Gute Interpretationen - neutral oder individuell ?

  • Liebe Forianer


    Man könnte meinen, zum Thema Interpretation sei schon alles gesagt.
    Folgende Treads zu diesem Thema gibt es bereits:


    Interpretation - Welchen Stellenwert hat sie ?
    Ja dürfens denn das ? - Interpretation und ihre Bewertungen
    Hat Klangfarbe und Interpretation einen nationalen Dialekt ?
    Schadet Plattenhören der eigenen Interpretation?
    Einfluß des politischen Systems auf die Interpretation
    Interpretation von Werken
    Verschiedenartige Interpretationen als Schlüssel zum Werk ?
    Was versteht Ihr unter 'Interpretation' ?
    Schönklang in der Interpretation - Tugend oder Makel ?
    "Interpretationen im Vergleich" im Radio
    Weibliche und männliche Interpretationen
    Das Beste ist gerade gut genug - oder darfs mal was normales sein ? - Gedanken zu Interpretationen


    und seit heute:


    Klassik für Einsteiger - Wie wichtig ist die Interpretation ?


    Heute möchte ich das Thama jedoch anders anfassen:


    Inwieweit lernt man ein Werk in einer "eigenwilligen" Interpretation wirklich kennen ?


    Sind jene "Kapellmeister" die versuchen so wenig wie möglch perönliches in eine Aufführung einfliessen zu lassen, nicht die "bessren" Sachwalter des Komponisten. Ich weiß nicht wer das dereinst gesagt hat: Meine Musik braucht nicht interpretiert zu werden - die sollen spielen was in den Noten steht"


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Obwohl ich selbst heute mittag geschrieben habe, ein Einsteiger sei eher mit einer "nicht-extremen" Interpretation bedient, sehe ich das natürlich nicht so einfach.
    Musik, die ich schätze, die meiste Musik, die sich überhaupt zu hören lohnt, ist in gewisser Weise extrem. Ob Beethovens Musik ohne Risiken und Extreme angemessen interpretiert wird, halte ich für ziemlich zweifelhaft... Obendrein hat man hier den Fall, dass eine Interpretation, die sich z.B, an die "richtigen" Tempi hält gegenüber dem Üblichen als extrem empfunden wird.
    Allerdings ist Beethovens und auch andere Musik glücklicherweise so robust, dass sie sowohl zu gemäßigte als auch eigenwillige Interpretationen übersteht. Bei vieler Barockmusik z.B. Händel ist das m.E. anders. Die wird bei phantasiearmen Interpreten schnell langweilig.


    Noch grundsätzlicher ist natürlich fraglich, ob es eine neutrale Interpretation gibt...
    Gewiß gibt es Eigenwilligkeiten, die ziemlich klar als solche zu erkennen sind. Aber auch geradlinige Interpretationen sind Interpretationen.
    Und vielen Kunstwerken ist nicht mit einer einzigen beizukommen. In einem anderen thread wurden mal Richters Schubertinterpretationen diskutiert. Vermutlich sind sie unidiomatisch, unwienerisch und mitunter viel zu langsam. Aber dafür von einer Intensität, die vielleicht mehr als die geradlinigen, idiomatischen Lesarten, den Werken nahekommt.


    Ein Extrem ist nicht gleich fragwürdig, nur weil es extrem ist, und die "goldene Mitte" nicht gleich angemessen, nur weil sie nicht-extrem ist ;)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Bis vor kurzem fand ich den Rummel um die "Stars" abstoßend und wollte davon nichts wissen.


    Die erste Kassette Beethovensonaten, die ich kaufte, war die von Barenboim.
    Die hat mich so herausgefordert mit ihrer Langsamkeit bei den Andagios und Andantes, um dann ins andere Extrem umzuschlagen, daß ich mir dachte, das kann es nicht sein!


    Hier ist ein Anfänger einfach durch das genaue Hören zu einer eigenen Meinung gekommen.


    Das Ergebnis ist, daß ich immer mehr CD-Regale vom unmöglichen Möbelhaus aus Schweden kaufe, um meine Interpretationsvariationen unterzubringen.


    Heute sage ich, wenn man sich mit der Musik beschäftigen WILL, kommt man von alleine darauf, daß es sehr individuelle Meinungen darüber gibt, wie etwas gemeint ist und zu klingen hat.


    Der "klassische Mittelweg", die "neutrale" Interpretation ist meiner Meinung nach nicht möglich, weil Musik eine Idee hat und beschreibt. Es ist kein leeres Geklingele, nur zur Unterhaltung und als Hintergrund, da brauche ich keine gute Interpretation.


    Gute Nacht aus Bonn :hello:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

  • Ein interessantes Thema, das bei mir zunächst die Frage aufwarf, wann eine Interpretation eigentlich neutral ist.


