Die Bachkantate (128): BWV113: Herr Jesu Christ, du höchstes Gut

  • BWV 113: Herr Jesu Christ, du höchstes Gut
    Kantate zum 11. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 20. August 1724)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Kor. 15,1-10 (Paulus über das von ihm verkündigte Evangelium von Christus und sein Apostelamt)
    Evangelium: Luk. 18,9-14 (Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner)



    Acht Sätze, Aufführungsdauer: ca. 30 Minuten


    Textdichter: unbekannt, inspiriert aber vom titelgebenden Choral
    Choral (Nr. 1, 2 und 8, sowie in Nr. 4): Bartholomäus Ringwaldt ( 1588 )



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Traversflöte, Oboe d’amore I + II, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
    Herr Jesu Christ, du höchstes Gut,
    Du Brunnquell aller Gnaden,
    Sieh doch, wie ich in meinem Mut
    Mit Schmerzen bin beladen
    Und in mir hab’ der Pfeile viel,
    Die im Gewissen ohne Ziel
    Mich armen Sünder drücken.


    2. Choral Alt, Violini unisono, Continuo
    Erbarm’ dich mein in solcher Last,
    Nimm sie aus meinem Herzen,
    Dieweil du sie gebüßet hast
    Am Holz mit Todesschmerzen,
    Auf dass ich nicht für großem Weh
    In meinen Sünden untergeh’,
    Noch ewiglich verzage.


    3. Aria Bass, Oboe d’amore I + II, Continuo
    Fürwahr, wenn mir das kömmet ein,
    Dass ich nicht recht vor Gott gewandelt
    Und täglich wider ihn misshandelt,
    So quält mich Zittern, Furcht und Pein.
    Ich weiß, dass mir das Herz zerbräche,
    Wenn mir dein Wort nicht Trost verspräche.


    4. Recitativo + Choral Bass, Continuo
    Jedoch dein heilsam’ Wort, das macht
    Mit seinem süßen Singen,

    Dass meine Brust,
    Der vormals lauter Angst bewusst,
    Sich wieder kräftig kann erquicken.
    Das jammervolle Herz
    Empfindet nun nach tränenreichem Schmerz
    Den hellen Schein von Jesu Gnadenblicken;
    Sein Wort hat mir so vielen Trost gebracht,
    Dass mir das Herze wieder lacht,
    Als wenn’s beginnt zu springen.

    Wie wohl ist meiner Seelen!
    Das nagende Gewissen kann mich nicht länger quälen,
    Dieweil Gott alle Gnad’ verheißt,
    Hiernächst die Gläubigen und Frommen
    Mit Himmelsmanna speist,
    Wenn wir nur mit zerknirschtem Geist
    Zu unser’m Jesu kommen.


    5. Aria Tenor, Traversflöte, Continuo
    Jesus nimmt die Sünder an:
    Süßes Wort voll Trost und Leben!
    Er schenkt die wahre Seelenruh’
    Und rufet jedem tröstlich zu:
    Dein’ Sünd’ ist dir vergeben!


    6. Recitativo Tenor, Streicher, Continuo
    Der Heiland nimmt die Sünder an:
    Wie lieblich klingt das Wort in meinen Ohren!
    Er ruft: Kommt her zu mir,
    Die ihr mühselig und beladen,
    Kommt her zum Brunnquell aller Gnaden,
    Ich hab’ euch mir zu Freunden auserkoren!
    Auf dieses Wort will ich zu dir
    Wie der bußfert’ge Zöllner treten
    Und mit demüt’gem Geist: Gott sei mir gnädig! beten.
    Ach, tröste meinen blöden Mut
    Und mache mich durch dein vergoss’nes Blut
    Von allen Sünden rein,
    So werd’ ich auch wie David und Manasse,
    Wenn ich dabei
    Dich stets in Lieb’ und Treu’
    Mit meinem Glaubensarm umfasse,
    Hinfort ein Kind des Himmels sein.


