"Hänsel und Gretel" hat mich - als Oper wie auch als Märchen - schon im Alter von vier Jahren mehr wegen seiner Horror-Elemente, denn seiner romantischen Waldseeligkeit fasziniert. Und auch heute empfinde ich dieses Stück eher als skurrilen Alptraum - wenn ich Intendant wäre, dann würde ich z. B. versuchen, Tim Burton als Regisseur zu gewinnen.
Heute noch werden bei mir Urängste geweckt - und ich glaube, als Kind hat mir diese Oper geholfen, so einige Sachen psychisch gesund zu überstehen. Schon die ganze Waldszene ruft in mir ein starkes Gefühl von wirklichem "Verlassensein" hervor - für mich der Horror pur (ähnliche Empfindungen der Einsamkeit habe ich z. B. auch bei "Salome" und "Elektra"). In Gian-Carlo del Monacos Erfurter Inszenierung prangte über dem gesamten 1. Akt das Graffiti "Gott hat uns verlassen". IMO ein sehr richtiger Kommentar zu "Wenn die Not auf´s Höchste steigt, Gott, der Herr, die Hand uns reicht!" Auch der Philosoph und Musikwissenschaftler Norbert Abels bemerkte hierzu: "So lautet der Beschluss vom Märchen. Im Leben sieht es anders aus..."
Ich bin so frei und stelle hier mal ein paar Bild-Assoziationen rein, die meine Empfindungen bei dieser Oper recht gut treffen.
HÄNSEL
Ach, käm' doch die Mutter nun endlich nach Haus!
GRETEL
Ach ja, auch ich halt's kaum noch vor Hunger aus!
HÄNSEL
Seit Wochen nichts als trocken Brot;
ist das ein Elend! Potz schwere Not!
GRETEL
Still, Hänsel, denk daran, was Vater sagt,
wenn Mutter manchmal so verzagt:
"Wenn die Not aufs höchste steigt,
Gott der Herr die Hand euch reicht!"
HÄNSEL
Jawohl, das klingt recht schön und glatt.
aber leider wird man davon nicht satt!
Ach, Gretel, wie lang ist's doch schon her,
dass wir nichts Gut's geschmauset mehr
Eierfladen und Butterwecken,
kaum weiss ich noch, wie die tun schmecken.
Ach, Gretel, ich wollt'. . .
***
DIE MUTTER
Wartet, ihr ungezogenen Wichte!
Nennt ihr das Arbeit, johlen und singen?
wie auf der Kirmes tanzen und springen?
Indess die Eltern vom frühen Morgen
bis in die Nacht sich mühen und sorgen,
Dass dich!
Lasst sehn, was habt ihr beschickt?
Wie, Gretel? den Strumpf nicht fertig gestrickt?
Und du, du Schlingel, in all' den Stunden
nicht mal die wenigen Besen gebunden?
Ihr unnützes Volk, den Stock will ich holen
und euch den Faulpelz weidlich versohlen!
(In ihrem Eifer hinter den Kindern her, stösst sie den Milchtopf vom Tisch, so dass
er klirrend zu Boden fällt.)
Jesses! nun auch den Topf noch zerbrochen!
(weinend)
Was nun zum Abend kochen?
(Sie besieht sich ihren mit Milch begossenen Rock, Hänsel kichert verstohlen.)
Was! Bengel, lachst mich noch aus?
(Mit dem Stock hinter Hänsel her, der zur offenen Türe hinausrennt.)
Wart, kommt nur der Vater nach Haus!
Marsch! Fort in den Wald
Dort sucht mir Erdbeeren! Wird es bald?
Und bringt ihr den Korb nicht voll bis zum Rand,
so hau' ich euch, dass ihr fliegt an die Wand!
***
GRETEL, HÄNSEL
Abends will ich schlafen gehn,
vierzehn Engel um mich stehn:
zwei zu meinen Häupten,
zwei zu meinen Füssen,
zwei zu meiner Rechten,
zwei zu meiner Linken,
zweie, die mich decken,
zweie, die mich wecken...
GRETEL
...zweie, die mich weisen
zu Himmels Paradeisen!
HÄNSEL
...zweie, die zum Himmel weisen!
***
HEXE
Na, Herzchen, zier' dich nicht erst gross!
Wisst denn, dass euch vor mir nicht graul'.
Ich bin Rosine Leckermaul,
höchst menschenfreundlich stets gesinnt,
unschuldig, wie ein kleines Kind!
Drum hab' ich die kleinen Kinder so lieb!
so lieb, so lieb, ach! zum Aufessen lieb!
***
KINDER
(regungslos, mit geschlossenen Augen, wie zuvor die Kuchenfiguren)
Erlöst, befreit,
für alle Zeit!
***
GRETEL
Geschlossen sind ihre Äugelein;
sie schlafen und singen doch so fein!
KINDER
O rühr mich an, dass ich erwachen kann!
HÄNSEL
Rühr du sie doch an, ich trau' mir's nicht!
GRETEL
Ja, streicheln wir dies hübsche Gesicht!
(Sie streichelt das nächste Kind, dieses öffnet die Augen und lächelt.)
KUCHENKINDER
O rühr auch mich, auch mich rühr an,
dass ich die Äuglein öffnen kann!