BWV 199: Mein Herze schwimmt im Blut
Kantate zum 11. Sonntag nach Trinitatis (Weimar, 12. August 1714)
Lesungen:
Epistel: 1. Kor. 15,1-10 (Paulus über das von ihm verkündigte Evangelium von Christus und sein Apostelamt)
Evangelium: Luk. 18,9-14 (Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner)
Acht Sätze, Aufführungsdauer: ca. 26 Minuten
Textdichter: Georg Christian Lehms (1684-1717), aus dessen „Gottgefälligem Kirchen-Opffer“ von 1711
Choral: Johann Heermann (1630)
Besetzung:
Solo: Sopran; Oboe, Solo-Viola (oder Gambe/ Cello), Violino I/II, Viola, Continuo
1. Recitativo Sopran, Streicher, Continuo
Mein Herze schwimmt im Blut,
Weil mich der Sünden Brut
In Gottes heil’gen Augen
Zum Ungeheuer macht;
Und mein Gewissen fühlet Pein,
Weil mir die Sünden nichts als Höllenhenker sein.
Verhasste Lasternacht,
Du, du allein
Hast mich in solche Not gebracht!
Und du, du böser Adamssamen,
Raubst meiner Seelen alle Ruh’
Und schließest ihr den Himmel zu!
Ach! unerhörter Schmerz!
Mein ausgedorrtes Herz
Will ferner mehr kein Trost befeuchten;
Und ich muss mich vor dem verstecken,
Vor dem die Engel selbst ihr Angesicht verdecken.
2. Aria Sopran, Oboe, Continuo
Stumme Seufzer, stille Klagen,
Ihr mögt meine Schmerzen sagen,
Weil der Mund geschlossen ist.
Und ihr nassen Tränenquellen
Könnt ein sich’res Zeugnus stellen,
Wie mein sündlich Herz gebüßt.
Recitativo
Mein Herz ist itzt ein Tränenbrunn,
Die Augen heiße Quellen.
Ach Gott! wer wird dich doch zufriedenstellen?
3. Recitativo Sopran, Streicher, Continuo
Doch Gott muss mir genädig sein,
Weil ich das Haupt mit Asche,
Das Angesicht mit Tränen wasche,
Mein Herz in Reu’ und Leid zerschlage
Und voller Wehmut sage:
„Gott sei mir Sünder gnädig!“
Ach ja! sein Herze bricht,
Und meine Seele spricht:
4. Aria Sopran, Streicher, Continuo
Tief gebückt und voller Reue
Lieg’ ich, liebster Gott, vor dir.
Ich bekenne meine Schuld,
Aber habe doch Geduld,
Habe doch Geduld mit mir!
5. Recitativo Sopran, Continuo
Auf diese Schmerzensreu’
Fällt mir alsdenn dies Trostwort bei:
6. Corale Sopran, Solo-Viola (oder Gambe oder Cello), Continuo
Ich, dein betrübtes Kind,
Werf’ alle meine Sünd’,
So viel ihr’ in mir stecken
Und mich so heftig schrecken,
In deine tiefen Wunden,
Da ich stets Heil gefunden.
7. Recitativo Sopran, Streicher, Continuo
Ich lege mich in diese Wunden
Als in den rechten Felsenstein;
Die sollen meine Ruhstatt sein.
In diese will ich mich im Glauben schwingen
Und drauf vergnügt und fröhlich singen:
8. Aria Sopran, Oboe, Streicher, Continuo
Wie freudig ist mein Herz,
Da Gott versöhnet ist
Und mir auf Reu’ und Leid
Nicht mehr die Seligkeit
Noch auch sein Herz verschließt.
Das Evangelium für den heutigen Sonntag enthält das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner, die sich beide im Tempel zum Gebet einfinden. Und während der stolze Pharisäer, wissend um seine strenggläubige, alle Gebote befolgende Lebensweise, betet: „Ich danke, dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner!“, tritt der Zöllner zerknirscht und voller Reue in den Tempel, wagt nicht, seine Augen gen Himmel zu heben und bittet bloß: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Jesus stellt diese bußfertig-bescheidene Haltung als die rechte dar: „Dieser ging gerechtfertigt in sein Haus hinab, nicht jener [Pharisäer]. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedriget werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“
Diese beispielhafte Haltung des Zöllners dient nun als Grundhaltung für die Dichtung der hier besprochenen Kantate, die Bach während seiner Weimarer Zeit komponiert hat und die in ihren bescheidenen Anforderungen (kein Chor, nur eine Solostimme, kleines Instrumentalensemble mit nur einer Oboe plus Streichergruppe und Continuo) auf die nicht zuletzt auch räumlich beengten Weimarer Verhältnisse Rücksicht nimmt. Vielleicht hat Bach bei der Konzeption dieser Kantate auch absichtlich auf eine Chorbeteiligung verzichtet, um den alleinigen Einsatz des Solosoprans umso eindringlicher wirken lassen zu können?
