Die erste Schwierigkeit bei der Einordnung dieses höchst ungewöhnlichen Stückes tat sich bereits bei der Frage auf, in welches Forum es eigentlich einzustellen ist. Berlioz selbst bezeichnete es als Symphonie. Dennoch ist es alles andere als ein rein instrumentales Werk, und wenn auch Beethoven, Mendelssohn und andere die Symphonie schon vorher für Vokalstimmen geöffnet hatten, so gibt es meines Wissens bis hin zu Gustav Mahlers LIED VON DER ERDE und Arnold Schönbergs GURRELIEDERN kein anderes symphonisches Werk, das sich auch nur annähernd so kühn der Möglichkeiten der Programmsymphonie, des Oratoriums und sogar der Oper bedient und dennoch den formalen Kriterien, die an eine Symphonie zu stellen sind, vollauf gerecht wird. Das erklärt hoffentlich den merkwürdigen TItel dieses Threads.
Zunächst aber ein wenig zur Entstehungsgeschichte des Stückes: wie Berlioz in seinen Memoiren eindringlich schildert, war es ihm nur möglich, es in Ruhe zu schaffen, weil der legendäre Geiger Niccoló Paganini, nachdem er von einer Aufführung von Berlioz' SYMPHONIE FANTASTIQUE begeistert war, bei ihm ein Werk für Viola und Orchester in Auftrag gab. Berlioz lieferte dies auch ab. Es war seine zweite Programmsymphonie, HAROLD EN ITALIE. Da dieses Werk aber eher eine Symphonie mit obligater Viola war und Paganini keine hinreichende Gelegenheit bot, als Virtuose zu brillieren, führte dieser das Werk niemals auf, zahlte aber klaglos das versprochene Honorar, das es Berlioz ermöglichte, sich ohne fnanzielle Sorgen ganz diesem Wunschprojekt widmen zu können. Man kann also davon ausgehen, dass es in jeder Hinsicht seinen Vorstellungen davon entsprach, wie man diesem schon damals meistgeliebten Werk des von ihm noch vor Goethe am mesten verehrten Shakespeare musikalisch in optimaler Form gerecht werden könnte.
Vielleicht war seine Entscheidung für eine dramatische Symphonie aber auch von dem Misserfolg seiner ersten Oper BENVENUTO CELLINI geprägt worden, der es Berlioz aussichtslos erschenen ließ, eine Oper nach dieser oft vertonten Vorlage mit seiner Musik jemals auf der Bühne zu sehen - ein Pessimismus, der, wie man aus dem Schicksal der fast en Jahrhundert lang verkannten TROJANER weiß, durchaus berechtigt war.
So brach Berlioz, nicht unähnlich dem Verfahren, das er sechs Jahre später für LA DAMNATION DE FAUST wählte, radikal mit der Vorstellung, das vollständige Drama Shakeapeares umzusetzen und wählte eine Montage besonders inspirierender Sequenzen aus dem Stück als Grundlage seiner Symphonie. Dies setzt natürlich das Wissen des Hörers um die Zusammenhänge des Stückes voraus, damit man den vollen Gewinn aus den rein instrumentalen Teilen ziehen kann, welche die gesungenen Handlungsteile zu einem trotz aller Vielfalt stringenten Ganzen verbinden.
Da ch davon ausgehe, dass die Teilnehmer dieses Threads das Stück kennen (lernen wollen), verzichte ich hier auf eine Inhaltsangabe des Programms dieser viersätzigen Symphonie mit ausgedehntem Finale. Es sei aber nicht verschwiegen, dass der Gewinn, den man aus dem Anhören dieser Symphonie ziehen kann, erheblich steigt, wenn man das Stück von Shakespeare und möglichst auch einige andere Werke Berlioz' kennt, vor allem die SYMPHONIE FANTASTIQUE, die besonders in der Ballszene immer wieder auf verblüffende Weise durchklingt, oder die dieser Symphonie unmittelbar vorangehende SYMPHONIE FUNÉBRE ET TRIOMPHALE, in der Berlioz seine damals besonders ausgeprägte Vorliebe für anhaltend monotone Stimmungsbilder auf die Spitze, wenn nicht sogar übertrieben hat. Kennern von BENVENUTO CELLINI wird zudem eine Parallele in der Stimmführung der Auftritte des Papstes und dem Prolog der Symphonie auffallen, wenn die Posaune die Deklamation des Herrschenden übernimmt. Aber ich greife der hoffentlich kommenden Detaildiskussion vor.
Ein Wort noch zu den von mir empfohlenen Einspielungen: für mich war, wie bei fast allen Werken von Berlioz, die Enspielung von Colin Davis und dem LSO mit Patricia Kern, Robert Tear und John Shirley-Johns das lange unübertroffene Maß aller Dinge. Sie ist in dieser sehr empfehlenswerten Sammlung, für relativ mehr Geld aber auch noch einzeln zu erhalten
bzw., als Einzelstück,
Für mich bleibt sie auch heute noch eine Referenz, zumal bei dem Preis der Sammlung, auch gegenüber Davis' eigener Neuaufnahme mit dem Bayerischen RSO, da die noch bessere Aufnahme unter John Gardiner mit dem Orchestre Revolutionnaire et Romantique unbegreiflicherweise schon wieder aus den Katalogen verschwunden ist. Diese vereinte nämlich die zupackende Art von Davis mit einer Durchhörbarkeit der Details, die ich bisher in keiner anderen Version gehört habe. Vorzügliche Interpretationen der rein instrumentalen Sätze (leider nur dieser) haben auch Giulini, Toscanni und, mit enigen leichten Abstrichen, Dutoit eingespielt. Leider sind sie wegen ihrer Unvollständigkeit hier nur bedingt heran zu ziehen.
Grundsätzlich aber gilt: wer schon eine Aufnahme des vollständigen Werkes hat, muss sich nicht unbedingt gleich eine weitere zulegen. Mir sind zumindest keine bekannt, die dem Werk so wenig gerecht werden, dass von ihr abzuraten wäre. Ich kenne aber natürlich längst nicht alle, die zur Zeit angeboten werden, denn ich sammle bekanntlich weniger in die Tiefe als in die Breite.
Nun aber erst einmal genug der Vorrede. Ich würde mich sehr freuen, wenn möglichst viele von Euch nach diesen Worten Lust bekommen haben, sich das Stück zuzulegen und/oder (wieder einmal) anzuhören und dazu Stellung zu nehmen. Ich kann aus meiner subjektiven Warte nur garantieren, dass es (womöglich bei gelegentlichen Irritationen) jedem gefallen wird, der die SYMPHONIE FANTASTIQUE, LES HUGUENOTS, den späteren Verdi und Boito und ganz allgemein die Musik der Romantik mag, die Berlioz womöglich konsequenter als jeder andere verkörperte und voran brachte. Deshalb von zehn möglichen mein Prädikat:
Bis demnächst in diesem Thread
Rideamus