    7. Aria Sopran, Alt, Continuo
    Ach Herr, mein Gott, vergib mir’s doch,
    Womit ich deinen Zorn erreget,
    Zerbrich das schwere Sündenjoch,
    Das mir der Satan auferleget,
    Dass sich mein Herz zufrieden gebe
    Und dir zum Preis und Ruhm hinfort
    Nach deinem Wort
    In kindlichem Gehorsam lebe.


    8. Choral SATB, Traversflöte, Oboe d’amore I+ II, Streicher, Continuo
    Stärk’ mich mit deinem Freudengeist,
    Heil mich mit deinen Wunden,
    Wasch’ mich mit deinem Todesschweiß
    In meiner letzten Stunden;
    Und nimm mich einst, wenn dir’s gefällt,
    In wahrem Glauben von der Welt
    Zu deinen Auserwählten!






    Diese Kantate stammt aus dem Jahr 1724 und ist damit eine Choralkantate, die zum großangelegten und ambitionierten „Projekt“ Bachs gehörte, Kantaten, die auf jeweils einen „Mottochoral“ basieren, für sämtliche Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres zu komponieren.
    Der für diese Kantate ausgewählte Choral von Bartholomäus Ringwaldt passt gut zum Evangelium des heutigen Sonntags, in dem es um die rechte Haltung des bußfertigen Sünders geht, der um Vergebung seiner Missetaten bittet und auf göttliche Gnade hofft.


    Der Eingangschoral in h-moll überlasst – ganz „klassisch“ – dem Sopran den Vortrag der Choralmelodie, die übrigen Chorstimmen erweitern diese zur Vierstimmigkeit, die Instrumente des Orchesters umrahmen das Ganze.


    Ungewöhnlicherweise schließt sich an diesen Choral unmittelbar eine weitere Strophe an – diesmal jedoch nur vom (Solo-) Alt vorgetragen: Während die Singstimme unverändert die Choralmelodie übernimmt, ergänzen die Violinen und das Continuo mit bewegten Figuren den Satz zu einem Triosatz, der sich – obwohl ja ebenfalls „nur“ eine weitere Choralstrophe vorgetragen wird – wirkungsvoll vom vorhergehenden Satz abhebt.


    Besonders angetan hat es mir die Arie Nr. 3, in der der Bass von 2 Oboi d’amore begleitet wird und die im charakteristischen (und für mich besonders eingängigen) 12/8tel-Takt steht! Zusammen mit der Arie Nr. 5, in der Tenor und Traversflöte zusammen musizieren, bildet sie für mich den Höhepunkt dieser Kantate.


    Die Machart des Rezitativ + Choral Nr. 4 erinnert stark an die bereits in den Kantaten der Vorwochen (z. B. BWV 101, BWV 94 oder BWV 178) praktizierte Verfahrensweise, in denen ebenfalls eine Solostimme eine weitere vollständige Choralstrophe vorträgt, die aber durch frei hinzugedichtete Einschübe (in Rezitativform) immer wieder unterbrochen wird. Der oder die Verfasser der Choralkantaten vom Hochsommer 1724 sind uns heute leider unbekannt... ob es zu weit geht, wenn ich vermute, dass gerade die charakteristisch gestalteten Rezitativ-Sätze dieser Kantaten darauf hindeuten, dass es sich in dem Zeitraum immer um denselben Dichter gehandelt haben dürfte?


    Auch diese Kantate enthält als vorletzten Satz, genau wie die in der Woche zuvor entstandene Kantate (BWV 101), ein als Aria bezeichnetes Duett für Sopran und Altstimme, das sich melodisch wieder recht eng an die Melodie des dieser Kantate als „Motto“ zugrundeliegenden Chorals orientiert.
    Die Ähnlichkeiten in der Vorgehensweise Bachs bei der Komposition der einzelnen Choralkantaten in diesem Zeitraum ist nicht nur an diesem Duett-Satz auffallend (siehe auch das weiter oben zum Rezitativ mit Choraleinschub Gesagte!) – Bach schien damit eine für ihn praktikable Gestaltungsart gefunden zu haben, wie er die wöchentliche Herausforderung, der er sich für den Kantatenjahrgang 1724/25 ja immerhin freiwillig gestellt hatte, zu seiner Zufriedenheit bewältigen konnte.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Diese Kantate gehört auch zu meinen Lieblingskantaten.


