Wer hat hier das Sagen: Dirigent oder Orchester ?

  • Liebe Forianer,


    So wie die Frage gestellt war, so ist sie natürlich nicht gemeint, das war wieder einmal einer meiner "reisserischen " Aufmacher.


    Vielmehr geht es darum, wer den Klang eines Orchesters bestimmt, jene unverwechselbare Eigenart, die heutzutage leider oft gar nicht mehr unverwechselbar ist.



    Fragen wir uns am Beispiel der Wiener Philharmoniker und Roger Norrington: Sollte Norrington "Chefdirigent" bei den Wienern werden (das ist rein hypothetisch, weil prinzipiell ausgeschlossen, die Wiener Philharmoniker haben keinen "Chefdirigenten", die Position gibt es gar nicht) was würde dann passieren ?


    Würden die Wiener Philharmoniker plötzlch klingen wie "The London Classical Players" ? oder würde Norringtons Dirigat weniger wild und mehr abgerundet werden?


    Diese Frage sollte nur den Kern der eigentlichen , allgemeinen Frage aufzeigen. Genauso kann man sich die Frage stellen welchen Stellenwert die Münchner Philharmoniker unter Celi, unter Levine hatten und welchen sie unter Thielemann haben werden ?


    Wer prägt wen ?
    Das ist der eigentliche Kernpunkt dieses Threads



    Beste Grüße aus Wien


    sendet


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Alfred,


    ich denke, der prägende Einfluss des Dirigenten hängt natürlich stark von der Zeitdauer seines Wirkens ab. Weiterhin die Frage, inwieweit das Orchester noch "formbar" ist bzw. wie notwendig hier eine Entwicklung ist.


    In erster Linie glaube ich aber an andere Faktoren der Klangkultur. Da ist erstmal schon die Wahl des Instrumentes. Die Trompeten in Wien, Berlin und Chicago unterscheiden sich erheblich ( die anderen Instrumente natürlich auch ). Die Klangaufassung ist ebenfalls eine ganz andere . Man vergleiche nur mal das Chicago-Blech mit den Wienern anhand einer Tschaikowskisymphonie. Das ist erstmal ein Charakteristikum, wo der Dirigent wenig machen kann (bzw. es auch nicht forcieren sollte ;))
    Weiter wird natürlich innerhalb der Orchester eine Klangtradition gepflegt, die bei den Probespielen eine große Rolle spielt. Da werden viele herausragende Musiker abgewiesen, weil sie nicht in dieses Schema passen. Repertoire , Saal und andere Eigenarten des Orchesters prägen ebenfalls den Klang.


    Umso individueller ausgeprägt das ist ( für mich persönlich z.B. erkennbar bei Wien, Berlin, dem Concertgebouw und Chicago), umso weniger wird der Dirigent daran rütteln können. Bzw. sollte das aus meiner Sicht auch kein Dirigent allzu sehr versuchen. Vielmehr sollte er es pflegen. ;)
    Deshalb sicher auch fraglich, ob Pierre Boulez ein guter Leiter für ein Orchester mit historischen Instrumenten wäre.


    Trotzdem hinterlassen natürlich auch Dirigenten ihre Spuren. Hier in Berlin z.B. sicher auch die Reihe großartiger Gastdirigenten, die über die Jahre immer wieder kommen. Da summieren sich die Einflüsse über die Jahre. Dazu muss nun der "passende" Chefdirigent kommen und wenn jemand wie Celibidache 20 Jahre die Münchner Philharmoniker leitet, hat das sicher deutlichen Einfluss.
    Wobei klar ist, dass man "kleinere" Orchester sicher entscheidender Prägen kann, als die "Großen". Rattle hat in Birmingham gewaltige Spuren hinterlassen. Da fand er aber ein formbares Orchester vor, die "Entwicklungshilfe" war notwendig und er hatte genug Zeit. ;)


    Gruß
    Anti

  • Ich reanimiere diesen fast jungfräulichen Thread - seitdem er gestartet wurde und - schnell wieder vergessen wurde - hat sich der Mitgliederstand mehr als verdoppelt - neue Mitglieder könnten andere Prioritäten in bezug auf Themen haben, als jene, die im Jänner 2005 hier waren.


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Das ist erstmal ein Charakteristikum, wo der Dirigent wenig machen kann


    Er kann aber von den Musikern werkspezifisch einen gewissen Klangstil verlangen. Mariss Jansons etwa verlangt bei Mahler-Symphonien, dass die Trompeten mit Vibrato spielen. Und das verändert z.B. den Concertgebouw-Klang wesentlich.

    ...

  • Hallo,


    ich kann selbst nicht viel zum Thema beitragen, fände aber eine Erweiterung interessant, nämlich um das Spannungsfeld Dirigent - Solist.



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

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  • Lieber Alfred,


    Sascha hat das Wesentliche schon zusammengefaßt. Die Wiener Philharmoniker oder das London Philharmonia Orchestra werden unter verschiedenen Dirigenten verschieden spielen (und unter einigen auch sogar schlecht), aber sie werden immer unverwechselbar bleiben, was sie sind - und es wäre sicher nicht ratsam, das mit Gewalt ändern zu wollen.


    Andererseits gibt es Orchester, die unter einem geeigneten Dirigenten über sich hinauswachsen. Dabei denke ich beispielsweise an das ORF-Orchester. Wie spielen die unter Bertrand de Billy auf einmal Mozart! Einfach herrlich! Und auch früher hatten sie einzelne Sternstunden (z.B. unter Ernst Märzendorfer bei den "Huguenots"). Auch die Niederösterreichischen Tonkünstler spielten vor langer, langer Zeit einmal in einem Arkadenkonzert unter Michael Gielen Schuberts "Unvollendete" wegen Regens zwar leider nur bis zur Hälfte des zweiten Satzes, aber so phantastisch, daß sie sich hinter keiner anderen Interpretation verstecken hätten müssen.


    Sicher hängt das nicht allein vom Dirigenten ab, denn wenn die Musiker einen ganz schlechten Tag haben, wird er nicht viel ausrichten können, selbst wenn er sich zerspragelt - aber zumindest ist er vermutlich der oder einer der Hauptfaktoren.


    LG


    Waldi

  • Ich denke, die Frage läßt sich mit einer Anekdote beantworten. Die Leistung eines Dirigenten bedachte ein Wiener Philharmoniker mit der Drohung: "Der würde sich wundern, wenn wir so spielen täten, wie der dirigiert!"


    Florian