Mehrere Quellen weisen darauf hin, dass es sich bei einer solchen Solo-Kantate ja um die Umsetzung einer Cantata im eigentlichen Sinne handelt: Ein (mehrteiliges) Stück für Singstimme und Instrumentalbegleitung.
In Bachs Kantatenschaffen gibt es nicht allzu viele Kantaten, die nur eine einzige Solostimme als Besetzung vorsehen, z. B. die berühmte Kantate BWV 82 (für Bass) oder BWV 170 (für Alt). Stets hat Bach gerade bei diesen Kantaten versucht, die Herausforderung durch die Beschränkung der zur Verfügung stehenden Mittel anzunehmen und durch eine besonders intensive und eindrückliche musikalische Gestaltung bei den Zuhörern keine Langeweile aufkommen zu lassen.
So fällt in der hier besprochenen Kantate unter anderem auf, dass (fast) alle Rezitative nicht bloß - wie eigentlich üblich - vom Continuo begleitet werden, sondern zusätzlich auch vom Streichensemble – es sind also Accompagnato-Rezitative, die auch in den Opern der damaligen Zeit stets für besonders ausdrucksvolle und dramatische Momente vorbehalten wurden (z. B. das Ende eines ganzen Aktes).
Gerade das einleitende Paar Rezitativ und Arie (Sätze 1 und 2) erinnert mich beim Hören denn auch an einen solchen Opernmoment, wo mit großer Geste die ganze Gefühlspalette von Klage, Zerknirschung und Trauer gezeichnet wird (und der klagende Tonfall der Oboe in der Arie natürlich besonders wirkungsvoll eingesetzt werden kann!) – ein großes, eindringliches Lamento, das Bach hier geschaffen hat! Ungewöhnlich, aber nicht minder wirkungsvoll (und mich wiederum an die Oper erinnernd) ist der kurze Rezitativeinschub am Ende des B-Teils der Arie Nr. 2, bevor der erste Teil der Arie wiederholt wird.
Nach einem weiteren Rezitativ-Arien-Paar (Sätze 3 und 4), in der sich die anfängliche Klage und Zerknirschung zu einer reumütigen Bitte um göttliche Gnade wandelt, erklingt eine Choralstrophe (hier wäre evtl. der einzige Einsatz für einen Chor in dieser Kantate gewesen), in der Bach originellerweise dem Sopran, der die Choralmelodie vorträgt, eine Solo-Viola an die Seite stellt, die diese Melodie munter umspielt.
Der Gegensatz der hohen Sing- zur tieferen Instrumentalstimme ist sehr wirkungsvoll und man bedauert, dass Bach der Viola nicht viel häufiger eine solche solistische Funktion zukommen ließ!
In späteren Versionen dieser Kantate (was zeigt, dass Bach sie offenbar sehr geschätzt hat) wird der Violapart denn auch durch eine Gambe oder ein Violoncello ersetzt...
Nach dem Choral ist die anfänglich so abgrundtief traurige Stimmung denn auch einer hoffnungsvollen Freude gewichen und das abschließende Rezitativ-Arien-Paar ( Sätze 7 und 8 ) kommt freudig-tänzerisch daher – die Arie Nr. 8 ist in ihrem 12/8tel-Takt einer Gigue nachempfunden. Sie ist - im Vergleich zu den anderen beiden Arien dieser Kantate - auch recht knapp konzipiert (auch eine Gigue ist meist ein eher kurzer, weil schnellerer Tanz).
Diese breite Palette an Stimmungen, die der 29-jährige Bach in diesen wenigen Sätzen musikalisch entstehen lässt, zeigt für mich, was für ein großartiger Musikdramatiker er war – er brauchte nicht einmal eine Oper, um dies unter Beweis zu stellen!
Die relativ hohe BWV-Nummer dieser Kantate (ab BWV 201 beginnen bereits die weltlichen Kantaten, da das Bachwerkverzeichnis nach Gattungen geordnet ist) erklärt sich daher, dass diese Kantate erst 1912 erstmals publiziert wurde und somit in der alten Bach-Gesamtausgabe (ab 1850) nicht enthalten war. Die dort enthaltenen geistlichen Kantaten tragen allesamt die niedrigeren BWV-Nummern, da man sich bei der BWV-Nummernvergabe Mitte des 20. Jahrhunderts (?) nach der seinerzeit erfolgten (willkürlichen) Veröffentlichungsreihenfolge richtete, was denn auch das chronologische Durcheinander der einzelnen BWV-Nummern erklärt.