    Wenn ich mir die bisher "rege" Beteiligung ansehen, könnte ich auf den Gedanken kommen, dass das Werk nicht zu den bekannteren Kantaten gehört - völlig zu unrecht, den an der Qualität der Komposition kann es nicht liegen.
    Uneingängig kann ich die Kantate auch nicht finden, allerdings kann es sein, dass Bachanfänger das Weihnachtsoratorium ( natürlich nur die bekannteren Kantaten 1-3...) eingängiger finden. Wer seinen Bach darüber hinaus schon kennen und liebengelernt hat, der wird dieses Werk auch sehr ins Herz schliessen.


    Mir liegen folgende Aufnahmen vor:



    Gustav Leonhardt



    Sir John Eliot Gardiner


    Diese Aufnahme kann man auch als zweikanalige CD-Version recht günstig bekommen:



    Im Netz bei JPC habe ich mir noch die Auschnitte von dieser CD hier angehört, die ich natürlich auch noch gerne hätte:



    Masaaki Suzuki


    1. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo Herr Jesu Christ, du höchstes Gut


    Der Eingangssatz ist dadurch gekennzeichnet, dass der Cantus Firmus im rhythmisch schlichten Choralsatz von den Sängern vorgetragen wird.
    Die Textausdeutung geschieht vokaliter eigentlich nur durch die ausdrucksstarke Harmonik. Somit ist es die Aufgabe des Orchestes, den Text zu kommentieren und auszulegen.
    Als Hauptaffekt sehe ich hier die Zerknirschung, das schlechte Gewissen des sündigen Menschen, der Gott darum bittet, sich ihm erbarmungsvoll zuzuwenden.
    Ausgedrückt wird dies durch Bogenvibrati in den mittleren Streichern ( Tonrepitionen, die unter einem Bogenstrich genommen werden, jede Note bekommt einen leichten Druck), Seufzerfiguren in den Oboen, und ein weiches 4x16tel-Motiv der Violinen, das auf die nächste Viertel auf der Takt-Eins auftaktig hinführt.
    Wenn die Bässe die Seufzer der Oboen auch imitieren, dann wirken die den Sekund-Seufzern vorhergehenden grossen Intervalle für mich so, als ob sich jemand vor Seelenpein auf dem Boden liegend windet.
    Während sie das tun, spielen die Oboen lange, in den nächsten Akkord überhängende Noten, wodurch die innere Pein und auch die Sehnsucht nach göttlichem Erbarmen eindrucksvoll hörbar wird.
    Diese Figuren wiederholen sich auf bachisch kunstvolle Weise im ganzen Satz. Mehr Material braucht er nicht, um eine Musik zu schreiben, die ich einfach nur als überragend bezeichnen kann. Dieser Eingangssatz könnte vom Niveau her problemlos in einer der berühmten Passionen Bachs passen.
    Trotz der grossen Ausdrucksstärke wirkt der Satz angenehm hörbar, weil er immer von einem vornehmen und reifenTonfall durchzogen wird.


    Die grossen Emotionen wurden von Bach gerne durch seine eigene Art der "Kompositionswissenschaft" (so oder ähnlich nannte er es) auf eine innere, höhere Ebene gezogen. Eine vergleichsweise plumpe und äusserlich-rohe Effekthascherei waren seine Sache nicht.
    Durch diesen Umstand werden heute seine Werke von Einigen möglicherweise als schwer zugänglich empfunden.
    Für den "geneigten" Musiker und Bachfreund gibt es aber gerade wegen dieser Mischung aus höchster Emotion und dem Reichtum einer geradezu wissenschaftlich-kompositorischer Beherrschung ein Leben lang immer wieder Neues in seinen Meisterwerken zu entdecken.
    Bisher habe ich jedenfalls noch nie das Gefühl bekommen, mir diese Werke überhört zu haben.


