Arp Schnitger
Orgelmacher
(1648 – 1719)
Alle Welt spricht von Silbermann, wenn es um barocken Orgelbau geht, dabei ist der um eine Generation jüngere Arp Schnitger mindestens ebenso bedeutend. Betrachtet man die für Einspielungen verwendeten historischen Instrumente, tauchen sehr häufig Orgeln von Arp Schnitger auf. Eine Vorstellung des Meisters und seiner Instrumente ist überfällig.
Das Folgende lehnt sich in den Daten an der bisher einzigen umfassenden Monographie an: Gustav Fock: Arp Schnitger, Kassel etc., 1974. Im Lauf der Jahre ergab sich noch das eine oder andere, und es erschienen auch ein paar Aufsätze zu Person und Wirken Schnitgers. Aber an den Grundzügen hat sich nichts geändert. Seit langem angekündigt ist eine neue Gesamtschau, die aber – wie das oft so ist – immer länger auf sich warten lässt.
Biografisches
Arp Schnitger wird 1648 in Golzwarden (heute ein Staddteil von Brake an der Unterweser, etwa auf halber Strecke zwischen Bremen und Bremerhafen) geboren. Nach seiner Schulzeit lernt er beim Vater, einem sehr tüchtigen Tischler, den Beruf und geht anschließend zu seinem Vetter Behrendt Huß, Orgelbauer in Glückstadt, in die Lehre.
Als Huß stirbt, führt Schnitger die Arbeiten an der neuen Stader Wilhadi-Orgel selbständig mit großem Erfolg zu Ende. Er übernimmt die Werkstatt von der Witwe Huß’ und baut von Stade aus einige Instrumente, die ihm ein solches Renommee einbringen, dass er mit dem Bau einer großen Orgel in Hamburg St. Nikolai beauftragt wird. Mit 67 Registern auf vier Manualen und Pedal entsteht die damals größte und gediegenste Orgel der Welt, die als ein technisches Wunderwerk viele Besucher anlockt. Mattheson schreibt dazu: „Diese ungemeine Orgel ist Anno 1686 von Arp Schnitger verfertiget und hat auch einen ungemeinen Organisten. Ich darff nur Vincent Lübeck nennen, so ist der ganze Panegyricus fertig.“
Mit 38 Jahren hat Schnitger es zu einem der bedeutendsten Orgelbauer seiner Zeit gebracht; mit Vincent Lübeck war er zeitlebens befreundet.
Mit Buxtehude, der die große Orgel in St. Marien (Lübeck) von Schnitger umbauen lassen möchte, trifft er mehrfach zusammen; zu beider Leidwesen kommt kein Vertrag zustande. Immerhin entsteht eine große Schnitgerorgel im Lübecker Dom.
Zu Reincken wird er kein so ungetrübtes Verhältnis gehabt haben, denn fünf Jahre später baut er die Orgel in Hamburg, St. Jacobi und setzt sowohl Principal 32’ als auch Posaune 32’ durch, die der missgünstige Reinken in seiner Nachbarkirche gerne verhindert hätte.
Mit der Verlagerung seines Arbeitsschwerpunkt nach Hamburg verlegt er seine Werkstatt und kurz darauf auch seinen Wohnsitz nach Neuenfelde und wird Hamburger Bürger.
1719, während der Arbeit an der Orgel in Itzehoe (St. Laurentius) stirbt Arp Schnitger im Alter von 71 Jahren. Er wird in der St.-Pankratius-Kirche seiner Heimatgemeinde Neuenfelde beigesetzt. Die für die kleine Kirche große Schnitgerorgel dort ist ebenso erhalten wie der Kirchstuhl der Familie Schnitger und die barocke Ausstattung, die zu großen Teilen wohl ebenfalls von ihm geplant und gestiftet worden ist.
Es gibt nur ein Bild, auf dem (vermutlich) Schnitger zu sehen ist.
Schnitgers Arbeitsweise
Schnitgers Bauweise gründet auf der norddeutschen Orgelbautradition, wie sie die Familien Scherer und Fritsche maßgeblich geprägt hatten. Schnitger übernimmt und verfeinert die Dispositionsprinzipien so, dass sich zwar keine zwei seiner Orgeln einander gleichen, sie aber immer als Schnitger-typisch zu erkennen sind. Charakteristisch sind der nach Werken abgestufte Prinzipalaufbau mit kräftigen, aber nicht grellen Mixturen, unterstützt von sonoren, aber nie zu aufdringlichen Zungenstimmen.