    Eigentlich könnte man dann von einer neutralen Interpretation sprechen, wenn genau das gespielt wird, was in den Noten steht.
    Das Problem dabei ist nur, dass die Notenschrift doch recht undifferenziert ist. Wir können zudem heute davon ausgehen, dass Komponisten wie Bach oder auch Mozart nicht alle Details in die Noten aufgenommen haben, da sie einmal selbst die Interpreten ihrer Werke waren bzw. davon ausgingen, dass andere Interpreten aufgrund der damals gültigen Standards wissen, wie die Noten zu spielen sind. D.h. aber, dass wahrscheinlich das reine Spielen der Noten durchaus nicht der Grundidee des Komponisten entspricht.
    Mahler wollte da ganz sicher gehen, deshalb seine sehr vielen Spielanweisungen.


    Ich denke eher, dass das Gefühl eine neutrale Interpretation vor sich zu haben, mit den Vorerfahrungen des Hörers zusammenhängen - gerade im Gegensatz zu "extrem". Wir erleben eine Interpretation als neutral, wenn sie unseren Hörerfahrungen entspricht - sie uns nicht überrascht. "Extrem" sind ungewohnte Interpretationen. Bsp.: Die Tempi bei Beethoven: Wenn wir bereits seit 100 Jahren die Orginal-Tempi gewöhnt wären, würden die Interpretationen Gardiners doch wohl kaum extrem auf uns wirken; die Tempi Böhms aber durchaus extrem.

  • Zitat

    Ich weiß nicht wer das dereinst gesagt hat: Meine Musik braucht nicht interpretiert zu werden - die sollen spielen was in den Noten steht"


    Ich weiß auch nicht, wer das gesagt hat, aber es liegt auf der Hand, daß das ein ziemlicher Unsinn ist.
    Wenn ich auf meiner Tröte nur das spielen würde, was in den Noten steht, würden die Leute nach 5 Minuten die Kirche oder den Saal verlassen, und zwar völlig zu Recht. Dann gäbe es nämlich Betonungen nur da, wo sie in den Noten stehen (und da stehen sie ziemlich selten), es gäbe über längere Strecken keine Spannungsbögen, es gäbe keinen Anfang und kein Ziel - kurz, es würde wie ein sinn- und aussagefreies Geleier klingen.
    Die Interpretation fängt in dem Moment an, in dem ich mir überlege, welche Taktzeit ich betone, auf welcher ich entspanne, und vor allem, in welchem Grad ich das jeweils tue. Dazu finden sich manchmal Hinweise in den Noten, meistens aber nicht. Jeder Musiker ist gezwungen, sich darüber seine eigenen Gedanken zu machen. Und schon insofern kann es eine "neutrale" Interpretation gar nicht geben.


    Von anderen Nuancen, zu denen sich fast nie etwas in den Noten findet, wie zum Beispiel der Abstufung von Klangfarben, will ich gar nicht reden...und von feinsten Temporückungen, Schlussritardandi und sonstigen "Abweichungen" vom reinen Text, wie sie letztlich bei allen Interpreten in einem gewissen Maße zu hören sind, erst recht nicht....


    Die "neutrale" Interpretation ist eine Chimäre.


    Viele Grüße


    Bernd

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  • Lieber Alfred,


    auch was ich dazu zu schreiben habe, ist natürlich wiederum nur eine unmaßgebliche SUBJEKTIVE Meinung (aber so ist das bei Musik nun einmal), aber ich möchte dennoch gerne auf Deine provokative Frage antworten:


    Vorhin wurde bereits die Frage gestellt, "was überhaupt "neutral" sei und implizit wird damit ja auch nach dem Gegenteiil, "extrem" geforscht.
    Da ich selbst ja aus der Reihe der AKTIVEN stamme, kam ich bisher immer zu dem Schluss, dass man Musik am besten kennenlernt, wenn man sich zunächst einmal mit ihrer "NEUTRALFORM(?)", dem Schriftbild auseinandersetzt, ggf. am Instrument den Stellen, die zu imaginieren es schwer fällt, durch Spielen nachspürt.
    Oft wächst die Begeisterung von Schülern für ein Stück erst, wenn sie es SELBST erschließen. Das alleinige Hören eines Stücks spricht sie manchmal nicht gleich an.


    Beim Erarbeiten BESCHÄFTIGEN SIE SICH MIT DER NEUTRALEN FORM, versuchen zunächst, rein metrisch und un-effektiert das Werk zu (kennenzu-)lernen.
    Ein Stück beginnt - meiner Meinung nach - aber erst dann zu LEBEN, sich zu vermitteln, wenn es durch die Liebe des Interpreten zu demselben BESEELT wird.