    In den mir vorliegenden Aufnahmen kann man die von mir oben beschriebenen Elemente der Klangrede gut nachvollziehen und vor allem mitempfinden.
    Leider lässt Leonhardt seinen Chor etwas stur und unschön auf den Takt-Einsen eine Druckbetonung machen, wodurch der Fluss der Choralmelodie unnötig kaputtgemacht wird. Das Leonhardt-Consort spielt klanglich durchsichtig und klar. Allerdings wirken die durchaus richtigen Einser-Betonungen auf mich etwas zusammenhangslos, tendenziell vielleicht zu stoisch "gewollt".
    Instrumental sind dies aber nur leichte Tendenzen, d.h. es gibt sehr viele schöne Dinge im Vortrag des Leonhardt-Consorts zu entdecken.


    Über Gardiner habe ich noch vor kurzem Hildebrandt im Grossen und Ganzen zugestimmt:


    Zitat


    Original von Hildebrandt
    Allerdings kommt mir der Mensch (Gardiner) mit Bach nicht mehr ins CD-Schubfach, von daher kenne ich auch nicht außerordentlich viel von ihm


    Diesmal aber bereue ich den Kauf der DVD nicht.
    Wer einen Eindruck gewinnen will, der sollte einmal hier hineinhören und sehen:



    BWV 113 / 1 Gardiner


    Das ist zwar in schlechter Bild- und Tonqualität ( sogar mono), aber man gewinnt doch einen Eindruck, denke ich.


    Von der berüchtigten Gardiner-Raserei habe ich auf der ganzen DVD nichts feststellen können.
    Der Eingangschor wird zwar schnelle als bei Leonhardt und vor allem Suzuki genommen, aber es ist m.E. ein sehr überzeugendes, immer noch ruhiges und dem Affekt angemessenes Tempo, dass die Musik zur Entfaltung kommen lässt.
    Da wurde diesmal eine richtig schön eine atmende Musik zelebriert, so wie es sein soll. Na, wer sagt`s denn, geht doch!


    Vor allem das deutlich sprechende und doch flüssige Spiel des Orchesters gefällt mir im Eingangschor sehr gut. Die Detaildynamik wird nicht nivelliert und gleichzeitig geht die innere Statik der Musik nicht verloren.
    Auch der grosse Zusammenhang ist immer gut erkennbar.
    Die Klangrede wird schön sorgfältig ausformuliert; die Artikulation ist so, wie sie m.E. hier sein soll.
    Auch der Chor singt zusammenhängender und klangschöner als bei Leonhardt, auch wenn es für mich eine Spur leiser hätte sein können.
    Die Durchsichtigkeit und die Balance zwischen solistischer Beweglichkeit auf der einen und aufeinander klanglich abgestimmter chorischer Fülle auf der anderen Seite ist ja eine Stärke von Susukis Chor.
    Beim stärker besetzten und tendenziell mehr nach "englischem Pathos" klingenden Monteverdi-Choir (vor allem im Forte und bei den Männerstimmen) klingt das zwar anders, aber man darf schon aufgrund des hochmusikalischen Vortrags hier sehr zufrieden sein, finde ich.


    Insgesamt gesehen bin ich über diese Gardiner-Aufnahme als Ergänzung zu Leonhardt sehr froh, allein schon wegen dieses Eingangsatzes.
    Man vergisst schnell das Thema Interpretation - so sollte es ja auch sein.


    Dass Gardiner zu wenig "kirchlich" und ein bisschen nach "Nummernoper" klingt, kann ich hier jedenfalls nicht finden.


    2. Choral Alt, Violini unisono, Continuo Erbarm’ dich mein in solcher Last


    Hier trägt der Alt die Choralmelodie vor, während die Unisonen Streicher gemeinsam mit den Continuo-Bässen sich in imitierenden Demutsfiguren "ergehen". Diese sich in Sekundschritten nach unten neigenden Figuren werden nur durch einen Anapäst-ähnlichen Abschnitt unterbrochen ( die jeweils erste Note dieser Figuren muss betont werden, deswegen nur ähnlich) die wie Widerhaken in diesem weichen Zusammenhang wirken, auch durch den zur Verwendung kommenden Tritonus.
    Vielleicht sollen sie einen Hinweis auf die "Todesschmerzen am Holz" geben.