Der Weitchor – also die Register, die oft auch die „Flöte“ im Namen tragen – ist klangfarbenreich, was nicht zuletzt an den vielen unterschiedlichen Bauformen liegt, die Schnitger anwendet: gedeckt (Gedackt), halbgedeckt (Rohrflöte), konisch (Spitzflöte, Spielflöte).
Dazu treten einzelne oder gemischte Aliquote (bis über den Barock hinaus nur Quinten und Terzen), die je nach Mensur und Bauweise zum Weit- oder Prinzipalchor gehören. Bei Schnitger haben die Register Sesquialtera und Terzian auch einen zweiten, anderen Zweck als nur die Färbung und Hervorhebung etwa eines Cantus firmus wir sie heute verstehen: Sie repetieren und gleichen damit Mixturen, die man auch zum Vollen Werk ziehen kann. (Terzmixturen gab es also schon früh).
Streicher disponiert er zunächst nur in seinen größten Orgeln, wo sie zunächst als 8’ im Pedal auftauchen.
Neben den großen plenumfähigen Zungenregistern (Posaune, Trompete) baut Schnitger immer auch kurzbechrige leisere Solozungen (Trichterregal, Dulcian, Krummhorn, Bärpfeife, Vox humana etc.).
Der Anteil der Zungenregister ist in Norddeutschland auch erheblich höher als weiter im Süden.
Schnitgers Orgeln sind in allen Teilwerken gut besetzt, selbst das Pedal ist so vielfältig und stark ausgestattet, dass Pedalkoppeln nicht vorgesehen sind.
Zwar verzichtet er in frühen und mittleren Orgeln oft auf den tiefen Weitchor im Pedal und stellt neben die kompletten Prinzipale nur ein 2’-Cantus-firmus-Register und die selbstverständlichen Zungen. Das kann dann so aussehen: Principal 16’, Octave 8’, Octave 4’, Nachthorn 2’, Rauschpfeife 3f., Mixtur 6f., Posaune 16’, Trompete 8’, Kornett 2’.
Aber dieser Fundus ist schon sehr luxuriös und verleiht dem Pedal absolute Solofähigkeit und Gleichberechtigung neben den Manualwerken, es ist nicht bloßes Bassklavier.
Im Aufbau folgen seine Orgeln dem „Hamburger Prospekt“, der bereits eine Art Kennzeichen norddeutscher Orgeln geworden ist: Das Rückpositiv wird von den mächtigen Pedaltürmen in der Emporenbrüstung flankiert. Im Hauptgehäuse sind die übrigen Werke Hauptwerk und – je nach Größe der Orgel – noch Brust- und/oder Oberwerk untergebracht. In der Front des Hauptgehäuses ist der Spielschrank – die Manual- und Pedalklaviaturen und die Registerzüge – untergebracht.
Der Unternehmer
Schnitger dehnt sein Arbeitsgebiet im Lauf der Jahre sehr aus: Im Süden und Osten baut er im Harz, in Brandenburg, in Mecklenburg, Pommern und Sachsen-Anhalt. Er liefert kleine Cabinett- oder Hausorgeln nach Moskau, London und über seinen dort ansässigen Schüler Ulenkampf auch zwei Kirchenorgeln (beide erhalten) nach Portugal. Die weiteste Reise unternimmt ein drittes für Portugal gebautes Instrument, das von dort nach Brasilien verkauft wird und in Mariana (Bundesstaat Minas Gerais) heute noch seinen Dienst tut.
Später ist er oft in den östlichen Niederlanden unterwegs. In der Provinz Groningen gibt es wohl die größte Dichte an – auch erhaltenen – Schnitger-Orgeln, allein in der Stadt Groningen selbst sind es drei, darunter das eindrucksvolle Instrument in St. Martini mit dem einzigen original erhaltenen Principal 32’ von Arp Schnitger.
Wie fast alle erfolgreichen und überlasteten Handwerker seiner Zeit organisiert Schnitger seine Werkstatt so effektiv wie möglich. Dazu gründet er Außenstellen, die von erfahrenen Gesellen geleitet werden. Er selbst führt die Verhandlungen, konzipiert die Instrumente und legt letzte Hand an, wenn es um die Feinheiten geht.