    Und da haben wir vielleicht den Knackpunkt im Streitfall "EXTREM oder NICHT EXTREM":
    Wenn ein Extrem aus der Beschäftigung mit der Musik und der Auseinandersetzung mit den (antizipierten) Intentionen des Komponisten hervor geht, dann kann es nur zu einer Beseelung, einer Bereicherung des Stückes führen.
    EXTREME hingegen, die allein um ihrer selbst Willen praktiziert werden, die allein dazu dienen sollen, sich vom (wohl doch auch begründeten) Werks(=Beschriftungs-)treuen weitestmöglich zu unterscheiden, stehen in der Tat diametral dem gegenüber, was Hörer an das Stück heranführen könnte.

    Siehe und tue alles mit Liebe, dann wird Dein Leben erfüllt sein

  • Beim bloßen Hören EINER individuellen Interpretation kann man vielleicht ein Werk kennenlernen, aber nicht wissen, inwiefern und ob eine Interpretation "individuell" ist.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Das habe ich auch nicht gesagt :D


    Das ist fast eine philosophische Frage, die hier gestellt ist. Der eine hat keine Ahnung von dem Werk und beginnt durch Zufall mit einer "extremen Interpretation" der andere greift beliebig zu einer anderen. Die weitere Entwicklung ist interessant. Letztendlich kann man ein Werk sich durch auf verschiedene Arten erschließen und natürlich auch zu verschiedenen Empfindungen gelangen. Erst dann kann man Facetten von Interpretationen ausloten. Letztendlich ist ja jede Interpretation eines Werkes individuell.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Masetto
    entschuldige - ich hatte das sofort auf mich bezogen und fühlte mich... naja... unverstanden :untertauch:

    Siehe und tue alles mit Liebe, dann wird Dein Leben erfüllt sein

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  • Eine neutrale Interpretation kann meiner Meinung nach nicht gut sein.
    Einem Komponisten setzt das Schreiben seiner Komposition durch die Notenschreibung gewisse Grenzen, die durch den Interpreten interpretiert werden müssen.


    Spielt der Interpret wirklich nur die Noten, so als wenn man die Noten in den Computer eingibt und diese dann genau so, auch mit Lautstärkeangaben, per MIDI über den PC oderSynthesizer widergibt, so hört sich das Hörergebnis langweilig und steril an.
    ;) Das kann also nicht gut sein, wenn Musik ganz neutral gespielt wird.


    Eine individuelle Interpretation, bei der der Interpret auch zwischen den Notenzeilen liest und so die Musik spannend macht, gehört zu einer guten Interpretation.


    :yes: Das Können eines Musikkünstlers (Solist oder Dirigent) und die Vorliebe, die wir für bestimmte Solisten und Dirigenten haben, liegt letztendlich in der Qualität dieser individuellen Umsetzung des Notentextes.


    :hello: Gerade habe ich in einem anderen Thread noch ein Zitat von Edwin über den Interpretationsansatz russischer Dirigenten gelesen, der das "Individuelle" voll trifft (deshalb meinen Beitrag nochmal bearbeitet):

    Zitat

    ... Objektivität beiseite lassen und die Musik auf Siedehitze bringen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Da sich miene Meinung mit derjenigen eines großen dahingegangenen Meisters deckt, lasse ich den jetzt auch zu Wort kommen:


    "Große, hinreißende und wahrhaftigkeitserfüllte Interpretationen, beträchtlich verschieden voneinander und dennoch allesamt überzeugend, haben bewiesen, daß aus solcher Verschiedenheit an Kraft und Art der Darstellung kein Werturteil über die einzelnen Interpretationen abgeleitet werden kann. Die Frage erheischt eine Ergänzung: Kann es überhaupt eine ganz erschöpfende Interpretation geben, welche dann zwangsläufig als die einzig richtige zum Kanon würde? Ich glaube: Nein!-eine solche dürfte, allgemein durchgeführt, in Routine und Klischee erstarren..." (Carl Schuricht)


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Lieber Santoliquido,


    ich denke, damit sind viele der hier gesammelten Stellungnahmen wohlgeformt in wenige Worte gefasst worden.
    - Die Wahrhaftigkeit - und somit das Spannende, das Ergreifende an der Musik entspringt dem Musiker (im Idealfall) und dessen Autentizität. Nun ist aber nciht die des Einen besser als die des Anderen, sondern DAS MAß DER AUTENTIZITÄT und des Verständnisses der Musik ergeben den Wert der JEWEILIGEN Interpretation. - Die Unterscheidet sich aber nciht nur Inter-, sondern auch INTRAindividuell, ebenso wie sich jeder Mensch im steten Wandel befindet.


    Beste Grüße,
    Chimene

    Siehe und tue alles mit Liebe, dann wird Dein Leben erfüllt sein