    Leonhardts Tempo orientiert sich an den gehenden instrumental-Figuren, Gardiner achtet etwas mehr auf den Fluss des vokalen Cantus Firmus.
    Beide Tempi können überzeugen, wenn man sich eingehört hat.
    Ich würde es vielleicht eher Leonhardts ruhigeres Tempo wählen, wenn ich die Möglichkeit hätte. Sicher bin ich mir da aber nicht.


    William Towers ist der Altus bei Gardiner. Er hat einen festen Stimmsitz und intoniert hier sauber und im Ausdruck angemessen schlicht.


    Wenn ich bei Suzuki probehöre, dann fällt mir die sehr schön geführte Altstimme, aber auch die für den Affekt eine für mich etwas zu leichtgewichtig fröhliche Instrumentalinterpretation des Notentextes auf.
    Auch durch die schon fast heitere Orgelimprovisation im Continuo entsteht bei mir dieser Eindruck. Das hätte ich von Suzuki etwas anders erwartet.


    Rene Jacobs ist der Solist bei Leonhardts Aufnahme. Einen zusammenhängenden Spannungsbogen für die Choralmelodie beim zugegeben langsamen Tempo aufrecht zu erhalten gelingt ihm nicht ganz so leicht. Anhörbar ist dies aber ohne Zweifel, für manche wird es sich vielleicht etwas dahinziehen.


    3. Aria Bass, Oboe d’amore I + II, Continuo Fürwahr, wenn mir das kömmet ein


    Hier hellt sich der Affekt der Kantate schon etwas auf. Die Arie wird durch durch einen vornehm tänzerrischen 6/8-Puls durchzogen.


    Leonhardts holländischer Tonfall gefällt mir hier sehr gut. Sein Tempo finde ich sehr überzeugend. Die Oboen setzen einen netten Akzent auf die erste Note der fallenden Dreiklangs-Arpeggien.


    Bei Gardiner geht es etwas schneller und unruhiger zu, ein Umstand der aber eher im direkten Vergleich, als im Zusammenhang der gesamten Kantate auffällt.
    Während Leonhardt das Continuo mit Truhenorgel und Barockcello besetzt, hört man bei Gardiner Fagott, Violone, Orgel-Positiv und Cembalo.
    Ich kann mir schon denken, wem das hier besser gefällt ;) aber ich lade einfach einmal ein, den Vergleich zu wagen. Kann man an Leonhardts spartanischeren Version nicht auch etwas Schönes finden?
    Bei ihm höre ich am stärksten Tanzelemente, auch wenn Gardiners Tempo schneller ist.
    Eine schöne Alternative hierzu ist noch Suzukis mit mehr Legato und gemessenerem Zeitmass interpretierte Version, die ich ja bislang leider nur in Ausschnitten hören kann.
    Bei ihm hört man im Continuo Fagott, Cello und Orgel.


    Ob Bach mit den abwärts gehenden Dreiklangs-Arpeggien den Vorgang der Erkenntnis von der eigenen Schuldhaftigkeit beschreibt? Diese Erkenntnis ist der christlichen Theologie nach ja auch von Gott her geschenkt, deswegen kommt sie von oben ( Göttliche Dreieinigkeit= Dreiklang, Arpeggio von oben nach unten= die Erkenntnis ist eine himmlische Intervention)


    Auch das durch 3 teilbare "swingende"Taktmass wird bei Bach gerne mit dem Heiligen Geist in Verbindung gebracht ( z.B. Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf, oder "der Geist aber ist das Leben" aus "Jesu meine Freude" uvm.) Der Geist ist es ja auch, der nach der Bibel den Sünder von seiner Schuld überführt.


    "So quält mich Zittern, Furcht und Pein" wird durch entsprechende chromatisch aufsteigende Trillerketten und die dazugehörende Harmonik sowohl in den Oboen als auch im Solo-Bass verdeutlicht.