Sind Vorgängerinstrumente mit brauchbaren Teilen vorhanden, übernimmt er sie und integriert sie bruchlos in seine Orgeln. Dazu achtet er auf beste Materialqualität und sauberste handwerkliche Ausführung.
Seine Preise richten sich nach dem Vermögen der Kunden. Eine reiche Stadtgemeinde muss eine horrende Summe zahlen, um sich einen so berühmten Orgelbauer leisten zu können. Dagegen werden kleine, arme Dorfkirchen manchmal sogar unter dem Selbstkostenpreis beliefert und das noch in Verbindung mit einer auf viele Jahre hinaus gedehnten Ratenzahlung.
Auch klanglich unterscheidet Schnitger zwischen Stadt- und Dorforgeln. Seine Dorforgeln wirken wirklich etwas rustikaler als die elegant intonierten Instrumente in den großen Stadtkirchen. Alle aber waren rein mitteltönig gestimmt.
Spätstil
In seinen letzten Orgeln macht sich der veränderte Zeitgeschmack bemerkbar. Die Mixturen werden niedriger und milder, sie sind nicht mehr so „schneidend“ und allein auf Polyphonie ausgerichtet. 2’-Zungen im Pedal gibt es nicht mehr, und Streicher (Gambe, Salicional) tauchen schon bei niedrigeren Registerzahlen auf. Allerdings geht er hier oft einen anderen Weg als seine Zeitgenossen und baut eine leise Zungenstimme mit Namen „Viola da Gamba“, die – wie ihre labialen Schwestern anderswo – fast immer im Hauptwerk steht. Die labiale Gambe baut er bisweilen aber auch.
Den Hamburger Prospekt gibt Schnitger zum Schluss auf; Rückpositive baut er immer seltener, die Pedaltürme wandern an die Seiten des Hauptgehäuses, oder die Pedalpfeifen werden – von vorne unsichtbar – dahinter aufgestellt. Die gesamte Orgel steht hinter einem „Verbundprospekt“ (Fock).
Ein gutes Beispiel dafür ist sein letztes Projekt, die Orgel in St. Laurentius, Itzehoe.
Verlorene und erhaltene Instrumente
Seine Werke in Mitteldeutschland – vom Harz über Berlin bis nach Magdeburg – sind leider alle verloren gegangen. Von der einen oder anderen Orgel steht noch der Prospekt, und in der Eosander-Kapelle im Charlottenburger Schloss findet sich eine Rekonstruktion der im Krieg zerstörten Orgel.
Besonders zu bertrauern ist sicher der Verlust der großen Zellerfelder Orgel (St. Salvatoris, 53/III+P), von der aber wenigstens noch das erhaltene Gehäuse einen Eindruck von der Großartigkeit vermittelt.
Auch das Gehäuse der Magdeburger St.-Johannis-Orgel (60/III+P), die 1870 durch einen Neubau hinter der Schnitger-Fassade ersetzt worden war, ist dem zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen. Über den Principal 32’, den Schnitger wohl auf eigene Kosten zusätzlich dort eingebaut hatte, schreibt Mattheson: „Die größeste Pfeife ist 32 Schuh lang und 4 Schuh weit, stehet aber inwendig und wiegt an Metall über 500 Pfund.“
In Niedersachsen – dort vor allem in Ostfriesland und dem Alten Land – und Hamburg existieren noch etliche, darunter seine größte erhaltene Orgel in Hamburg, St. Jacobi (64/IV+P) und eine seiner schönsten: St. Ludgeri, Norden (46/IV+P). Hier hat er eine ganz eigene Lösung gefunden, um in dem akustisch ungünstigen schmalen Kirchenschiff eine Orgel möglichst wirkungsvoll aufzustellen: Rückpositiv, Hauptwerk, Oberwerk und Brustwerk stehen auf einer eigenen Empore an nordöstlichen Vierungspfeiler und strahlen schräg ins Schiff; der einzige Pedalturm steht rechts vom Rückpositiv in der Emporenbrüstung.
Von Hamburg, durchs Alte Land, über Ostfriesland in die Provinz Groningen führt eine regelrechte Schnitgerstraße. In Groningen selbst sind noch drei seiner Orgeln erhalten; in der Umgebung stehen zahlreiche kleinere Schnitger-Instrumente.
