dass man auf der CD hört.


    (Abgesehen davon, dass man solche Ergänzungen ja auch im Beiheft dokumentieren kann, und wer eine CD hören kann, sollte auch das Beiheft lesen können ;) ).


    Beste Grüsse,


    C.

    Die wirkliche Basis eines schöpferischen Werks ist Experimentieren - kühnes Experimentieren! (Edgar Varèse)

  • Salut,


    ...zurück zum Thema...


    ich halte also folgende übereinstimmende Meinung fest:


    1. Sofern der Schöpfer eine freie Improvisation gewollt hat, ist dies logischer Weise zwingend.
    2. Sofern der Schöpfer davon ausgehen konnte, dass eine Ergänzung durch den/die Interpreten in seinem Sinne ausgeführt wurde/wird, muss man sich heute ganz schön anstrengen und auskennen, um stilgerecht zu bleiben/werden.
    3. Sofern der Urheber ein Werk bewußt nicht vollendet hat, sollte es unvollendet bleiben.
    4. Sofern der Komponist nicht mehr in der Lage war, sein Werk zu vollenden (weil zwischendurch bedauerlicher Weise verstorben ist), ist eine Ergänzung zwar sinnvoll, meist aber zweifelhaft ausgeführt.


    Richtig so...?


    Viele Grüße, Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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  • für alle, die interessiert, wie solche barocken Quellen aussehen können, seien hier als Beispiel Lully´s Opern gegeben. Wenn man auf die aufgeschlagenen Bücher oben klickt, bekommt man ein vielseitiges Faksimile-pdf auf seinen Rechner. Die Dateien sind allerdings sehr groß, bis über 40 MB, deshalb empfehle ich, Le triomphe de la Raison sur l'Amour zu wählen. Diese Datei hat nur 3,1 MB.


    Lullys Opern


    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Salut,


    Danke, Thomas - sehr aufschlussreicher und interessanter link!!


    Ulli

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Salut,


    zu allem Übel fällt mir gerade noch eine Erweiterung des Themas ein:


    Mozart hat z.B. als Auftragsarbeit Händel's "Messias" und "Alexanderfest" und weitere Werke Händel's für Baron van Swieten (? bin mir nicht sicher ?) "neu" Instrumentiert (natürlich für mich ein Schuß ins eigene Knie... :wacky: ).


    Kennt jemand diese Bearbeitungen und wenn ja, wie findet Ihr sie im "Gegensatz" zu den Originalen von Händel?


    Meine Meinung dazu kommt später (muss arbeiten).


    Viele Grüße, Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli
    Kennt jemand diese Bearbeitungen und wenn ja, wie findet Ihr sie im "Gegensatz" zu den Originalen von Händel?


    Mozart hat, dessen bin ich sicher, "Der Messias" jedenfalls Klarinetten hinzugefügt. Ich dachte nicht noch mehr, aber das weiß ich nicht genau.


    Jahre nachdem ich dies lernte, habe ich diese Version über den Rundfunk gehörrt. Es war keine "Live"-Sendung, denn es wurde presentiert in einen Programm mit neuen Aufnahmen. Nur weiß ich nicht mehr ob es CD oder LP war.
    Vermutlich LP.


    Ich war nicht so beeindrückt, erinnere ich mich.

  • Was zu denken von Beethovens Nullte Klavierkonzert? WoO4
    Die Drei Pintos (Weber)
    Requiem (Mozart)


    Ohne Schwierigkeiten kann man eine Liste von Nord- bis Südpol machen (vice versa).

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  • Zitat

    Original von musicophil
    Requiem (Mozart)


    ?(


    Mozarts Requiem ist vollkommen. Was gibt es da noch zu tun, außer es aufzuführen?


    Mozarts Requiem endet mit „dona eis pacem.“


    So sei es – Amen.