    4. Recitativo + Choral Bass, Continuo Jedoch dein heilsam’ Wort...


    Möglicherweise steht die dem Choral unterlegte sich wiederholende Drehfigur im Continuo-Bass für das zur Seligkeit zurückgefundene Herz.
    Ein bisschen erinnert mich die Figur an die Stelle " O wie selig wird das sein" aus der Sopran Arie "Öffne dich mein ganzes Herze" , BWV 61. Dort hört man im Continuo Ähnliches, wenn auch nicht Gleiches.


    Stimmlich gefällt mir hier Peter Kooij von Suzukis Aufnahme am besten. Max van Egmond höre ich aber auch sehr gerne. Stephan Loges von Gardiners Live-Mitschnitt macht es ordentlich, vom Timbre her ziehe ich hier aber die anderen Bassisten etwas vor.


    Im Vergleich klingt Gardiner am unruhigsten, was aber nicht ins Gewicht fällt, wenn sich die ganze Kantate in seiner Version anhört. Das Cembalo stört mich in den Choralteilen etwas, nicht bei den Rezitativteilen.


    Bei Suzuki spielt nur die Orgel als Harmonie-Instrument und in den Choralabschnitten mit der oben beschriebenen Figur lässt er ein Fagott spielen. Die Idee ist nicht schlecht.


    5. Aria Tenor, Traversflöte, Continuo Jesus nimmt die Sünder an


    Eine herrliche Arie ist das !


    Am schönsten hört sie sich für mich in Leonhardts Version an.
    Hervorzuheben ist hier einerseits der spielfreudige und virtuose Frans Brüggen als Traversflötist ( ich fand ihn ja trotz all dem Erreichten immer noch als Flötist am besten...) und auch der mit wunderbarer farbiger Tongebung ( von erdig holzig bis lyrisch weich) und tänzerischem Gestus aufspielende Wouter Möller am Barockcello. Er macht hier auch vom Vibrato her das, was ich gerne bei solchen Continuo-Bässen höre.
    Bei Suzuki hört es sich ähnlich an, doch überzeugt mich hier Leonhardt am meisten. Es hat auch etwas mit dem Leonhardt-typischen Spiel von aufgestauter und herausgelassener Pulsenergie zu tun.
    Bitte dringend anspielen, Track 10 bei jpc.


    Keiner der hier genannten Dirigenten setzt zur intimen Traversflöte übrigens ein Mehrfach-Accompagment im Continuo ein, was ich hier auch für richtig halte.
    Es würde die Flöte wohl etwas erdrücken und der leichtgewichtig tänzerrische Continuo-Groove liesse sich mit einer vollen Besetzung, etwa aus Orgel, Cembalo, Fagott, Cello und Violone wohl doch etwas schwerer erreichen.


    Man soll es ja nicht glauben, aber Gardiner ist hier der langsamste 8o


    Die Arie bekommt dadurch einen etwas anderen Charakter, noch lieblicheren Charaktier ( süsses Wort...) .
    Die Flötistin hätte die Zieltöne der Melismen m.E. mehr akzentuieren müssen. Brüggen bleibt hier in meinen Ohren unerreicht.
    Vielleicht zieht sich die Arie so auch etwas hin, aber schön ist es immer noch.


    6. Recitativo Tenor, Streicher, Continuo Der Heiland nimmt die Sünder an


    Der Text wird hier durch die liegenden Streicherakkorde sehr emotional und direkt ausgedeutet.

    Alle Versionen kann ich hier viel abgewinnen.
    Jeder macht es auf seine Art schön. Mark Padmore, mir von Herreweghes Kantaten-Aufnahmen ja wohlbekannt, kann nicht ganz verbergen, dass er kein Native-Speaker ist, aber es geht schon. Equiluz kann hier voll überzeugen, auch deklamatorisch.
    Den silbrigen und transparenten Streicherklang von Originalinstrumenten ziehe ich hier unbedingt dem matten und vergleichsweise langweiligen Klang der Stahlsaiten-Ritter vor.
    Ein Quercheck im Netz mit Rillings-Aufnahme aus den 70ern ( den ich ja einmal mehr "sträflich vernachlässigt" habe) macht das deutlich.



