Liebe Musikfreunde,
wie inzwischen bekannt, bestehe ich regelmäßig auf der Ausführung aller vorgeschriebenen Wiederholungen. Abstarkt betrachtet, findet im Verlauf der Aufführung eines Musikwerks - ob dem Musiker bewußt oder nicht - eine stetige Entwicklung einer (wie auch immer garteten) musikalischen Aussage statt, die auch vor einem Wiederholungszeichen nicht haltmacht.
Ob in einer gut gehaltenen Rede ein Satz einmal oder zweimal gesprochen wird, macht einen recht deutlichen Unterschied. In der Musik halten erstaunliche viele (Hörer und Musiker) die Wiederholungen für ziemlich überflüssigen Ballast, und es sieht auf den ersten Blick tatsächlich so aus, als könne man sie rückstandslos aus dem Notentext streichen. Daß dem nicht so ist, daß z.B. eine im weiteren Verlauf variiert wiederaufgenommene Rückleitung zum Anfang eines Satzes dann unverständlich wird, wenn die Wiederholung nicht vorher erklungen ist, habe ich schon vereinzelt in verschiedenen Threads angemerkt, und dies wird auch noch Gegenstand einer eigenen Untersuchung werden.
Obigen Gedanken aufgreifend, möchte ich überspitzt formulieren: wer es sich nicht zutraut, durch eine Wiederholung eine musikalisch interessante Aussage zu machen, der soll bitte schweigen, und zwar ganz. Niemand ist gezwungen, ein Stück zu spielen das er nicht versteht.
Damit wären wir beim Hauptthema dieses Threads...
Aus einem Anfangsverdacht, den ich beim Anhören der Beethoven-Streichquartette mit dem Takacs Quartet bekam, als mir merkwürdige Übereinstimmungen in einigen Wiederholungen auffielen (und zwar gerade deswegen auffielen, weil die Aufnahmen eigentlich technisch perfekt sind), wurde eine ziemlich ausufernde Untersuchung verschiedenster Aufnahmen, inwieweit sich die beteiligten Musiker und Produzenten die Mühe machen, bei Wiederholungen wirklich unterschiedliche Versionen zu spielen bzw. zu verwenden (dies nur als Minimalanforderung; ob sich die Take-Puzzles zu einer sinnvollen Aussage zusammenfügen, ist eine andere Frage) oder ob sie sich die Arbeit dadurch erleichtern, daß sie einzelne kürzere oder längere Passagen zweimal verwenden.
Technisch gesehen, ist die Suche nach digital mehr oder weniger identischen Musikpassagen ein Kinderspiel (damit hat wohl niemand gerechnet):
- Musikstück in einem geeigneten Soundprogramm öffnen (v.a. eine gute Wellenformdarstellung ist vorteilhaft)
- Wiederholungen auf je zwei Spuren synchron übereinanderlegen, ein Stereopaar davon mit umgekehrter Phase, je einen Kanal ausblenden.
- Wellenform auf verdächtige Symmetrien absuchen (das ist das zeitraubende daran)
- sobald eine verdächtige Stelle gefunden ist, diese sample-genau synchronisieren, alle 4 Spuren gleichzeitig abspielen und anhören wieweit sie sich gegenseitig auslöschen.
- Dauer der Auslöschung notieren, nächste Stelle suchen usw.
Das Ergebnis:
die positive Nachricht vorweg: Es wird überwiegend verantwortungsbewußt gearbeitet. Kopien beschränken sich in der Mehrheit auf wenige Sekunden. Wenn eine schwierige Stelle nur einmal besonders gut gelungen ist, ist nichts dagegen einzuwenden, sie zweimal zu verwenden, und in diesem Sinne scheint es wohl überwiegend gehandhabt zu werden.
Damit diese positive Tendenz auch in Zukunft erhalten bleibt, gibt es ab sofort bei Tamino die
schwarze Liste der Wiederholungstäter
- Teil 1 Sinfonik -
[Die Prozentzahlen im folgenden geben den Anteil der kopierten Passagen in Relation zur maximal kopierbaren Dauer an]
An einsamer Spitze steht:
Jos van Immerseel / Anima Eterna
Schubert 9. Sinfonie C-Dur
1. Satz
Exposition: 85 % (u.a. das komplette 2. Thema)
3. Satz
a) 1. Teil des Scherzos: 72 %
b) 2. Teil des Scherzos: 97 %
Trio nicht untersucht
c) da capo, ohne Whg: 100 % identisch mit jeweils 1. Mal von a) und b)
4. Satz
Exposition: 97 %
Sonst habe ich bedenkliche Prozentsätze nur bei einigen altehrwürdigen Aufnahmen gefunden:
Wand / SO des NDR
Brahms 3. Sinfonie
1. Satz 82 %
Kubelik / SO des BR
Schumann 2. Sinfonie
1. Satz 69 %
Karajan / Wiener Philharmoniker
Bruckner 7. Sinfonie (Karajan Gold)
3. Satz 54 %
(schon schwer so einen Satz ohne Dirigenten zu spielen...)
Ob man dem Herrn Kraus damit schon die gebührende Ehre erweist, würde ich mal bezweifeln:
Sundkvist / Swedish Chamber Orchestra
Kraus Sinfonie C-Dur
2. Satz 84 % (je eine lange Passage in beiden Teilen)
3. Satz 96 %
Concerto Köln
Kraus Sinfonie C-Dur
2. Satz 30% (eine lange kopiete Passage im 2. Teil, incl. unsauberes Violinsolo und Flugzeuglärm)
3. Satz 39 % (in der Whg. Tempoverlangsamung deutlich spürbar durch Kopie aus dem langsameren 1. Durchlauf)
Das war's vorläufig.
Daß hier nicht von einer Normalität gesprochen werden kann, beweist allein schon die Mehrheit von Aufnahmen, bei denen sich der Anteil kopierter Passagen zwischen 0 und 25 % bewegt.
Bisher untersucht:
11-25 % Kopien gefunden bei
Norrington / LCP /Beethoven
Gardiner / ORR / Beethoven
Zinman / TOZ /Beethoven
0-11 % Kopien gefunden bei
Rattle / Wiener Ph / Beethoven 2.
Kleiber / Wiener Ph / Beethoven 7. (nur im 1. Satz 15 %, sonst nichts)
Harnoncourt / Berliner Ph / Brahms
Wolff / SO des HR / Beethoven 4.
Chailly / Concertgebouw / Bruckner 6.
Zugegeben, die Liste ist noch nicht lang, mein Schwerpunkt lag auch zunächst bei der Kammermusik. Konkrete Anfragen könnt ihr gerne per PN an mich stellen.
Natürlich wäre es super, wenn andere Taminoianer sich an den Untersuchungen beteiligen würden. Ich denke Paul probiert schon mal...
Gruß,
Khampan