Schüler
Seine Schüler arbeiteten in strenger Ausrichtung an Schnitger weiter, viele ignorieren sogar die Entwicklungen in Schnitgers Spätstil und bleiben ausgesprochen konservativ, wenn man bei manchen nicht sogar von Schablonenhaftigkeit sprechen will. (Vater, Klapmeyer, Garrels)
Sein Sohn Frans Caspar (1693-1729) nimmt hingegen die Entwicklung auf. Er lässt sich in den Niederlanden nieder und baut als erstes zuammen mit seinem Bruder Johann Jürgen die noch von Arp Schnitger projektierte große Orgel in Zwolle (St. Michael, 63/IV+P), Arbeiten (Vergrößerungen) in Alkmaar (Laurenskerk, 55/III+P) und Groningen (Martinikerk, 53/III+P) folgen. F. C. Schnitger wäre wohl der würdigste Nachfolger seines Vaters geworden, stirbt aber bereits mit 36 Jahren vor Vollendung der Groninger Orgel. Albertus Antonius Hinsz übernimmt die Werkstatt und baut im Spätstil Schnitgers weiter.
Schnitger und die Nachwelt
Als sich das Klangideal vernehmlich änderte, wurden die meisten alten Orgeln wenigstens angepasst, so auch die Instrumente Schnitgers. Viele gingen auch durch Zerstörung (Abriss, Feuer, Krieg) verloren. Trotzdem hat viel überlebt. Von den etwa 170 von ihm gebauten Orgeln sind zwischen 30 und 40 mehr oder weniger original erhalten. Sie mussten zwar Umbauten über sich ergehen lassen, blieben aber in den Grundzügen oft unangetastet.
So waren es auch Schnitgerorgeln – allen voran die in Hamburg, St. Jacobi –, denen eine wegweisende Rolle in der Orgelbewegung zugedacht wurde. (Hier gehört jetzt eigentlich ein Exkurs zu Hans-Henny Jahnn hin, aber den Platz haben wir nun wirklich nicht.)
In bewusstem Gegensatz zu den grundtönigen Orgeln der Zeit beruft sich die Orgelbewegung auf die Werkgliederung und die Obertönigkeit der alten Instrumente, versteht aber vieles dabei noch nicht richtig. So kommt es noch lange nach 1945 zu Restaurierungen, die Originalsubstanz vernichten und von einem falschen Ursprungsideal ausgehen.
Erst allmählich gewinnt der Kenntniszuwachs solchen Umfang, dass man von einem gesicherten Originalbild ausgehen kann. Die größten Verdienste sind mit den Namen von Orgelbauern wie Ahrend & Brunzema oder Edskes verbunden. Auch Harald Vogel als Gutachter in vielen Fragen muss hier genannt werden.
Einen weiteren großen Schritt tut das Projekt „Göteborg Organ Art Centre“ (goart.gu.se), das mit wissenschaftlicher Akribie auch den kleinsten Besonderheiten nicht nur Schnitgerscher Orgelbaukunst auf die Spur kommen will. Vorläufiger Höhepunkt ist eine große, dem Instrument im Lübecker Dom nachempfundene Orgel, die in Buch und auf CD hervorragend dokumentiert ist. Die Diskussion über die Rekonstruktion der Lübecker Domorgel ist wohl noch im Gange.
Internet etc.
Zwei sehr gute Seiten führen Schnitger-Orgeln, meist mit Bild, Disposition und kurzer Geschichte auf:
hwcoordes.homepage.t-online.de/as/ind_as.htm
und
arpschnitger.nl
Auch ein Besuch auf der Seite der Arp-Schnitger-Gesellschaft (arp-schnitger-gesellschaft.de) lohnt sich durchaus.
Eine sehr gute Video-Dokumentation ist auf DVD erhältlich. Dabei wird nicht nur die Neuenfelder Orgel portraitiert, auch andere Instrumente sind zu sehen und zu hören. Die Funktionsweise des Instruments wird sehr anschaulich erläutert – wirklich sehr empfehlenswert (schnitgerorgel.de).
Eine Bitte noch: Wenn ich mich irgendwo zu sehr im Fachchinesischen verlaufen haben sollte, haltet es meiner Betriebsblindheit zugute und fragt ohne falsche Scheu nach.