    Übrigens: Diese Art von Cembalo-Continuo ist für mich ein Graus ( siehe auch die vorhergehenden Sätze), sowohl von der Spielweise, als auch vom eierschneiderigen Klang her.
    Wer angesichts solcher Aufnahmen immer noch behauptet, HIP hätte nur geschadet und früher war doch alles besser, .... nun ja, ich setze den Satz jetzt nicht fort.


    7. Aria Sopran, Alt, Continuo Ach Herr, mein Gott, vergib mir’s doch



    Diese in den Gesangspartien sehr instrumental geführte Arie muss sehr schwer durchhörbar und schön hinzukriegen sein. Allein schon von der Luft und der Intonation her werden die Sänger hier wirklich herausgefordert.


    Die in vielerlei Hinsicht faszinierende Frau Kozena macht ihre Sache unter Gardiner wirklich sehr gut und der Kontra-Alt tut auch sein Bestes.


    Im Netz klingt es bei Suzuki sehr transparent und mühelos, bei Gardiner etwas langsamer aber auch schön, bei Leonhardt spielt der Continuo-Cellist besonders ausdrucksstark und die Knabensolisten bemühen sich redlich mit erstaunlich erträglichem Ergebnis.
    Die Mühelosigkeit der japanischen Bach-Aufnahme ist das natürlich nicht, aber es hat auch seinen Reiz.
    Mir kommt es nicht nur auf die Vokalparts an, weshalb ich auch mit Genuss die Leonhardt-Aufnahme anhören kann, trotz der gesanglichen Abstriche.


    Zur Bedeutung der Figuren konnte ich mir noch keine tragfähige Meinung bilden.


    8. Choral SATB, Traversflöte, Oboe d’amore I+ II, Streicher, Continuo Stärk’ mich mit deinem Freudengeist


    Suzukis Version des Schlusschorals kann man bei JPC leider nicht probehören. Er ist m.E. einer der wenigen, der die schwierig vorzutragenden Choräle schön interpretiert. Bei den meisten anderen Dirigenten finde ich irgendein "Haar in der Suppe".


    Oft liegt es daran, dass man der Versuchung zur profilierten Überinterpretation nicht widerstehen kann. Man sollte aus meiner Sicht mit Aussprache und innerer Vorstellung interpretieren, aber ansonsten die Schlichtheit der Kirchenlieder nicht durch gewaltsame Dynamik oder sonstige Massnahmen zerstören.
    Warum muss auch immer - naiv - im WO der Choral "Brich an du schönes Morgenlicht" nahezu im ff hereinbrechen? Diese simple Veräusserlichung scheint mir irgendwie nicht in Bachs Ästhetik zu passen.


    In diesem Fall mag ich Gardiners Forte-Deklamation nicht so recht.
    Bei Leonhardt ist es die Akkordion-mässige Drückerei auf den Notenköpfen...


    Wenn wir schon einmal grundsätzlich dabei sind: Harnoncourt könnte für mich auf die Anhalter bei den Fermaten verzichten und Koopman muss aufpassen, dass es nicht zu schnell wird. Ansonsten macht der die Choräle aber gar nicht schlecht, finde ich. Natürlich muss er hier und da seine chorischem Triller und Vorhalte unterbringen, aber damit kann man leben.



    Fazit:


    Beide mir vorliegende Aufnahmen kann ich sehr empfehlen. Das Schöne bei Gardiner ist, dass es sich um eine DVD mit Bild und Surround-Ton handeln kann. Man bekommt auch eine schöne Dokumentation über sein Bach-Pilgerreise dazu. Auch die anderen Kantaten sind sehr hörenswert.
    Ich werde bei Gelegenheit auch auf diese noch eingehen.
    Insgesamt sehe ich leichte Vorteile für Gardiner, obwohl es auch Teile gibt, die man unbedingt von Leonhardt haben sollte.


    Auch die japanische Aufnahme würde ich von den hörbaren Ausschnitten her in meine Kaufliste übernehmen wollen, ohne dabei auf die anderen verzichten zu können.


    Wichtig ist ja, dass dies Kantate überhaupt bekannter wird, denn sie hat es unbedingt verdient.



    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)