    Im Detail


    1. Du sollst keine anderen Requien haben neben mir
    2. Du sollst das Requiem nicht missbrauchen
    3. Du sollst die Aufführung des Requiem heiligen
    4. Du sollst Mozart und Süßmayr ehren
    5. Du sollst es nicht zu vollenden versuchen
    6. Du darfst Kraus, Haydn, Süßmayr und Gossec ausnahmsweise hören
    7. Du sollst nicht daraus stehlen [denn es ist bereits in Teilen gestohlen]
    8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden über Süßmayrs Anteil
    9. Du sollst nicht begehren den Rekonstruktionsversuch eines anderen
    10. Du sollst alles sooft lesen, bis Du es auswendig kannst


    :hello:


    Cordialement
    Ulli

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • WUNDERBAR !!!


    Ich muß aufpassen, daß ich nicht wieder einen Asthmaanfall bekomme weil ich so lachen muß. Ihr seid ja schrecklich. ?(


    Bin schon ein alter Mann (63). ;)

  • Sorry, Uli: Es endet leider nicht mit "Dona nobis pacem", auch wenn man es ihm wünschen würde...
    MOZARTS Requiem endet mit "Quam olim da capo". Süßmaiers Komplettierung endet mit "quia pius es". Kein Wunder, daß das Stück keinen Frieden findet ... ;-)

  • Salut,


    Stimmt! Danke für die Korrektur. Dennoch endet Mozarts Requiem in der Vervollständigung von Süßmayr dann mit "quia pius es", denn es war seine Anweisung, die Kyrie-Fuge am Schluß zu wiederholen.


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Ich will einmal versuchen, meine Ansicht in der Vollendungsfrage zu konkretisieren.
    Was gar nicht so leicht ist, ich bin da nämlich gespalten.
    Warum? - Nun: Es ist doch so, dass einige grandiose Stücke nur durch eine Fertigstellung leben können. Fragmente, die sich ein paar Musikwissenschaftler zu Gemüte führen, leben nicht wirklich. Leben hängt in der Musik mit aufführen zusammen.


    Beispiele:


    Dritter Akt "Turandot" - was tun? Es ist eine doppelte Verfälschung: Alfano arbeitete wacker, aber nicht so ganz stilsicher. In der Folge strich man den Alfano-Teil zusammen, womit die Fertiggestellung des Fragments nun ihrerseits fragmentiert wurde.


    Busoni: "Faust" - der Schluss fehlt. Jarnach leistete ganze Arbeit - und komponierte ein Finale von atemberaubender Schönheit. Damit ist eine der herrlichsten Partituren des 20. Jahrhunderts gerettet.


    Mussorgskij: "Chowanschtschina". Ein Meisterwerk. IMO eine der schönsten, erschütterndsten Opern der Musikgeschichte. Vorhanden ist der (ebenfalls nicht ganz komplette) Klavierauszug. Rimskij rettet das Werk unter Zerstörung seiner Eigenheiten. Schostakowitsch ist perfekt - aber wenn das wirklich das ist, was Mussorgskij wollte, dann war er ein noch wesentlich genialerer Kerl als man ohnedies anerkennt. (Schostakowitsch hat natürlich seine eigene Klangfarben-Ästhetik eingebracht und dem Werk ein völlig modernes Klanggewand verliehen.)


    Mahler 10.: Diese Musik ist so grandios, vor allem der letzte Satz, dass man sie IMHO spielen muss. Dennoch: Jedes Mal habe ich ein ungutes Gefühl, wenn ich die Sätze 2-5 höre. Andererseits: Etwas wie diesen 5. Satz im Archiv ruhen lassen?


    Ich versuche meine Conclusio: Wenn es die Musik wert ist, bin ich dafür, eine Aufführungsversion zu erstellen. Vor allem dann, wenn bedeutende Werke damit aufführbar gemacht werden.


    Wenn allerdings ein Werk zum Teil fertig, in dieser Gestalt aufführbar ist und der fragmentarische Teil weder wesentliche zusätzliche Aussagen beinhaltet noch erkennen lässt, was der Komponist wirklich wollte (Paradebeispiel: Schuberts "Unvollendete", Mozarts "Requiem"), dann bin ich eher gegen ein Fertigschreiben.

    ...

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